Grenzwerte?
Grenzwerte für Schadstoff-
und auch Strahlenbelastung haben etwas Suggestives:
Sie spiegeln vor, dass eine Belastung unterhalb
des Wertes für die Betroffenen ungefährlich
sei. Gerade bei radioaktiver Strahlung –
auch Röntgenstrahlung – ist das falsch.
Es gibt generell keine «ungefährliche»
Dosis. Auch die sog. «natürliche»
Belastung ist bereits ein Risiko. Die Grenzwerte
stellen in der Regel einen Kompromiss zwischen
den gesundheitlichen Erfordernissen und dem
technisch Machbaren dar. Oder, um es deutlicher
zu sagen: Es handelt sich um einen Kompromiss
zwischen Gesundheitsschutz und Wirtschaftlichkeit.
Betrachtet man die im Strahlenschutzgesetz
festgelegten Grenzwerte, stellt man fest, dass
es für den deutschen Gesetzgeber sozusagen
drei Sorten von Menschen gibt, die unterschiedlich
viel Strahlung vertragen: Für die Allgemeinbevölkerung,
z.B. für die Bewohner in der Umgebung von
Kernkraftwerken, liegt der Wert bei 0,3 Millisievert
(mS) pro Jahr für die Belastung aus der
Luft und zusätzlich 0,3 mS für Abwässer.
Im Störfall vertragen die Anwohner dann
plötzlich bis zu 50 mS pro Jahr.
Die Menschen wiederum, die
beruflich Strahlung ausgesetzt sind, vertragen
grundsätzlich 50 mS pro Jahr, wobei in
der deutschen Strahlenschutzverordnung noch
festgelegt ist, dass die Belastung insgesamt
100 mS in fünf aufeinanderfolgenden Jahren
und die Lebenszeitbelastung 400 mS nicht überschreiten
soll.
Dass im Bedarfsfall diese Bestimmungen
rasch den technischen «Zwängen»
angepasst werden können, erleben wir derzeit
in Fukushima: Der japanische Grenzwert für
Arbeiter im Nuklearbereich – mit 100 mS
bereits doppelt so hoch wie der in Deutschland
zulässige Wert – wurde flugs auf
250 mS heraufgesetzt, nachdem mehrere Arbeiter
bei den «Aufräum»arbeiten eine
Dosis von 170–180 mS abbekommen hatten.
Hätte man die alten Werte beibehalten,
wären den Betreibern vermutlich bald die
Arbeiter ausgegangen, da diese nach Erreichen
der Jahresdosis nicht weiterbeschäftigt
werden dürfen.
Das Heimtückische dabei
ist, dass diese Dosis so gewählt wurde,
dass die Betroffenen zunächst einmal nicht
viel bemerken: Bis 200 mS treten keine Symptome
auf, allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit
von in längerem Abstand zur Exposition
auftretenden Spätschäden wie Krebs
oder Genmutationen, also Erbgutschädigung,
rapide. Zwischen 200 und 500 mS kommt es zur
– ebenfalls unbemerkten – Reduzierung
der Zahl der roten Blutkörperchen. Ab 500
mS tritt der sog. Strahlenkater auf, und zwischen
1000 und 2000 mS (1–2 Sievert) erleiden
die Menschen eine «leichte» Strahlenkrankheit,
mit etwa 10% Todesfällen innerhalb von
30 Tagen.
Im
Katastrophenfall: Kanonenfutter
Bei atomaren Katastrophen
wie in Tschernobyl oder Fukushima stehen die
Betreiber vor einem Problem: Bis heute sind
bestimmte Tätigkeiten nicht von Robotern
oder ferngesteuerten Maschinen durchführbar.
Da bei einem «Störfall» dieser
Kategorie die Strahlung extrem hoch ist, haben
die Arbeiter innerhalb kurzer Zeit ihre Maximaldosis
erreicht und müssen ausgewechselt werden.
Naturgemäß findet
sich, auch für Preise, wie sie derzeit
in Fukushima bezahlt werden (angeblich bis zu
3000 Euro pro Schicht), nur eine begrenzte Anzahl
von Menschen, die bereit sind, das tödliche
Risiko einzugehen. Das sind in der Regel Leiharbeiter.
Die eigenen fest angestellten Techniker will
man nicht verheizen, weil sie nicht so einfach
ersetzbar sind. Um mit diesem Problem umzugehen,
gibt es verschiedene Möglichkeiten: Eine
ist, wie schon erwähnt, dass man die Grenzwerte
heraufsetzt – das ist die billigste und
schnellste Lösung. Der Haken dabei: Ab
3000 Millisievert hat man es schon mit 50% Todesfällen
in den ersten 30 Tagen zu tun.
Die zweite Lösungsmöglichkeit
ist die, zu der in Tschernobyl gegriffen wurde:
Man karrt Hunderttausende Arbeiter heran, die
regelmäßig ausgewechselt werden.
In der akuten Phase kamen damals ca. 200000
Arbeiter zum Einsatz, insgesamt waren es über
800.000. In Tschernobyl aber war selbst das
nicht ausreichend, denn zu Beginn war die Strahlung
derart hoch, dass bei den direkt am Reaktor
(und darunter, denn es wurden ja damals Stollen
unter den Reaktor getrieben, um eine Stickstoffkühlung
zu installieren) arbeitenden Menschen der Grenzwert
bereits nach Minuten erreicht war. Dem einen
oder der anderen werden noch die Fernsehaufnahmen
in Erinnerung sein, auf denen zu sehen war,
wie die Arbeiter im Laufschritt zum detonierten
Reaktor rannten, ein paar Brocken wegräumten
und wieder zurückrannten.
Dabei kam die dritte Möglichkeit
zum Einsatz – man stattete die Leute einfach
nicht mit Messgeräten aus und «schätzte»
die Dosis. In Fukushima scheint man ähnlich
vorgegangen zu sein. Nach ein paar Tagen kam
heraus, dass nur für die Hälfte der
Arbeiter überhaupt sog. Dosimeter vorhanden
waren. Wie man dann die eventuellen Folgen verschleiert,
dafür ist ebenfalls Tschernobyl die Blaupause,
die Methode ist allerdings auch in Deutschland
im Störfall und bei strahlenintensiven
Arbeiten gang und gäbe. Sie lässt
sich mit dem schönen deutschen Sprichwort
zusammenfassen: «Aus den Augen, aus dem
Sinn».
Die sog. «Liquidatoren»,
wie die in aller Eile aus der ganzen Sowjetunion
zusammengekarrten Arbeiter genannt wurden, bekamen
nach Abschluss ihres Einsatzes eine Verdienstmedaille
und verschwanden von der Bildfläche. Der
größte Teil wurde überhaupt
nicht erfasst, geschweige denn, dass es Nachuntersuchungen
oder sonst eine medizinische Nachbetreuung gegeben
hätte.
In Fukushima hatte man noch
eine vierte Variante parat: Wenn die Masche
mit der «nationalen Verantwortung»
nicht zieht, greift man zum Zwang. Am 22.März
wurde ruchbar, dass die angeblichen «Helden»
von der japanischen Feuerwehr, die mit ihren
Spritzen den Reaktor kühlten, dies nicht
freiwillig taten. Sie waren vom Industrieminister
höchstpersönlich bedroht worden.
Die Verfahrensweise, Leiharbeiter
einzusetzen, kommt im Übrigen nicht nur
bei Störfällen zur Anwendung. Für
diesen «Berufszweig» hat sich die
Bezeichnung «nukleare Tagelöhner»
eingebürgert.
Auch in deutschen AKWs werden
sie für Arbeiten mit hoher Belastung angeheuert,
meist von Reinigungsfirmen, wie zum Beispiel
nach dem Unfall im AKW Gundremmingen 1977, als
radioaktives Wasser 3 Meter hoch im Reaktorgebäude
stand. Nachdem das Wasser einfach ins Freie
abgelassen worden war, mussten die nuklearen
Tagelöhner das Gebäude von Hand reinigen.
Im
Normalfall: Tod auf Raten
Die ersten Erkenntnisse über
die Gefahr durch radioaktive Strahlung gewann
man, wie eingangs bemerkt, im Bergbau. Auch
in dieser Branche wurde mit Grenzwerten hantiert,
wie es gerade ins wirtschaftliche Konzept passte.
Als die USA am Ende des Zweiten Weltkriegs aus
Thüringen und Sachsen abzogen, überließen
sie der Sowjetunion die weltweit größten
bekannten Uranvorkommen. (Bis 1990 war der DDR-Uranbergbau
immer noch der drittgrößte der Welt.)
Das Uran wurde zunächst
im Tagebau, dann auch im Tiefbau, teilweise
bis 3000 Meter Tiefe, gefördert. Zu Beginn
gab es keinerlei Sicherheitsvorkehrungen, die
Strahlenbelastung wurde geheimgehalten. Die
Wismut-Arbeiter, wie die Beschäftigten
der SDAG Wismut genannt wurden, bekamen ihr
teils sehr kurzes Leben mit höheren Gehältern
und Sonderregelungen beim Einkauf knapper Güter
«versüßt».
Nach Angaben der «Wismut»
starben bis 1996 5240 Bergleute an Lungenkrebs,
weitere 14.500 an Silikose (Staublunge) –
wobei die reale Zahl sehr viel höher sein
dürfte, weil in den Jahren von 1946 bis
1955 keine Erfassung der Strahlenbelastung erfolgte
und nach der Wende ein Teil der Akten aus verschiedenen
Gründen verlorenging.
Außerdem waren die Messungen
lückenhaft und wurden teilweise geschätzt
– eine individuelle Dosis wurde bis 1971
schlicht nicht ermittelt, bis dahin wurde der
Lungenkrebs erst ab einer Tätigkeit von
mindestens zehn Jahren unter Tage als beruflich
bedingt angesehen.
Die später festgelegten
Grenzwerte lagen überdies extrem hoch:
Für die Anerkennung eines Lungenkrebses
als Berufskrankheit bedurfte es ab 1970 einer
kumulierten Radonbelastung von 450 WLM (Working
Level Mark), das sind 4,5 Sievert. Die westdeutsche
Bergbau-Berufsgenossenschaft legte dagegen einen
Wert von 200 WLM, also weniger als die Hälfte,
zugrunde. Übrigens diente sich der gleiche
«Fachmann», der zu DDR-Zeiten diese
Grenzwerte, nach denen fast niemand eine Anerkennung
erhalten konnte, zu verantworten hatte, nach
der Wende den bundesdeutschen Behörden
an und rechnete plötzlich für den
Zeitraum von 1951 bis 1956 um ein Vielfaches
höhere Belastungen aus, als er dies zu
DDR-Zeiten getan hatte.
Nicht
nur abschalten – Abbau stoppen!
Die gesamte Produktionskette
der nuklearen Energiegewinnung ist gekennzeichnet
durch die permanente Gesundheitsgefährdung
der in ihr Beschäftigten – vom Abbau
über die Weiterverarbeitung bis hin zur
Beseitigung der Hinterlassenschaften. Und auch
im sog. Normalbetrieb gibt jede Anlage Radioaktivität
in die Umgebung ab, nicht nur das AKW, sondern
auch die Bergwerke: In Häusern der Gegend
um Joachimsthal und Schneeberg wurden Belastungen
bis 100.000 Becquerel Radon gemessen –
die Strahlenschutzkommission hält Werte
bis 250 Becquerel für akzeptabel.
Diese Belastungen stammen zum
Teil von den Ausgasungen der unter den Orten
liegenden Stollen, zum Teil wurde aber auch
strahlender Abraum zum Hausbau verwendet.
Die australische Elektrizitätsarbeitergewerkschaft
ETU hat aus diesen seit langem bekannten Tatsachen
über die Gefährdung der Arbeiter im
Nuklearbereich die einzig richtige Konsequenz
gezogen: Sie hat ihren Mitgliedern die Arbeit
im Uranbergbau kurzerhand verboten und angekündigt,
dass sie alles tun wird, um die Ausweitung des
Uranbergbaus zu bekämpfen.
Das Beispiel sollte in der
Gewerkschaftsbewegung Schule machen –
dieser Technologie keinen Mann und keinen Groschen!