Vorbemerkung
Time
is money – Zeit ist Geld, lautet ein ebenso
gängiges wie absurdes Sprichwort. Absurd
deshalb, weil es außer der physikalischen
ansonsten keinerlei verlässliche Definition
des Begriffes „Zeit“ gibt, also
gar nicht klar ist, was hier eigentlich in Geld
ausgedrückt werden soll. Die Beschäftigung
mit dem Thema „Zeit“, an dem sich
schon zahlreiche Philosophen und Soziologen
mehr oder weniger vergeblich abgearbeitet haben,
mag im Zusammenhang mit der derzeitigen kombinierten
ökonomischen und ökologischen Krise
auf den ersten Blick etwas abseitig erscheinen.
Aber sie lohnt sich. Denn wie wir im Folgenden
zu zeigen versuchen werden, spielt bei dieser
Krise das Phänomen der Beschleunigung eine
zentrale Rolle. Und wir werden sehen, dass die
gleichen gesellschaftlichen Mechanismen, die
unser Verständnis von Zeit, unseren „Zeitbegriff“,
geprägt haben, für das verantwortlich
sind, was die derzeitige Be- und Entschleunigungsdebatte
ausgelöst hat, und deshalb ist es ebenso
notwendig wie nützlich, sich zunächst
einmal mit dem Zeitbegriff zu befassen.
Eine
Untersuchung des Zeitbegriffes und daraus folgend
des Phänomens der Beschleunigung auf der
Basis des historischen Materialismus gibt es
meines Wissens bis dato nicht. Man findet zwar
sowohl bei Marx selbst wie auch bei marxistischen
Wissenschaftlern den einen oder anderen verklausulierten
Hinweis1, und auch
in der bürgerlichen soziologischen Literatur
Verweise auf bestimmte marxistische Versatzstücke,
aber allenfalls zum Beleg mehr oder weniger
„zusätzlicher“ Einflussfaktoren.
Wir werden darauf noch zurückkommen. Im
Folgenden soll deshalb versucht werden, die
Grundlagen einer Zeit- und Beschleunigungstheorie
aus marxistischer Sicht zu skizzieren. Dies
erscheint notwendig, weil nach unserer Meinung
sich die derzeitige kombinierte Krise ohne ein
Verständnis der temporalen Dimension der
Gesellschaftsentwicklung nicht vollständig
verstehen lässt.
Dabei können wir den gesamten Problemkomplex
nicht umfassend bearbeiten, dazu wäre eine
weit umfangreichere Untersuchung erforderlich.
Wir werden uns deshalb darauf beschränken,
die Grundlinien einer dialektisch- materialistischen
Herangehensweise zu skizzieren.
Die
Zeit
Man
könnte es sich einfach machen und feststellen,
dass es sich bei der Zeit schlicht gemäß
der Einstein‘schen allgemeinen Relativitätstheorie
um eine Dimension des gekrümmten vierdimensionalen
Raum-Zeit-Kontinuums handelt. Aber damit wäre
nicht viel gewonnen. Und, wie der Soziologe
Norbert Elias richtig feststellt, nützt
es auch nichts, sozusagen den Zeitbegriff einfach
in einen sozialen und einen physikalischen aufzuteilen,
also eine „soziale Zeit“ einer „physikalischen
Zeit“ gegenüberzustellen.2
Denn der Mensch ist untrennbarer Bestandteil
der natürlichen, oder, anders gesagt, der
physikalischen Umwelt und demnach ist auch die
Herausbildung seines Zeitbegriffs eine Funktion
derselben. Der Mensch lässt sich ohne seine
natürliche Umwelt nicht denken und seine
Zeitvorstellung nicht ohne die Existenz der
4. Dimension, der physikalischen Zeit.
Letztere
ist weder gerichtet noch absolut. Nach den Erkenntnissen
der Relativitätstheorie ist sie abhängig
von der Position respektive Bewegung des Betrachters
im Raum und theoretisch durchaus umkehrbar3.
Verkürzt ausgedrückt, kann man sagen,
dass es physikalisch gesehen eine Zeit im Sinne
des in der gängigen subjektiven Wahrnehmung
von „Zeit“ für selbstverständlich
angesehenen kontinuierlichen, gerichteten Zeitflusses,
also sozusagen eines „Zeitpfeils“,
nicht gibt, sondern dass lediglich an unterschiedlichen
„Stellen“ der vierdimensionalen
Raumzeit unterschiedliche energetische Zustände
des Systems existieren, oder, anschaulicher
gesagt: Jeder momentane Zustand des Universums
drückt eine der dem System inhärenten
Möglichkeiten aus, wie sich die vorhandene
Gesamtenergie (Masse ist gemäß Einstein:
E=mc² ja nichts anderes als eine der Zustandsformen
von Energie) zu einem konkreten „Zeitpunkt“
(i.e. an einem bestimmten Punkt des Raumzeitkontinuums)
organisiert. Unsere jeweilige momentan wahrgenommene
Existenz ist im Sinne der Relativitäts-
und Quantentheorie, in gewissem Sinne auch der
String-Theorie, eine der verwirklichten Möglichkeiten
des Gesamtsystems und nicht das Ergebnis einer
temporalen, gerichteten Bewegung. 4
Die
Vorstellung eines kontinuierlichen, gerichteten
„Zeitflusses“ im Sinne einer eigenen,
„objektiven“ oder „absoluten“
Entität ist eine Entwicklung der Menschheitsgeschichte,
die sich nicht aus dem genetischen Material
erklären lässt. Es gibt zwar im menschlichen
Organismus „eingebaute“ Schaltuhren,
wie den so genannten circadianen Rhythmus, der
auf die Tageszeiten abgestimmt ist, dabei handelt
es sich jedoch nicht um Zeitbestimmungen im
Sinne einer Gerichtetheit, sondern um kreisförmige
Abläufe bzw. nicht bewusst steuerbare physiologische
Reaktionen auf periodisch wiederkehrende Umweltveränderungen.
Man
muss sich also, und das ist nicht leicht, von
der dem heutigen Menschen als Selbstverständlichkeit
geltenden Vorstellung verabschieden, dass die
Empfindung einer gerichtet ablaufenden Zeit
etwas Unwandelbares, seit jeher Existierendes
sei.5 Elias6
und andere weisen unter Bezug auf die entsprechenden
ethnologischen Untersuchungen nach, dass ein
Zeitverständnis wie das unsere das Ergebnis
eines langdauernden Entwicklungsprozesses ist,
an dessen Anfang wohl eher ein circuläres
Empfinden, eines der immerwährenden Wiederkehr,
gestanden hat. Schaltenbrand, ein Neurologe,
wiederum meint: „Der Zeitbegriff entsteht
nur dadurch, dass bewusste Wesen ihre Erfahrungen
mitZeitmarkierungen versehen“, und, „dass
es nicht richtig ist, das Dasein aus kleinsten
Zeitatomen aufzubauen, sondern eher zu sagen,
dass das Dasein eine ungeheure, wenn auch begrenzte
Anzahl von Gegenwartssituationen verschiedener
Länge enthält, die wir in eine systematische
Ordnung zu bringen versuchen.“7
Eine
schlüssige soziologische Theorie der Zeit
existiert wie gesagt bis heute nicht. Verabschiedet
hat man sich spätestens seit Einstein jedenfalls
von den kantianischen und cartesianischen Vorstellungen,
nach denen die Zeit als absolut oder unhinterfragbar
gesetzt wird. Paradox ist dabei, dass es zwar
eine Unmenge von Studien zur Veränderung
des (sozialen) Zeitbegriffs und insbesondere
zur Frage der Beschleunigung gibt, aber die
entsprechenden Autoren meist zu Beginn erst
einmal darauf hinweisen, dass eine konsistente
„Zeitsoziologie“ nicht existiere.8
Paradox ist das deshalb, weil ohne eine Einbeziehung
derZeitvorstellung in die Debatte um Beschleunigung
und ihre Folgen letztere auf ausgesprochen morastigem
Grund stattfindet – denn schließlich
ist Beschleunigung eine Funktion der Zeit und
somit ist eine Betrachtung ersterer ohne eine
tragfähige Bestimmung der Begrifflichkeit
der letzteren ungefähr so sinnvoll, wie
eine Theorie des Schwimmens ohne sichere Erkenntnisse
über die Eigenschaften des Wassers. Ohne
eine zumindest vorläufige Bestimmung eines
Zeitbegriffs ist es wissenschaftlich unseriös,
sich über das Phänomen der Beschleunigung
zu verbreiten.
Eine
Definition des Zeitbegriffes muss materialistisch
gesehen ausgehen von der genannten physikalischen
Definition. Man könnte nun annehmen, dass
– wenn Zeit tatsächlich ungerichtet
ist, aber von uns so empfunden wird –
es sich dabei um eine simple Illusion handele.
Das ist nur teilweise richtig. Richtig ist es
insofern, als es selbstverständlich energetische
Übergänge gibt, die messbar sind und
in zeitlicher Dimension ablaufen, aber die Gerichtetheit,
also die Einteilung in „Vergangenheit“,
„Gegenwart“ und „Zukunft“,
physikalisch in Zweifel zu ziehen und somit
als Illusion anzusehen ist. Falsch ist es wiederum
deshalb, weil ebendiese Gerichtetheit eine menschliche
Setzung ist, und damit eine der Möglichkeiten
darstellt, mit dem Phänomen der Zeit auf
eine Weise umzugehen, die sie für das soziale
Leben der Spezies „brauchbar“ macht.
Bei
dem, was wir unter „Zeit“ verstehen,
im Allgemeinen in der Soziologie als „soziale
Zeit“ apostrophiert, also die Vorstellung
eines gerichteten Zeitstrahls, handelt es sich
folglich um die Verwirklichung einer der Möglichkeiten,
subjektiv mit der physikalischen Zeit umzugehen.
Die
Art dieses Umgangs hat sich dabei, wie bereits
erwähnt, im Laufe der Geschichte grundlegend
gewandelt. In den Urgesellschaften gab es, soweit
das aus entsprechenden empirischen sozioethnologischen
Untersuchungen zu entnehmen ist, nur Zeitbestimmungen,
die sich aus den periodischen Veränderungen
der natürlichen Umwelt herleiteten, und
die auf (über) lebenswichtige Verrichtungen
bezogen waren, wie zum Beispiel die jährliche
Aussaat oder Ernte.In
einer agrarischen Gesellschaftist unter bestimmten
Umweltvoraussetzungen (Klima, Jahreszeitenwandel)
die Bestimmung eines Zeitpunktes für Aussaat
und Ernte notwendige Voraussetzung für
die Subsistenz. Anders verhält es sich
beispielsweise in klimatisch begünstigten
Regionen oder in voragrarischen Gesellschaften,
in denen eine derartige Zeitbestimmung für
die Subsistenz mehr oder weniger unerheblich
ist. Aber diese Bestimmung impliziert (noch)
nicht die Generierung eines Zeitbewusstseins
im heutigen Sinne. Sie setzt den Beginn des
gesellschaftlichen Prozesses einer Entwicklung
von Zeitwahrnehmung, aber sie bezieht sich immer
noch nicht auf gerichtete, sondern auf kreisförmige
Prozesse. Und diese Anfänge der Zeitbestimmung
oder besser Zeitsetzung – denn eine absolut
und objektiv bestimmbare „Zeit“
existiert wie gesagt nicht – bezogen sich
auf die Beobachtung periodisch wiederkehrender
Naturphänomene (Neumond, Sonnenaufgang,
Sonnenwende), abstrahierten also die „Zeit“
in keiner Weise von der natürlichen Umwelt.
Der damalige Zeitbegriff bezog sich ausschließlich
auf kollektive naturbezogene Verrichtungen,
eine „individuelle Zeit“ existierte
nicht – sie war nicht notwendig. Es handelte
sich (noch) um eine „integrative Zeit“
in dem Sinne, dass sie den Menschen und seine
Verrichtungen nicht von der natürlichen
Umwelt separierte, sondern innerhalb derselben
positionierte, und zwar nicht individuell, sondern
kollektiv. Das korrelierte zu den damaligen
Produktionsbedingungen, denn im Rahmen der agrarischen
Subsistenzwirtschaft war die Arbeit unmittelbar
an die circulären Naturphänomene (Jahreszeiten)
gekoppelt.
Dementsprechend
war, worauf auch Elias9
und, unter Bezug auf Ersteren, Garhammer 10
hinweisen, Zeitbestimmung außerhalb der
der Subsistenz dienenden Verrichtungen nicht
notwendig. (Späte Relikte dieses nach heutigen
Vorstellungen extrem „laxen“ Umgangs
mit der Zeit finden wir noch heute in bestimmten
Gesellschaften, in denen „Pünktlichkeit“
eher unbekannt ist.)11
Ein
weiterer Punkt, den man bei der Entwicklung
des Zeitbegriffs berücksichtigen muss,
ist die Nutzbarmachung technischer Möglichkeiten
(damit meinen wir hier zunächst einmal
nicht Zeitmesser, die ein eher sekundäres
Phänomen sind, weil sie lediglich einen
Reflex auf eine vorbestehende/ neu auftauchende
Notwendigkeit und nicht eine Ursache darstellen),
die eine Dissoziation von der „natürlichen
Zeit“ initiierten. Die Entdeckung des
Feuers und damit z. B. der Beleuchtung ist in
diesem Zusammenhang höchst relevant, weil
sie erstmals eine gewisse Emanzipation des Menschen
vom naturgegebenen Tag-Nacht- Cyclus ermöglichte.
Wir
können also feststellen, dass die Anfänge
einer Bestimmung fester Zeitpunkte in direktem
Bezug zur Produktionsweise der entsprechenden
Gesellschaft standen, oder, anders gesagt, zum
Stand der Produktivkräfte, und zwar bezogen
sowohl auf die Notwendigkeit bzw. das Ausmaß
einer differenzierten Zeitbestimmung wie auch
auf die technischen Möglichkeiten zur Emanzipierung
von der naturbezogenen Rhythmik.
Die
weitere Ausdifferenzierung des Zeitempfindens
geschah dementsprechend komplementär zur
zunehmenden sozialen und technischen Ausdifferenzierung
der entsprechenden Gesellschaften. Jede Zunahme
an gesellschaftlicher Komplexität erforderte
entsprechend der immer enger werdenden Beziehungen
zwischen in sich ebenfalls komplexer werdenden
gesellschaftlich notwendigen Verrichtungen nicht
nur eine funktionale, sondern auch eine temporale
Abstimmung. Dieser Prozess lässt sich unter
anderem sehr deutlich an der kontinuierlichen
Weiterentwicklung von Systemen zur Zeitmessung
ablesen – von der Beobachtung der Gestirne
über die Wasseruhr, die mechanische Uhr,
die Schiffsuhr (die ja zur Positionsbestimmung
in der Schifffahrt unabdingbar war) bis hin
zur Atomuhr -, die sich komplementär zu
der entsprechenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher
Funktionen abspielte.12
Ein
Beleg für die Abhängigkeit der Zeitsetzung
von den gesellschaftlichen Erfordernissen ist
auch, dass sie sehr lange regional unterschiedlich
gehandhabt wurde. Die Herausbildung von, respektive
die Übereinkommen betreffend Weltzeit und
Zeitzonen geschah relativ spät, man kann
dies als ein Resultat der beginnenden Globalisierung
auffassen, also als Folge der sukzessiven Erweiterung
lokaler und regionaler Interdependenzen im Bereich
der Produktions- und Distributionssphäre.
Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann13
drückt das dergestalt aus, dass die Weltzeit
die Synchronisierung einzelner sozialer Systeme
betreffend Zeitorientierung bedeute. Das ist
eine relativ späte Errungenschaft.
Beschleunigung
In
den letzten Jahren ist (erneut) eine heftige
Debatte über die Frage entbrannt, welche
Gründe und welche Konsequenzen die beobachtbare
Beschleunigung in allen Lebensbereichen hat.
Rifkin hat das neu erwachte Interesse folgendermaßen
charakterisiert: „Bis heute existierte
Zeitbewußtsein direkt unter der Oberfläche
des Bewußtseins, beeinflußte und
formte immer die Erfahrung unserer Spezies,
genoß aber nie viel offene Aufmerksamkeit
als Schlüsselkraft im historischen Prozeß.
Nun ist das Zeitbewußtsein an die Oberfläche
unseres kollektiven Bewußtseins getreten
und beginnt eine Vielfalt neuer, metaphorischer
Chancen zu bieten, um den politischen Prozeß
neu zu bedenken und zu erdenken.“14
Auch hier ist es notwendig, zunächst einmal
zu klären, wovon man redet, wenn man über
Beschleunigung spricht.
Physikalisch
gesehen ist Beschleunigung eine Exponentialfunktion:
die Änderung von Geschwindigkeit pro Zeiteinheit.
Aber wessen Geschwindigkeit? Es ist nötig,
hier zu differenzieren. Zum einen wäre
zu untersuchen die Beschleunigung im Bereich
des Transports. Hier ist die Datenlage eindeutig.
Wir werden darauf noch zurückkommen.
Ähnliches
ist zu sagen zur Beschleunigung der Produktionsprozesse,
wobei dies natürlich in untrennbarem Zusammenhang
mit der Entwicklung im Bereich der Transportmittel
steht. Der Fordismus wäre ohne die Entwicklung
entsprechender Motoren zum Antrieb der Transportbänder
nicht möglich geworden. Aber auch die Beschleunigung
in der Informationsübermittlung, von der
Buschtrommel und dem Läufer von Marathon,
der optischen Nachrichtenübermittlung per
Lichtzeichen bis hin zu Post, Telegrafie, Telefon
und Internet gehört in diese Kategorie,
die ich einmal die technische oder materielle
Beschleunigung nennen möchte.
Die
heutige Beschleunigungsdiskussion krankt zum
Teil daran, dass die von Bourdieu15
festgestellte „Entzeitlichung“ der
sozialtheoretischen Praxis sich paradoxerweise
teilweise gerade bei denen wiederfindet, die
sich mit dem Phänomen der Beschleunigung
beschäftigen, dergestalt, dass sie sich
in ihrer Betrachtung wie Rosa auf bestimmte
Zeitabschnitte kaprizieren und aufgrund dieser
teilweise ahistorischen Betrachtung zu entsprechend
absurden Schlussfolgerungen kommen.
Denn,
wie z. B. Rosa16 selbst
feststellt, hat es in den letzten 200 Jahren
periodisch wiederkehrende Debatten (und Klagen)
über die zunehmende Beschleunigung „des
Lebens“ gegeben. Meist bezogen sie sich
zunächst auf die befürchteten gesundheitlichen
Folgen der Geschwindigkeits-zunahme der jeweiligen
Verkehrsmittel (Eisenbahn, Automobil und sogar
Fahrrad), aber im letzten Jahrhundert begann
dann mit der Ausdifferenz-ierung der entsprechenden
sozialwissenschaftlichen Disziplinen auch eine
Diskussion über die sozialpsychologischen
und damit gesellschaftspolitischen Folgewirkungen
der Beschleunigung. Jeweils wurde von den verschiedenen
Protagonisten dann eine mehr oder weniger besorgniserregende
neue Dimension der Akzeleration konstatiert.
Tatsache
ist, dass man mit Fug und Recht die Geschichte
der Menschheit auch als eine Geschichte der
Beschleunigung auffassen kann. Allerdings ist
letztere, wie wir im Abschnitt über die
Zeit bereits nachwiesen, nicht als Phänomen
sui generis aufzufassen, also etwa als menschlicher
„Trieb“ oder objektives Naturphänomen.
Ebenso wie die Herausbildung eines Zeitbegriffes
einen Reflex auf die Notwendigkeiten, die sich
aus bestimmten Produktionsund Subsistenzbedingungen
ergaben, darstellte, stellt auch die Beschleunigung
einen solchen dar. Dabei sind zwei Punkte zentral:
Zum einen die Generierung eines gesellschaftlichen
Mehrprodukts und zum anderen das Privateigentum
an Produktionsmitteln und seine Konsequenzen.
Die erstmalige Generierung eines gesellschaftlichen
Mehrprodukts als Voraussetzung für die
Ausdifferenzierung von Gesellschaften im Sinne
der Arbeitsteilung kann als eine erste Beschleunigungsphase
aufgefasst werden, insofern, als diese Ausdifferenzierung
wiederum eine weitere Erhöhung des gesellschaftlichen
Mehrproduktes z. B. durch die Zurverfügungstellung
von besseren Werkzeugen, nach sich zog.
Dabei
handelte es sich zunächst noch um Vorgänge,
die zwar auf der Ebene der Produktion eine Beschleunigung
generierten, da aufgrund der positiven Effekte
der Arbeitsteilung/Spezialisierung das zur Subsistenz
notwendige Produkt in kürzerer Zeit als
zuvor produziert werden konnte. Eine Beschleunigung
im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Geschwindigkeitszunahme
bedeutete es allerdings nicht, im heutigen Sprachgebrauch
würden wir sagen, es entstand schlicht
mehr „Freizeit“.
Den nächsten „Beschleunigungsschub“
könnte man grob gesagt an dem beginnenden
Austausch zwischen verschiedenen Populationen
festmachen. Hiermit war der Anreiz zur Entwicklung
von Transportmitteln gegeben, mittels derer
sich die zum Tausch bestimmten Güter leichter
und schneller transportieren ließen, seien
es die Herauszüchtung entsprechender Haustiere
oder die Entwicklung des Rades.
Bis
zu diesem Zeitpunkt allerdings können wir
noch nicht von einem „Zwang zur Beschleunigung“
sprechen, sieht man einmal von temporären
Phänomenen ab, wie z. B. dem unmittelbaren
Zwang zum Einbringen einer Ernte vor dem großen
Regen o. ä., denn dabei handelt es sich
im eingangs genannten Sinne ja ebenfalls um
allenfalls zyklische Phänomene und nicht
um eine kontinuierliche Akzeleration.
Ein
regelrechter Zwang zur Beschleunigung entstand
erst mit der Herausbildung des Handelskapitals
und des Privateigentums an Produktionsmitteln.
Die wesentliche Triebfeder dabei stellt das
Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate17
und das daraus folgende Bestreben zur Erhöhung
der Umschlaggeschwindigkeit des variablen Kapitals
dar. Dabei handelt es sich um im Rahmen dieser
Produktionsweise objektive Zwänge, die
nicht mehr der individuellen oder kollektiven
Entscheidungsfreiheit unterworfen sind.
Das
Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate
hat zur Folge, dass von den entsprechenden Kapitaleignern
versucht wird, ihm durch verschiedene Maßnahmen
entgegenzuwirken. Neben anderen Mitteln wie
z. B. der Minimierung der Arbeitskosten ist
das für die Frage der Beschleunigung wesentliche
Instrument die Verkürzung der Zeit zwischen
der Produktion der entsprechenden Güter
und dem Verkauf derselben. Damit verkürzt
sich die Zeit, in der der Kapitalist nicht über
das – in dieser Phase für ihn „tote“
- Kapital verfügen kann.
Der
Unternehmer, der etwa heute noch seine Produkte
mit dem Segelschiff oder dem Ochsenkarren zum
Markt befördern würde, geriete gegenüber
dem entsprechenden, mit Flugzeug oder Truck
arbeitenden Konkurrenten in einen entscheidenden
Konkurrenznachteil, denn er würde sein
für die Produktion der entsprechenden Waren
eingesetztes Kapital erst mit einer um ein Mehrfaches
größeren Zeitverzögerung über
den Verkauf wiederbekommen und in der Zwischenzeit
weder den erzeugten Mehrwert realisieren können,
noch Zinsen für das eingesetzte Kapital
erhalten (bzw. u. U. in der Zwischenzeit im
Gegenteil Zinsen für einen eventuellen
Kredit bezahlen müssen).
Wie
erheblich seit den Handelsimperien des Mittelalters,
z. B. Venedigs, die entsprechende Umschlaggeschwindigkeit
gesteigert wurde, lässt sich ermessen,
wenn man sich vor Augen hält, dass seinerzeit
die venezianischen Kaufleute, die ein Schiff
ausrüsteten, je nach anzusteuernder Region
bis zu zwei Jahre (und länger) warten mussten,
bis sie ihre Gewinne realisieren bzw. das eingesetzte
Kapital zurückbekommen konnten, von den
damaligen Transportrisiken einmal ganz abgesehen.18
Darauf
hat auch Marx bereits hingewiesen: „Das
Hauptmittel zur Verkürzung der Zirkulationszeit
sind verbesserte Kommunikationen. Und hierin
haben die letzten fünfzig Jahre eine Revolution
gebracht, die sich nur mit der industriellen
Revolution der letzten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts vergleichen läßt. Auf
dem Lande ist die makadamisierte Straße
durch die Eisenbahn, auf der See das langsame
und unregelmäßige Segelschiff durch
die rasche und regelmäßige Dampferlinie
in den Hintergrund gedrängt worden, und
der ganze Erdball wird umspannt von Telegraphendrähten.
Der Suezkanal hat Ostasien und Australien dem
Dampferverkehr erst eigentlich erschlossen.
Die Zirkulationszeit einer Warensendung nach
Ostasien, 1847 noch mindestens zwölf Monate,
ist jetzt ungefähr auf ungefähr ebensoviel
Wochen reduzierbar geworden.“19
Komplementär
zur schubweise durch die Entwicklung jeweils
eine neue Qualität darstellender Transportmittel
zur Distribution von zur Produktion notwendigen
Grundstoffen oder Vorprodukten ebenso wie von
produzierten Waren (Ruderboot / Segelschiff
/ Dampfschiff / Motorschiff; Ochsenkarren /
Pferdefuhrwerk / Eisenbahn / Automobil; Luftschiff
/ Flugzeug / Rakete) erzeugten Beschleunigung
fand auch eine solche im Bereich der Produktion
selbst statt. Von der handwerklichen Produktion
über die Manufaktur bis hin zum Fordismus
und zur Vollautomatisierung hat eine atemberaubende
Beschleunigung der Produktionszyklen stattgefunden.20
Und als Produktion und Distribution kaum mehr
beschleunigt werden konnten, kam als nächste
Entwicklung die „just in time“-Produktion,
durch die die Lagerhaltung für die Grundstoffe
und Vorprodukte reduziert und damit die temporäre
Anhäufung toten Kapitals minimiert wurde.
Ein
weiterer Punkt, der den Zwang zur höheren
Umschlagsgeschwindigkeit determiniert, ist die
Beschleunigung der Innovationszyklen. Nimmt
man das genannte Beispiel eines Produzenten,
der seine Produkte, sagen wir einmal modische
Kleidung, heute mit einem Segelschiff um das
Kap der guten Hoffnung nach Asien beförderte,
würde dieser sich nicht nur den oben genannten
Nachteil der niedrigen Umschlaggeschwindigkeit
in Form „toten Kapitals“ einhandeln,
sondern unter Umständen feststellen, dass
sich in der Zwischenzeit längst die Mode
geändert hat und er einen Totalverlust
seines eingesetzten Kapitals gewärtigen
muss.
Auch
die Beschleunigung im Bereich der Kommunikation
ist eine direkte Folge dieses grundlegenden
Zwanges, der aus den bewusstlosen Zwangsläufigkeiten
der Entwicklung der Produktionsmittel und der
entsprechenden Produktionsweise resultiert.
Der Beginn der Informationsübermittlung
mittels Artefakten (vom Rauchzeichen über
die Postkutsche bis zum Satellitentelefon und
Internet) war nicht durch den Wunsch nach privater
Kommunikation, sondern in erster Linie durch
gesellschaftliche Aktivitäten wie Handel,
aber auch Krieg, gesetzt.21
Dass sekundär eine Diffusion der Beschleunigungstechnologien
in die Gesamtbevölkerung stattfand, hat
wiederum drei wesentliche Gründe, die hier
nicht tiefer gehend erläutert, aber der
Vollständigkeit halber zumindest erwähnt
werden sollen:
Zum
einen haben die Beschleunigungsprozesse im Bereich
der materiellen Sphäre ihre Rückwirkungen
auf das Bewusstsein der im entsprechenden gesellschaftlichen
Kontext Agierenden.22
In einer Gesellschaft, in der eine Zunahme an
Geschwindigkeit sich mehr oder weniger unmittelbar
in materielle Vorteile umsetzen lässt,
und in der dieser materielle Vorteil die Messlatte
für die Positionierung innerhalb des gesellschaftlichen
Kontextes ist, werden „Zeit“, Geschwindigkeit
und Beschleunigung zu (mehr oder weniger unhinterfragten)
Werten an sich. Und so kommt es zu einer klassischen
dialektischen Wechselwirkung zwischen den aus
den geschilderten objektiven Zwängen folgenden
Beschleunigungsprozessen und dem daraus folgenden
Bewusstsein, das wiederum auf die materielle
Sphäre zurückwirkt. 23
Zum
Zweiten folgt die Diffusion der für die
allgemeine Beschleunigung sorgenden Artefakte
über die ursprünglich beabsichtigte
Nutzanwendung hinaus in die Gesamtbevölkerung
dem Prinzip, dass für eine Beschleunigung
der Umschlaggeschwindigkeit des Kapitals auch
derjenige, der für die Mehrwertrealisierung
unabdingbar ist, nämlich der „Kunde“,
ebenfalls „beschleunigt“ werden
muss, und zwar auf mehrerlei Ebenen. Zum einen
ganz real dadurch, dass man ihm zum Beispiel
die Transportmittel, seien es öffentliche
oder individuelle, anbietet, um ihm in möglichst
kurzer Zeit die Möglichkeit zum Erwerb
der entsprechenden Produkte zu verschaffen.24
Zum anderen, indem man ihm durch entsprechende
Manipulationsmechanismen, im allgemeinen Sprachgebrauch
als Werbung bezeichnet, vorspiegelt, dass schneller
auch besser sei (als Beispiel sei hier die Entwicklung
im Bereich der Informationstechnologie genannt,
wo mit der jeweils höheren Geschwindigkeit
von Mikroprozessoren geworben wird, die 90%
der Nutzer wahrscheinlich nicht einmal wahrnehmen).
Dies geschieht, traun fürwahr, unter Ausnutzung
der aus dem geschilderten dialektischen Beschleunigungsprozess
folgenden Bewusstseinslage.
Der
dritte Punkt ist das Bestreben des Kapitals,
für nun einmal mit nicht unerheblichem
Aufwand entwickelte (Beschleunigungs)produkte
einen möglichst großen Markt zu öffnen.
(Das ist ein Phänomen, das sich selbstverständlich
nicht nur im Bereich der Beschleunigungstechnologien
findet, aber dort, wie wir noch sehen werden,
besonders verheerende Auswirkungen zeitigt.)
Dafür werden, wiederum unter Ausnutzung
des genannten Bewusstseins, die entsprechenden
Produkte für einen Massenmarkt zugerichtet.25
(In diesem Zusammenhang müsste die für
die Herstellung eines solchen Massenmarktes,
z. B. dem der individuellen Transportmittel,
notwendige sozialpsychologische Voraussetzung,
nämlich die ebenfalls mit der Ausformung
der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung
einhergehende Tendenz zur Individualisierung
thematisiert werden; da dies den Rahmen dieser
Arbeit sprengen würde, soll hier lediglich
auf diesen Sachverhalt hingewiesen werden).
Wir
können also zusammenfassend konstatieren,
dass es sich bei der allgemein festzustellenden
und da und dort beklagten Beschleunigung aller
Lebensbereiche, sei es in Basis oder Überbau,
unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise
nicht um einen willentlich gesteuerten Prozess,
sondern um der Struktur dieses Produktionssystems
inhärente Zwänge handelt, denen der
Einzelne in diesem System Agierende sozusagen
bei Strafe des Unterganges gehorchen muss.
Krise
und Klimawandel
Was
hat das Ganze nun mit der derzeitigen Krise
zu tun?
Um
diese Frage zu beantworten, muss man zuerst
einmal auf den Charakter der Krise eingehen.
Sie hat zwei Aspekte:
Zum
einen handelt es sich um eine klassische Überproduktionskrise.
Dass sie auf der Erscheinungsebene und im Bewusstsein
der Masse der Bevölkerung als Finanzkrise
imponiert, hat etwas damit zu tun, dass der
Ausbruch der Krise mit einer erheblichen Verzögerung
erfolgte. Gemäß den makroökonomischen
Daten wäre die jetzt stattfindende weltweite
Depression eigentlich bereits vor etwa 15 Jahren
zu erwarten gewesen.26
Dass sie sich verzögerte, war kurz gesagt
auf die enorme Aufblähung der privaten
und öffentlichen Verschuldung in den letzten
20 Jahren zurückzuführen und das schließliche
Platzen der Kreditblase erzeugte den Eindruck,
es handele sich um eine Krise des „Finanzkapitalismus“.
In Wirklichkeit stand bereits seit Längerem
der enorm gewachsenen Produktion keine adäquate
Kaufkraft mehr gegenüber, was das grundlegende
Merkmal einer Überproduktionskrise ist.
Zum
Zweiten handelt es sich um eine tief greifende
ökologische Krise, die in erster Linie
geprägt ist von den Folgen der ungehemmten
Emission von klimaschädlichen sogenannten
Treibhausgasen – in erster Linie Kohlendioxid
– in den letzten 150 Jahren, verstärkt
durch die Zerstörung der „grünen
Lungen“ der Erde durch die Abholzung der
Regenwälder und den Anstieg der Fleischproduktion
(Methanemissionen) sowie weitere Faktoren, die
hier nicht im Einzelnen beschrieben werden sollen.27
Zusammenfassend ist zu sagen, dass ohne eine
Reduktion des Treibhausgasausstoßes um
mindestens 90% bis zum Jahr 2050 ein irreversibler
Prozess eintritt, der große Teile der
Erde unbewohnbar machen wird, sei es durch Überflutungen,
Versteppungen/Wassermangel oder andere Konsequenzen
des Klimawandels.
Diese
Kombination aus ökonomischer und ökologischer
Krise ist aus einem offensichtlichen Grund ungeheuer
brisant: Eine der Hauptursachen der drohenden
Klimakatastrophe ist nämlich exakt die
Beschleunigung aller Lebensbereiche in den letzten
150–200 Jahren, also in der Phase des
Industriekapitalismus. Ins Auge springt natürlich
die Entwicklung und exponentielle Zunahme des
modernen Individualverkehrs. So machten im Jahr
2000 die CO2-Emissionen des Verkehrs etwa 14%
des Gesamtausstoßes aus, davon entfielen
76% auf den Straßenverkehr, davon wiederum
war weit über die Hälfte auf den Individualverkehr
zurückzuführen.28
In der Zwischenzeit ist durch die Zunahme des
Autoverkehrs in den sogenannten Schwellenländern
der Anteil weiter gestiegen.
Aber
auch die irrationale Art der weltweiten Produktion
und Distribution hat einen großen Anteil
an der Zunahme des Nah- wie Fernverkehrs mit
der entsprechenden Treibhausgasemission.29
(Im Übrigen weniger bekannt ist, dass von
der Energie- und Umweltbilanz her das mit Abstand
„schmutzigste“ Verkehrsmittel derzeit
das Schiff ist. Der Schiffsverkehr machte im
Jahr 2000 10% der verkehrsbedingten Emissionen
aus.)
Während
die soeben genannten Beispiele noch den meisten
an Umweltpolitik Interessierten geläufig
sind, wird über einen weiteren Sachverhalt
weniger gesprochen, nämlich über das
Anwachsen der Produktionsmenge, respektive die
Haltbarkeit von Produkten.
Die
letzteren Punkte sind deshalb von erheblicher
Wichtigkeit, weil die derzeitigen Versuche der
Bewältigung der ökonomischen Krise
sämtlich auf Wirtschaftswachstum setzen,
also auf eine erneute Erhöhung der Produktionsmengen.
Betrachten
wir einmal zwei bekannte (deutsche) Beispiele
für diese Strategie: die „Verschrottungsprämie“
für Alt- PKW und die diskutierte Ausgabe
sogenannter Konsumgutscheine:
Was
die mit der ersteren Maßnahme erfolgende
Subventionierung des Individualverkehrs betrifft,
so wird sie damit begründet, dass man eine
Umstellung auf neue, umweltfreundliche(re) Fahrzeuge
befördern wolle. Das ist natürlich
Unsinn. Zum einen werden von der Ökobilanz
her gesehen bei der Produktion eines Neuwagens
so viele Treibhausgase freigesetzt, dass es
umweltschonender ist, den alten Wagen ohne Katalysator
noch mindestens zehn Jahre länger zu fahren,
als einen neuen zu kaufen. Es handelt sich schlicht
um Subventionen für die Automobilindustrie,
die noch dazu umweltpolitisch kontraproduktiv
sind. Zum zweiten ist dazu zu sagen, dass eine
weitere Förderung des für einen großen
Teil des Treibhausgasausstoßes (s.o.)
verantwortlichen Individualverkehrs klimapolitisch
schlicht unverantwortlich ist.
Die
sogenannten Konsumgutscheine wiederum belegen
in seltener Deutlichkeit die bewusstlose Logik
des herrschenden Wirtschafts-systems. Es soll
und muss produziert werden, und imZweifelsfall
werden die Bürger noch animiert, für
sie unter Umständen völlig nutzlosen
Müll zu erwerben, um in den Genuss der
Konsumgut-scheine zu kommen, um unter allen
Umständen die Kapitalverwertung in Gang
zu halten. Jegliche Warenproduktion aber bedarf
eines mehr oder weniger großen Energieeinsatzes,
der wiederum auf Kosten des Klimas geht. Man
kann auch nicht so argumentieren, dass das Problem
mit der Umstellung auf klimaneutrale Energieformen
zu lösen sei. Denn die Klimabilanz der
entsprechenden Energieformen ist (mit Ausnahme
der Biogasanlagen) ebenfalls in mehr oder weniger
großem Maße negativ. Die für
die Fortführung der derzeit geltenden Wirtschaftsordnung
notwendigen Wachstumsraten lassen sich klimaneutral
nicht erreichen, schon gar nicht in einer Wirtschaftsordnung,
die in ihre Produkte von vornherein „Sollbruchstellen“
einarbeitet, um den Umsatz zu steigern und auf
Einmalprodukte statt auf Kreislaufwirtschaft
setzt.
„Entschleunigung“?
Die
Lösung liegt also, um auf unser Thema zurückzukommen,
in der Rückführung der stattgehabten
Beschleunigung.
Die
derzeitige „Entschleunigungsdiskussion“
spielt sich bezeichnender-weise vorwiegend auf
der individuellen Ebene ab, zum Beispiel was
die „Verkehrsvermeidung“ betrifft,
während auf der institutionellen Ebene
der Teufel Klimawandel mit dem Beelzebub des
CO2-Handels ausgetrieben werden soll. (Dem individualpsychologischen
„Entschleunigungs“ansatz hat der
Autor Oliver Schmid in seinem satirischen Roman
„Der beste Roman aller Zeiten“ übrigens
vor kurzem mit der Figur des „Diplomentschleunigers“
ein passendes Denkmal gesetzt).
Damit
wollen wir nicht behaupten, dass es nicht sinnvoll
und notwendig ist, auch auf der individualpsychologischen
Ebene für einen Bewusstseinswandel einzutreten.
Aber das darf nicht in der Weise geschehen,
dass damit verschleiert wird, dass die wirklichen
Ursachen des Umganges mit Zeit und Beschleunigung
in der Verfasstheit unseres Gesellschaftssystems
liegen und auf der Basis des Letzteren eine
Entschleunigung im dringend notwendigen Umfang
nicht zu haben ist. Im Übrigen ist angesichts
des bereits erläuterten untrennbaren dialektischen
Zusammenhanges zwischen Produktionsweise und
„Geschwindigkeits-bewusstsein“ eine
individuelle Bewusstseinsänderung auf Massenebene
abgekoppelt von einer Veränderung der materiellen
Grundlage, also der Produktionsweise selbst,
nicht möglich.
Wir
müssen uns schon etwas Intelligenteres
einfallen lassen – bei Strafe des Unterganges.
Thadeus
Pato ist Mitglied des RSB und des Exekutivbüros
der 4. Internationale
1
So z. B. im 4. Kapitel des 3. Bandes des Kapital,
das sich mit der Umschlaggeschwindigkeit
des Kapitals beschäftigt. Wir werden darauf
noch zurückkommen. Karl Marx - Friedrich
Engels - Werke, Band 25, „Das Kapital“;
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1983
2
Elias, N.: Über die Zeit; Suhrkamp 1988,
S. XV.
3
Eine allgemein verständliche Darstellung
zu
diesem Thema findet sich in „Spektrum
der
Wissenschaft Spezial“ Nr. 1/2007
4 Insofern ist Elias auch zu widersprechen,
dass
es neben den genannten vier Dimensionen eine
fünfte gäbe, als die er die Fähigkeit
des Menschen
zur Synthese apostrophiert. Im genannten
Sinne handelt es sich dabei ebenfalls um
die Verwirklichung einer der möglichen
energetischen
Zustände im Rahmen der vierdimensionalen
Raumzeit.
5
Mit den erkenntnistheoretischen Problemen,
die sich aus der Heisenberg`schen Unschärferelation
resp. der Quantentheorie ergeben, werden
wir uns hier nicht weiter beschäftigen,
zu
verweisen wäre auf den Versuch von Virilio,
diese in die Betrachtung einzubeziehen (Virilio,
P.; Rasender Stillstand; Fischer Verlag 1997)
6 Elias, op. cit., S.XVI ff.
7
Schaltenbrand, G. (1988): Bewußtsein und
Zeit. In: R. Zoll (Hrsg.): Zerstörung und
Wiederaneignung
von Zeit. Frankfurt am Main
8 So z. B. Rosa, Hartmut: Beschleunigung; Suhrkamp
2005, S.23 ff. Rosa stellt erst einmal unter
Bezugnahme auf Pierre Bourdieu fest, dass
es keine konsensfähige soziologische oder
philosophische
Zeittheorie gebe, um dann ebenfalls
ohne entsprechende Begriffsklärung oder
auch nur den Versuch einer solchen abrupt als
Hypothese für seine Arbeit zu formulieren:
„...
dass Modernisierung nicht nur ein vielschichtiger
Prozess „in der Zeit“ ist, sondern
zuerst
und vor allem auch eine strukturell und kulturell
höchst bedeutsame Transformation der
Temporalstrukturen und -horizonte selbst bezeichnet....“
9
Elias, op. cit. a. a. O.
10 Garhammer, M: Wie Europäer ihre Zeit
nutzen;
edition sigma 1999, S. 48 ff.
11 S. zu diesem Thema: Levine, R.: Eine Landkarte
der Zeit; Piper Verlag 1999
12
Zur Geschichte der Zeitmesser vgl. Levine, op.
cit. oder auch Rosa, op.cit.
13 Luhmann, N.: Weltzeit und Systemgeschichte;
in: Lutz (Hrsg.): Sonderheft 16 der Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie;
1972
14
Rifkin, J.; Uhrwerk Universum, S.253, Kindler
Verlag, München 1988
15 Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der
theoretischen
Vernunft. Frankfurt am Main 1993
16 Rosa, op. cit., a. a. O.
17
Vgl. hierzu: Mandel, E.; Der Spätkapitalismus,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1972, insbes. S.
459 ff.
18
s. u.a. W. Shakespeare; Der Kaufmann von Venedig.
Im Übrigen gab es seinerzeit auch schon
Banken, die gegen eine Gewinnbeteiligung Risikokapital
zur Verfügung stellten, was auch
gelegentlich zu Bankenpleiten führte –
Spekulation
zahlte sich nicht nur heute nicht immer
aus....
19
Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band
25, „Das Kapital“, Bd. III; Dietz
Verlag, Berlin/
DDR 1983; S.80
20 In der Nationalökonomie wird dies als
Steigerung
der Produktivität ausgedrückt.
21
Das World Wide Web beispielsweise hat seinen
Ursprung ja schließlich nicht zufällig
im amerikanischen
Verteidigungsministerium.
22 Ausgedrückt wird das bildlich von einer
Reihe
von Autoren wie Mc Luhan, aber auch Virilio
oder Postman als „Schrumpfung des
Raumes“.
23 Welch irrationale Züge der Geschwindigkeitswahn
in der Individualsphäre inzwischen erreicht
hat, zeigt sich zum Beispiel an der Produktion
von PKW wie des 1000-PS-Bugatti
der Firma Volks(!)wagen.
24
Das kann durch den Verkauf von Autos geschehen
oder aber auch durch die online-Bestellung
im Internet, wobei dann auch noch ein
24-Stunden-Kurierdienst angeboten wird.
25 Die Produktion von realen Mini(renn)autos
für Kinder ist sowohl ein Beispiel für
die Art
und Weise, wie zusätzliche Märkte
erschlossen
werden wie auch dafür, wie schon in frühem
Alter Geschwindigkeit und Beschleunigung
als „Werte an sich“ im Bewusstsein
verankert
werden.
26
Zu dem Thema der „verzögerten Krise“
und
der damit zusammenhängenden Debatte um
die sogenannten Kondratieff`schen langen
Wellen der Konjunktur werden wir uns demnächst
an anderer Stelle äußern.
27
Der im Internet zu findende letzte Bericht des
IPCC (International Panel on Climate Change)
ist hier als Quelle zu nennen, wobei ein Teil
der
darin niedergelegten Prognosen bereits wieder
überholt ist: Die Lage hat sich zwischenzeitlich
erneut dramatisch verschlimmert.
28 Quelle: IPCC-Bericht
29
Ein kleines Beispiel ist der Verkauf von südafrikanischen,
australischen und amerikanischen
Weinen in Europa, während umgekehrt
wiederum französische und italienische
exportiert
werden, obwohl anerkanntermaßen die
Qualität sich nicht wesentlich unterscheidet.
|