|
Antiglobalisierung |
|
ArbeiterInnenbewegung |
|
Bildungspolitik |
|
Frauenbewegung |
|
Imperialismus
& Krieg |
|
International |
|
Kanton
Zürich |
|
Marxismus |
|
Umweltpolitik |
|
Startseite |
|
Über
uns |
|
Agenda |
|
Zeitung |
|
Literatur |
|
Links |
|
Kontakt |
Schwerpunke
/ Kampagnen |
|
Bilaterale
II |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Venezuela
Revolution
in der Revolution
von
Stuart Piper aus INPREKORR 406/407, September/Oktober
2005
|
Der
sich in Venezuela entfaltende politische
Kampf ist in der heutigen Welt zum wichtigsten
Bezugspunkt sowohl für die Linke
als auch für die Global-Justice-Bewegung
geworden. Sehr deutlich wurde dies in
Porto Alegre beim 5. Weltsozialforum,
als Chavez – im Gegensatz zum
brasilianischen Präsidenten Lula
– ein grandioser Empfang bereitet
wurde. In einer Zeit, in der die enorme
Bewegung gegen den Irak-Krieg mit der
Formulierung von politischen Zielen
Schwierigkeiten hatte; in einer Zeit,
in der die Erfahrungen mit anderen linken
Regierungen in Lateinamerika enttäuschend
und von Verrat gekennzeichnet waren;
in einer solchen Zeit scheint Venezuelas
„Bolivarische Revolution“
zu beweisen, dass es vielleicht doch
einen anderen Weg, eine Alternative
gibt.
|
Die
meisten von uns Linken haben nur sehr
langsam erkannt, was in Venezuela wirklich
geschieht. Es ist daher um so wichtiger,
jetzt den Prozess in Venezuela zu beobachten
und zu diskutieren, damit wir uns einerseits
besser an der internationalen Solidaritätsbewegung
beteiligen können, die die venezolanische
Bevölkerung so dringend braucht
und verdient, und damit wir andererseits
diesen komplexen und einmaligen politischen
Prozess verstehen und von ihm lernen
können.
|
EINE NEUE PHASE
|
Der
Augenblick ist gut gewählt. Mit
den entscheidenden Siegen bei den Umfragen
des letzten Jahres begann ein neuer
Abschnitt in der Geschichte Venezuelas.
Eine Mehrheit von 60% stimmte bei dem
Referendum am 15. August 2004 für
Hugo Chavez und für die Fortführung
seiner Politik und stellte sich denen,
die versuchten, Chavez abzusetzen, entgegen.
Nachdem die Opposition schon dramatische
Niederlagen bei dem Putschversuch im
April 2002 und bei dem Versuch, die
Ölindustrie lahmzulegen, erlebt
hatte (beides konnte durch spektakuläre
Massenmobilisierungen verhindert werden),
scheiterte sie jetzt auch mit ihrem
letzten Trumpf – einem legalen
und „verfassungsgemäßen“
Referendum. Sie befindet sich seitdem
in einem Zustand der völligen Konfusion,
wobei ein Teil der venezolanischen Business-Klasse
versucht, mit Teilen der Regierungsmaschinerie
neue Arrangements zu treffen, um weiterhin
Geld machen zu können. Die letzten
VertreterInnen aus Washington wurden
mit faulen Eiern beworfen und wissen
nun nicht, wie ihr nächster Schachzug
aussehen könnte. Die hohen Siege
bei den Landtags- und Kommunalwahlen
im Oktober 2004 bestätigen, dass
die Bevölkerung den eingeschlagenen
Weg weitergehen möchte.
Natürlich
sind auch nach diesen Siegen die Chavez-Regierung
und der begonnene Prozess weiterhin
bedroht, sowohl durch innere als auch
durch internationale GegnerInnen. Aber
die momentane Abwehr der Opposition
gibt neuen Spielraum. Chavez und seine
ihm am nächsten stehenden UnterstützerInnen
sprechen jetzt von einer „neuen
Phase“, von einem „Sprung
nach vorne“, von der „Revolution
in der Revolution“. Im November
fand ein Treffen zwischen ihnen und
allen neugewählten BürgermeisterInnen
und GouverneurInnen statt, um mit dem
Entwurf eines neuen „strategischen
Plans“ zu beginnen. Seitdem wendet
sich Chavez immer mehr nicht nur gegen
den „Neoliberalismus“, sondern
direkt gegen den Kapitalismus. Beispielsweise
wies er zu Beginn diesen Jahres auf
die Notwendigkeit hin, sozialistische
Lösungen für das 21. Jahrhundert
(wieder) in Betracht zu ziehen. Im April
dann sprach er es endlich deutlich aus:
„Ich bin ein Sozialist.“
Und: „Sozialismus.
Darauf
steuern wir zu.“ Der Bolivarischen
Revolution wurde auch von außerhalb
Venezuelas viel Sympathie entgegengebracht
(v. a. von LateinamerikanerInnen) und
immer mehr von uns Außenstehenden
wurde klar, dass hier etwas geschieht,
was sehr ernst zu nehmen ist. Natürlich
müssen wir uns Zeit nehmen, um
den dortigen Ereignissen folgen zu können
und um sie zu verstehen, und wir sollten
es unbedingt vermeiden, zu rasch ein
Urteil zu fällen. Aber trotzdem
sollten wir versuchen, einige der Hauptcharakteristiken
dieses Prozesses zu identifizieren.
|
STÄRKEN UND SCHWÄCHEN
|
Auch
auf die Gefahr hin, zu stark zu vereinfachen,
kann bei dem in Venezuela stattfindenden
Prozess von zwei großen Stärken
und von zwei große Schwächen
gesprochen werden.
Mobilisierung
Eine der wichtigsten Stärken der
Bolivarischen Revolution beruht auf
der enormen Mobilisierungsfähigkeit
der venezolanischen Bevölkerung.
Diese Fähigkeit hat sich während
der letzten Jahre auf viele unterschiedliche
Arten gezeigt und findet ihren Beginn
im Caracazo von 1989, als sich Zehntausende
Menschen aus den Slums (oder „Ranchos“)
von Caracas gegen ein Strukturanpassungsprogramm
des IWF wendeten und in einem spontanen
Aufstand die Straßen eroberten.
(Wie viele Menschen bei den darauffolgenden
Repressionen getötet wurden, ist
nicht bekannt. Vermutlich handelte es
sich um mehrere Tausend.)
|
Viele
Chavez-AnhängerInnen und auch Hugo
Chavez selbst betrachten den Caracazo
als den Beginn ihrer Revolution (was wahrscheinlich
eher einen symbolischen als einen realen
Charakter hat). Die Ereignisse vom Februar
1989 zeigten jedoch deutlich den Willen
der – hauptsächlich in Städten
lebenden – armen Bevölkerung
Venezuelas, auf eigene Rechnung etwas
zu unternehmen, auch wenn die Chancen
auf einen Sieg gering sind und sie nicht
auf bereits existierende Organisationsformen
zurückgreifen können . |
Chavez,
der in den internationalen Medien regelmäßig
als „Autoritärer“ und „Putschplaner“
bezeichnet wird, hat einen Rekord an Wahlsiegen
aufgestellt. |
Auch
noch während der vergangenen sechs
Jahre, der Jahre der eigentlichen Bolivarischen
Revolution, hat sich diese Mobilisierungsfähigkeit
einige Male gezeigt, aber jetzt immer
ganz klar zur Verteidigung des einen undiskutierten
Führers, nämlich Hugo Chavez.
Das wichtigste Ereignis war hierbei sicherlich
der Aufstand vom 11. – 13. April
2002, der den von Washington unterstützten
Staatsstreich stoppte und Chavez nur 48
Stunden nachdem er gezwungen worden war,
den Präsidentenpalast zu verlassen,
im Triumph dorthin zurückbrachte.
Diese
Mobilisierungsfähigkeit hat sich
auch an den Wahlurnen gezeigt –
acht- oder neunmal in den letzten sechseinhalb
Jahren. Chavez, der in den internationalen
Medien regelmäßig als „Autoritärer“,
„Linker“, „Einheizer“
und „Putschplaner“ bezeichnet
wird, hat damit einen Rekord an Wahlsiegen
aufgestellt, der bisher von keinem anderen
bürgerlichen Demokraten der Welt
gebrochen werden konnte. Und dabei von
Wahlbetrug keine Spur. Ihren stärksten
Ausdruck fand diese Art der Mobilisierung
in dem Referendum vom letzten Jahr. Zehntausende
Menschen beteiligten sich an den Unidades
de Batalla Electoral (Organisationseinheiten,
die beim Referendum aktiven Wahlkampf
für Chavez machten) und an den Patrullas
(diese hatten die Aufgabe, sicherzustellen,
dass möglichst Viele über die
nötigen Papiere verfügten, um
am Referendum teilnehmen zu können),
die eine entscheidende Rolle bei dieser
entscheidenden Nochmal-Legitimierung des
revolutionären Prozesses spielten.
Sie ersetzten völlig die fade und
fraktionelle Kampagne, die von den Pro-Chavez
orientierten politischen Parteien, die
im Ayacucho Command zusammen kamen, initiiert
worden war.
Jedoch
waren diese beiden Mobilisierungen hauptsächlich
defensiver Natur. Sie demonstrierten,
dass eine Mehrheit des venezolanischen
Volkes bereit ist, zu kämpfen (auch
auf der Straße, wenn nötig),
um das zu verteidigen, was die Menschen
als ihre Regierung, als ihre Führung,
als ihre Revolution betrachten.
Weniger
offensichtlich und im Maßstab eingeschränkter,
aber vielleicht auf lange Sicht wichtiger,
waren die offensiveren Formen von Mobilisierung:
Teile der Bevölkerung wurden nicht
nur für die Verteidigung des Erreichten
aktiv, sondern auf ganz unterschiedliche
Weise begannen die Menschen, sich auch
für das noch nicht Erreichte einzusetzen.
Zum Beispiel bildeten die BewohnerInnen
der städtischen Elendsviertel Komitees,
die sich mit der Land-, der Gesundheits-
und der Wasserfrage auseinandersetzen
und die einige der außerhalb der
Ministerien angesiedelte Sozialprogramme
der Regierung, die sogenannten Misiones
unterstützen und „managen“.
Außerdem
gab es mehrere Versuche (die allerdings
immer wieder von den pro-Chavez eingestellten
lokalen RegierungsvertreterInnen vereitelt
wurden), lokale oder kommunale Planungsräte
einzurichten, die Investitionspläne
und den lokalen Regierungshaushalt aufstellen
und implementieren sollten.
Als
Antwort auf den Ruf der Regierung, eine
„endogene“, das heißt
integrierte, selbstversorgende Entwicklung
voranzutreiben, wurden mehr als 40.000
städtische und ländliche Kooperativen
unterschiedlichster Art gegründet,
von denen jedoch die meisten noch nicht
verwirklicht sind, sondern sich noch in
der Planungsphase befinden.
Zu
guter letzt gibt es auch einige zaghafte
und vorsichtige Versuche in einigen Fabriken
und an einigen Arbeitsplätzen, eine
Art von ArbeiterInnenkontrolle einzuführen.
Der
ehrgeizigste Versuch dieser zuletzt erwähnten
Form von Selbstorganisierung fand während
der Lahmlegung der Ölindustrie im
Jahr 2002/ 2003 statt. Hierbei bemühten
sich einige Beschäftigte des staatlichen
Ölkonzerns PDVSA (z.B. in der Raffinerie
in Puerto de la Cruz) aus der bloßen
Verteidigung dieser wirtschaftlichen Schlüsselressource
des Landes öffentliche Kontrolle
über den Konzern entstehen zu lassen.
Aber noch bevor die Krise beendet wurde,
scheiterten diese Bemühungen, und
die Debatte, die seit dem über das
genaue Timing und die Taktik solcher Maßnahmen,
die Venezuelas einzige ökonomische
Lebensader und somit auch die der Bolivarischen
Revolution betreffen, geführt wird,
ist sicher gerechtfertigt. Aber auf diesen
Versuch folgten weitere und symbolisch
sehr wichtige Versuche, die in weniger
sensiblen Bereichen stattfanden, wie z.B.
der Bankrott der Papierfabrik Venepal,
welche von der Regierung dieses Jahr enteignet
und unter der Kontrolle der ArbeiterInnen
als Invepal wieder eröffnet wurde,
oder wie z.B. die kleinere Nationale Ventil
Gesellschaft, wo sich die ArbeiterInnen
für eine ähnliche Aktion einsetzen.
Auch in viel größeren Industrien,
wie der staatlichen Aluminiumgesellschaft
Alcasa, gibt es Anfänge für
ArbeiterInnenkontrolle oder Co-Management,
wenn auch über das Ausmaß und
den genaue Charakter noch keine Klarheit
besteht.
Chavez’
Entwicklung
Die zweite große Stärke, die
sich bei dem politischen Prozess in Venezuela
beobachten lässt, sind die sich entwickelnden
Führungsqualitäten, die Chavez
und seine engsten MitarbeiterInnen zeigen.
Zwar wurde darüber schon viel geschrieben,
es gäbe aber noch viel mehr darüber
zu berichten. Hier soll dazu nur gesagt
werden, dass Hugo Chavez sowohl ideologisch
als auch in seiner Praxis sehr unterschätzt
worden war – sowohl von seiner venezolanischen
und internationalen Gegnerschaft als auch
von uns Linken. Bis zu einem gewissen
Grad kann man sagen, dass die Regierung
unter Chavez in Venezuela genau das gemacht
hat, wozu die Regierung unter Lulas PT
in Brasilien weder den Mut noch die Überzeugung
hatte – nämlich sich dem Imperialismus
entgegenzustellen und auf einen klaren
Bruch mit seinen neoliberalen Grundsätzen
hinzuarbeiten.
Ja,
es gibt bei Chavez Aspekte von linkslastigem
Populismus, militärischem Nationalismus
und von purem Pragmatismus – was
ihn lebendig macht – gepaart mit
einem Gutteil flammender Rhetorik. Aber
nichts davon trifft Chavez’ Sinn
für Taktik, seine großen pädagogischen
Fähigkeiten oder seine tiefe, radikale
Überzeugung, die bei seiner Regierungstätigkeit
immer deutlicher zu Tage treten.
Seine
Prinzipien können in vier grundlegenden
Punkten zusammengefasst werden:
•
Souveränität: Venezuela (und
auch ganz Lateinamerika) muss die völlige
Kontrolle über seine Ressourcen,
sein Territorium und seine Entscheidungsprozesse
zurückerlangen;
•
Partizipatorische Demokratie: Die einzige
Möglichkeit Armut abzuschaffen,
ist, den Armen Macht zu geben;
•
Eine neue Wirtschaft: das neue notwendige
Wirtschaftsmodell kann nicht innerhalb
des Kapitalismus verwirklicht werden;
•
Internationalismus: Es gibt keine Lösungen
rein auf der nationalen Ebene.
Während
der letzten Monate der „neuen Phase“
der Bolivarischen Revolution sprach Chavez
seine Überzeugungen immer deutlicher
aus und er zeigte immer mehr seine persönliche
Verpflichtung dem Sozialismus gegenüber.
Das gefällt sicher vielen von uns.
Man kann sich nur schwer an ein Staatsoberhaupt
erinnern, dass vor einem großen
internationalen Publikum sagte, dass wir
aus der Debatte zwischen Stalin und Trotzki
lernen sollten und dass, soweit er es
beurteilen kann, Trotzki Recht hatte.
|
Während
der letzten Monate der „neuen Phase“
der Bolivarischen Revolution zeigte Chavez
immer mehr seine persönliche Verpflichtung
dem Sozialismus gegenüber.
|
Natürlich
sollten wir uns nicht von unseren Gefühlen
hinreißen lassen. In der gleichen
Rede an späterer Stelle stimmt
Hugo Chavez fast so etwas wie einen
Lobgesang auf Putin, Chirac, Ghaddafi
oder Ayatollah Khomeini an; auch kommt
er Lula zu Hilfe, zum Beispiel als gegen
Ende des Weltsozialforums in Porto Alegre
die brasilianische Regierung vom Publikum
im Saal lautstark angegriffen wurde.
Bis zu einem gewissen Grad mag es sich
dabei um diplomatische Zugeständnisse
gehandelt haben. Es scheint sich hier
aber auch eine neue Art von „Blockdenken“
widerzuspiegeln; ein „Blockdenken“,
das die Welt unterteilt in diejenigen,
die für das Weiße Haus sind
und diejenigen, die in welchem Sinne
auch immer „dagegen“ sind.
Hier zeigen sich immer wieder Widersprüche
zwischen den von Chavez vertretenen
radikalen Prinzipien und der Wirklichkeit.
Es
bleibt jedoch die Tatsache bestehen,
dass wir seit der kubanischen Revolution
(oder vorher) keinen Führer eines
revolutionären Prozesses mehr gesehen
haben, der seine sozialistischen Überzeugungen
so deutlich zum Ausdruck bringt und
der sie anscheinend auch ernsthaft in
die Praxis umsetzen möchte.
Venezuelas
Ölreichtum hat den VenezolanerInnen
ein Vermächtnis tiefer ökonomischer
und sozialer Verzerrungen hinterlassen,
aber in Kombination mit den hohen Weltmarktpreisen
macht es einen revolutionären Prozess
möglich.
Es
gibt natürlich einen wichtigen
Faktor zum Vorteil für den in Venezuela
statt findenden Prozess, einen Vorteil,
der wenig mit der politischen Kreativität
von Chavez oder den VenezolanerInnen
zu tun hat, nämlich das Öl.
Venezuela ist nicht nur der fünftgrößte
Ölproduzent der Welt und der Hauptlieferant
allen Treibstoffs, der an der Ostküste
der Vereinigten Staaten verbraucht wird.
Es wird auch gerechnet, dass Venezuela
die größten Ölreserven
der Welt hat, wenn man das superschwere
Rohöl (super heavy crude) im Orinoco-Gürtel
dazuzählt. In der Vergangenheit
wurde dieses super heavy crude von den
Ölfirmen gar nicht als Öl
definiert, sondern als Bitumen, das
als eine Art von Kohle zählte.
(Sie konnten auf diese Weise Steuern
sparen.) Moderne Raffinerie- Technologien
machen es aber relativ einfach, dieses
super heavy crude in hochwertigen Treibstoff
zu verwandeln. Venezuelas Ölreichtum
hat den VenezolanerInnen ein Vermächtnis
tiefer ökonomischer und sozialer
Verzerrungen hinterlassen, aber in Kombination
mit den hohen Weltmarktpreisen macht
es einen revolutionären Prozess
möglich, der eine noch nie dagewesenen
Menge an ökonomischen Muskeln spielen
lassen kann.
Jedoch
können wir den in Venezuela stattfindenden
Prozess nur verstehen, wenn wir diese
Stärken in Verbindung setzen zu
den deutlichen Schwächen, die die
Bolivarische Revolution aufweist –
oder besser gesagt: zu den großen
Herausforderungen, die es zu überwinden
gilt.
Fehlende
Organisation
Die größte Herausforderung
ist wahrscheinlich die extreme Schwäche
der sozialen Bewegungen und der linken
politischen Parteien in Venezuela.
Das
Fehlen von sozialen Bewegungen scheint
paradox zu sein in einem Prozess, der
so gekennzeichnet ist von Massenmobilisierungen.
Es gibt aber nichts in Venezuela, was
sich, unabhängig von deren Organisationsproblemen
oder Perspektivenkrisen, auch nur im
Entferntesten mit der Landlosenbewegung
in Brasilien, den indigenen Bewegungen
in Ecuador oder Bolivien bzw. den Piqueteros
in Argentinien vergleichen lässt.
Die
Gründe dafür sind sehr komplex.
Ein Erklärungsansatz könnte
mit der Tatsache zusammenhängen,
dass das, was an Gewerkschaften oder
sozialen Bewegungen in Venezuela existiert
hatte, sehr stark an die Demokratische
Aktion (AD) geknüpft war. Bei der
AD handelte es sich um die höchstkorrupte,
möchtegern „sozialdemokratische“
Partei Venezuelas, die an vorderster
Front stand bei der Einführung
neoliberaler Politik in den 80er und
90er Jahren und die zum Zentrum der
Opposition der herrschenden Klasse gegen
Chavez wurde.
Aber
was auch immer die Gründe sein
mögen für das Fehlen von starken,
unabhängigen sozialen Bewegungen,
die Folgen sind weitreichend. Zum einen
führt es dazu, das Organisierungen,
die rund um Mobilisierung entstehen,
eine Tendenz zur Kurzlebigkeit haben.
Die „Bolivarischen Zirkel“
beispielsweise sind schon längst
wieder verschwunden. Ihre Energie wurde
zum Teil in die Misiones und in die
Gesundheits-, Land-, und Wasserkomitees
gesteckt. Politisch gesehen bereiteten
sie die UBEs und die Patrullas vor,
die letztes Jahr die Kampagne für
das Referendum führten. Diese wiederum
sollen sich jetzt in Unidades de Batalla
Endógena (Organisationseinheiten
zum Kampf gegen die Armut) umwandeln,
um die Entstehung von integrierten,
kooperativen Entwicklungsprojekten zu
schützen. Und als das Verhältnis
zu den USA immer angespannter wurde,
entstanden aus lokalen Gemeinschaften
und am Arbeitsplatz erste lokale Selbstverteidigungsstrukturen.
Diese verschiedenen Vorhaben mögen
völlig gerechtfertigt sein. Aber
die Instabilität der Organisationsformen
macht es sehr schwierig, aus unterschiedlichen
Sektoren heraus zu einer gemeinsamen
Plattform mit kohärenten Perspektiven
und Forderungen zu finden.
Zum
zweiten stellt sich deshalb die Frage
nach dem autonomen Charakter solcher
Massenmobilisierungen bzw. -organisationen.
Das Fehlen von starken nationalen Bewegungen
mit ihren eigenen spezifischen Forderungen
kann zu einer akuten Abhängigkeit
von Initiativen, die aus dem Zentrum
der Macht, aus dem Staatsapparat oder
gar von Chavez selbst kommen, führen.
Genau diese direkte und absolut zentrale
Beziehung zwischen der Führung
und den Massen lässt den Eindruck
entstehen, dass es sich hier um Populismus
handelt. Dieser Eindruck entspricht
sicherlich zum Teil – was die
Form betrifft, nicht den Inhalt –
der Wahrheit.
Die
einzige wirkliche Ausnahme von diesem
Phänomen ist der neue Gewerkschaftsdachverband
UNT (Unión Nacional de los Trabajadores),
der in den letzten zwei Jahren in gewisser
Weise begann, den Raum zu füllen,
den der Zusammenbruch der alten Bürokratie
der CTV (Confederación de Trabajadores
de Venezuela) hinterließ, der
seiner schmachvollen Rolle in dem missglückten
Putsch und der Lahmlegung der Ölindustrie
im Jahr 2002 folgte.
Eine
Ausnahme ist die UNT hauptsächlich
deshalb, weil sie als die einzige soziale
Bewegung bezeichnet werden kann, die
in ihren Reihen und in ihrer Leitung
eine bedeutende Strömung von autonom
organisierten RevolutionärInnen
hat – speziell die von OIR. Es
handelt sich hierbei um eine Umgruppierung
von revolutionären MarxistInnen,
die sich noch im Prozess der Formierung
befinden, von denen viele – aber
nicht alle – von der trotzkistischen
Moreno-Tradition kommen. Für die
Hauptparteien, die die Bolivarische
Revolution unterstützen, gehören
sie sicher zum schwächsten Teil.
Die kleineren Parteien (PPT, Podemos,
kommunistische Partei und UVP) mögen
einige wichtige Kader stellen, aber
als politische Parteien, als Organisatorinnen
von kollektiver politischer Aktion und
von politischen Ideen sind sie völlig
uneffektiv. Die größte Partei
der Chavistas, die MVR (Bewegung der
fünften Republik), ist nicht wirklich
eine Partei. Es hat noch nie ein Kongress
stattgefunden, es gibt kein parteiinternes
Leben, das der Rede Wert wäre,
und sie hat kein ideologisches oder
programmatisches Profil. Bei dieser
Partei handelt es sich eher um eine
Verschmelzung von Gruppen, Clans und
Interessen, von denen viele ernste Anliegen
haben mögen, von denen aber auch
ein guter Teil opportunistisch bzw.
rein auf Wahlen ausgerichtet ist.
Chavez
und sein Team sind sich der oben beschriebenen
Probleme sicherlich bewusst. Aber es
ist völlig unklar, wie es ihnen
gelingen soll, unter diesen Umständen
eine echte militante Partei aufzubauen.
Wenn es ihnen aber gelingt, dann wird
die entscheidende Frage sein, inwieweit
sie „konstruktiv kritische“
Stimmen wie OIR einbauen können.
Der
Staat
Alle diese Schwierigkeiten stehen in
Zusammenhang mit der anderen großen
Herausforderung, vor der die Bolivarische
Revolution steht: ihr Verhältnis
zum Staat. Das, was wir in Venezuela
im Moment beobachten können, ist
das Paradox einer Revolution (bzw. eines
revolutionären Prozesses), die
bisher noch nicht in der Lage war, den
entscheidenden Bruch mit dem bürgerlichen
Staatsapparat herbeizuführen.
Es
gab teilweise Brüche und neue Arrangements.
Nach der Wahl von Chavez im Jahr 1998
begann Venezuelas traditionelle Elite
die politischen Führungsposten,
von denen aus sie den Staat eine so
lange Zeit lang wie ihr Privateigentum
behandelt hatte, zu verlieren. Der Entwurf
einer neuen Verfassung durch eine verfassungsgebende
Versammlung im Jahr 2000 gab dem Spiel
einige neue Spielregeln. Die Aufstände
der Bevölkerung, die im April 2002
den Putsch niederschlugen, begleitet
von einer Revolte von jungen Offizieren
und Soldaten, brach dem offenen Widerstand
innerhalb des Staatsapparates das Rückgrat,
am besten sichtbar in den höheren
Rängen der Streitkräfte.
Zweifellos
existiert immer noch eine unterschwellige
Opposition innerhalb von Teilen der
Streitkräfte, der Polizei und des
Justizapparates. Vorfälle aus jüngster
Zeit, wie zum Beispiel der Mord an dem
Staatsanwalt Danilo Anderson oder die
Entführung des kolumbianischen
Guerrillaführers Rodrigo Granada
durch venezolanisches, in Kolumbien
eingesetztes Militär, oder die
scheinbare Lähmung bei Versuchen,
jemanden vor Gericht zu bringen, weisen
darauf hin, dass die Sache nicht so
ruhig läuft, wie es die Regierung
gern hätte.
Aber
das wirkliche Problem ist ein viel grundsätzlicheres:
Die Bolivarische Revolution versucht,
ihr Programm einer radikalen Umformung
mit der gesamten administrativen, legislativen
und judikativen Maschinerie des alten
bürgerlichen Staatsapparates und
mit einem Großteil seines Personals
zu vollziehen. Streng genommen gab es
gar keine Revolution – nur einen
revolutionären Prozess, der immer
noch im bürgerlichen Staat gefangen
ist.
Es
wäre aber falsch, darin politisches
Versagen zu sehen. Chavez und seine
Mannschaft sind sich des Problems sehr
bewusst. Ihr „neuer strategischer
Plan“ beschäftigt sich mit
der Frage, auf welchem Weg man eine
neue Ökonomie und einen neuen Staat
aufbauen kann.
Ihrer
Meinung nach wäre es beim gegenwärtigen
internationalen und regionalen Kräfteverhältnis
selbstmörderisch, einen expliziten
Bruch mit dem, was als „Legalität“
empfunden wird, zu vollziehen. Der frontale
Angriff auf privates Eigentum wäre
ein solcher Bruch, und ihr Weg scheint
vielmehr der zu sein, teilweise durch
die existierenden Institutionen hindurch
und teilweise um sie herumgehen zu wollen.
Natürlich
handelt es sich hierbei um ein Dilemma,
das weit über Venezuela hinaus
als solches empfunden wird. Die Kunst
ist es nun, den Mechanismus von Massenorganisationen
und gesellschaftlicher Beteiligung zu
finden, der in der Lage ist, eine neuartige
Legitimität für neuartige
Institutionen zu schaffen. Und dabei
befindet sich Venezuela auf einem Weg,
der uns allen die Richtung zeigen könnte.
|
Übersetzung:
Rachael |
|
|
|