Stalin
Perez Borges ist Gewerkschaftsführer und
seit langen Jahren Trotzkist. Er ist in dem
revolutionären Prozess in Venezuela engagiert.
Er ist einer der vier nationalen Koordinatoren
des neuen Dachverbands UNT. Er ist ebenfalls
Mitglied des Initiativkreises, der zur Bildung
der neuen Partei der Revolution und des Sozialismus
(PRS) aufgerufen hat.
F.
Thomas / Y. Lacoste Kannst du uns deine Einschätzung
der aktuellen Etappe des revolutionären
Prozesses in Venezuela geben?
S.
P. Borges: Der revolutionäre Prozess geht
weiter, aber die Widersprüche wirken, Korruption
und Ineffektivität untergraben diesen Prozess.
Anlässlich der kürzlichen Wahlen in
den Gemeinden und Stadtteilen gab es Zusammenstöße
zwischen der Basis der chavistischen Parteien
und den Führungen, die in bürokratischer
Weise ihre Kandidaten durchgesetzt haben. Zurzeit
sind diese Reibereien im revolutionären
Prozess mit den konservativen bürokratischen
Sektoren noch verbaler Natur. Aber wir denken,
dass sie in Zukunft viel schärfere Formen
annehmen können, vor allem wenn die Konfrontation
mit dem Imperialismus angespannter wird und
sich die revolutionäre Situation bedeutsam
zuspitzt.
Wie
sieht die Lage in den Gewerkschaften aus?
S.
P. Borges.: Mit den Krisen des Staatsstreichs
gegen Chávez im April 2002, der Blockade
der Ölproduktion durch die Bosse Ende 2002/Anfang
2003 und des offenen Verrats des alten Gewerkschaftsdachverbands
CTV haben die ArbeiterInnen die Notwendigkeit
verspürt, ihre gewerkschaftlichen Organisationen
in die eignen Hände zu nehmen. Aufgrund
dieser im ganzen Land empfundenen Lage ist der
neue Dachverband entstanden, die Nationale ArbeiterInnen
Union (UNT). Die UNT ist beträchtlich gewachsen.
In ihr ist heute die Mehrheit der Gewerkschaftsorganisationen
im Land zusammengeschlossen. Es ist zurzeit
schwer, die tatsächlichen Mitgliederzahlen
zu beziffern, aber wir schätzen, dass es
heute mehr als eine Million sind und dass die
übergroße Mehrheit der großen
Gewerkschaften der UNT angeschlossen sind. In
der Führung der UNT gibt es 4 Tendenzen.
Wir müssen den nächsten Kongress abwarten,
um zu sehen, ob der bürokratische Sektor
– eine reformistische Strömung mit
vielen korrumpierten und unfähigen Führern
– in der Mehrheit ist. Daneben gibt es
die „Bolivarische Kraft der ArbeiterInnen”,
die regierungsnahe und ebenfalls reformistisch
ist. Und dann gibt es noch die „Strömung
der [ArbeiterInnen]Klasse”. Viele ihrer
Kader sind InitiatorInnen der neu entstandenen
Partei der Revolution und des Sozialismus (PRS).
Kannst
du uns mehr über die PRS sagen?
S.
P. Borges: Die Gründung der PRS ist eine
Folge des Kampfes in der UNT. Bei den meisten
Treffen, die im Land organisiert wurden, forderte
die Mehrheit der DiskussionsteilnehmerInnen
die Bildung einer Kraft, die unabhängig
von den sich auf Chávez beziehenden Kräfte
ist, nämlich der MVR, der PPT, der Podemus,
der kommunistischen Partei und einiger anderer.
Als wir diese Notwendigkeit gesehen haben, haben
wir uns entschlossen, die PRS zu gründen.
Wir denken, dass die ArbeiterInnen in der augenblicklichen
Lage eine Organisation brauchen, die ihre Interessen
vertritt, die für die Unabhängigkeit
der ArbeiterInnenklasse eintritt und die ein
klar definiertes antiimperialistisches Projekt
verfolgt. Innerhalb unsrer Gewerkschaftsströmung
werfen uns einige dieses Projekt vor. Man muss
aber beiden Aufgaben nachgehen: dem Aufbau der
UNT als von den Parteien und der Regierung unabhängigem
Gewerkschaftsdachverband und einer politischen
ArbeiterInnenpartei. Die Diskussion des Aufbaus
der PRS wird zurzeit von fünf verschiedenen
politischen Gruppen geführt. Andere Organisationen
werden unsre politische Plattform erweitern
können und wir hoffen, dass wir Anfang
des neuen Jahres die offizielle Gründung
der PRS bekannt geben können. Wir planen
einen Gründungskongress und haben schon
eine Zeitung, Opcion socialista (Sozialistischen
Option).
Für dieses Projekt haben wir bestimmte
Veranstaltungen durchgeführt: Am 9. Juli
haben wir ein nationales Treffen mit annähernd
450 Menschen in Caracas organisiert sowie weitere
Versammlungen im ganzen Land. Weitere werden
folgen. Wir haben eine politische Plattform
ausgearbeitet, die als Diskussionsgrundlage
dienen kann.
Welchen
Unterschied gibt es zwischen der PRS und den
heute existierenden offiziellen chávistischen
Parteien?
S.
P. Borges: Die Organisationen, die an den Schaltstellen
des offiziellen Prozesses sitzen, sind reformis-tisch,
stalinistisch oder ultralinks und sie ermöglichen
es nicht, gegen den bürokratischen Charakter
des Staates zu kämpfen. Erforderlich ist
die Sicherstellung der Transformation, die das
breite Volk fordert, das eine größere
Beteiligung der Menschen wünscht. Es ist
ein Kennzeichen dieses Prozesses, dass die Bevölkerung
eine gewisse Macht beansprucht. Man kann ihr
nichts aufzwingen, weder die offiziellen Führer,
noch die Minister, noch die Bosse. Dieser Kampf
gegen die Bürokratie, gegen die Korruption
und gegen den Reformismus beginnt, bedeutsame
Ergebnisse für die Zukunft des Landes zu
zeitigen. Ein Beispiel ist die Mitwirkung, d.
h. ArbeiterInnenkontrolle und direkte Beteiligung
der ArbeiterInnen an Staatsunternehmen oder
Privatfirmen. Mitglieder der Regierung denken,
dass die Mitwirkung ein Risiko ist, weil ein
strategisches Unternehmen, wie etwa die PDVSA
[die verstaatlichte Ölgesellschaft] unter
der Kontrolle der Führer des Staates bleiben
muss.
In Wirklichkeit haben sie Angst vor der Beteiligung
der Menschen. Wir arbeiten viel an diesen Erfahrungen
der ArbeiterInnenkontrolle. „Den Menschen
die Macht geben” kann für den revolutionären
Prozess der notwendige Sprung nach vorne sein.
Chávez sagt, dass man den Menschen die
Macht geben muss. Nun besteht aber die Macht
gerade darin, die Fabrik zu kontrollieren, die
Gemeindeverwaltung zu kontrollieren und diejenigen
zu kontrollieren, die mensch gewählt hat.
Deshalb glauben wir, dass die PRS einen starken
Einfluss auf die ArbeiterInnen entwickeln kann.
Wir setzen große Hoffnungen in den Aufbau
unsrer Organisation, damit Venezuela möglichst
zügig von reinen Absichtserklärungen
zu wirklich antiimperialistischen Maßnahmen
übergehen kann.
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