Das
Erdbeben der Stärke 7,0 auf der Richterskala
war das verheerendste in der verarmten karibischen
Inselnation seit 240 Jahren. Das Epizentrum
des Bebens befand sich nur fünfzehn Kilometer
von Port-au-Prince, einer Stadt von zwei Millionen
Einwohnern, entfernt. Sein Ursprung befand
sich nahe an der Erdoberfläche. Das ist
der Grund, warum es solche enormen Schäden
verursachte.
Tausende
Gebäude fielen in sich zusammen, ob Wellblechhütten,
Schulen oder Ministerien. Der Präsidentenpalast
war genau so betroffen wie das fünfstöckige
Hotel Christoph, das der im Land stationierten
UN-Friedenstruppe als Hauptquartier dient.
Viele Einwohner hielten sich in den Gebäuden
auf. Mehreren Schätzungen zufolge sind
75 Prozent der Gebäude der Stadt nur
noch Trümmerhaufen.
"Es
gibt mehr als hunderttausend Tote", sagte
Felix Augustin, der Generalkonsul Haitis bei
den Vereinten Nationen, am Mittwoch gegenüber
Reportern.
Der
Ministerpräsident Haitis, Jean-Max Bellerive,
sagte auf CNN, es könnten "Hunderttausende
getötet worden sein".
"Weil
im Moment so viele Menschen auf den Straßen
sind, können wir nicht genau sagen, wo
sie gewohnt haben. Aber viele, viele Gebäude,
ganze Wohnviertel sind völlig zerstört.
In einigen Stadtteilen sind gar keine Menschen
mehr zu sehen", wurde Bellerive von CNN
zitiert.
Gary
Tuchman von CNN, einer der ersten amerikanischen
Reporter vor Ort, berichtete über ganze
Reihen von mit Tüchern bedeckten Leichen
entlang den Straßen und "ganze
LKW-Ladungen voller Körper".
"Es
gibt absolut keine Polizei, Feuerwehr oder
Hilfsdienste im Katastrophengebiet, während
die Suche nach Überlebenden weitergeht",
sagte er. Verzweifelte Zivilisten durchsuchten
die Trümmer mit bloßen Händen
auf der Suche nach eingeschlossenen Überlebenden.
Die
Nachrichtenagentur Reuters beschrieb die Szenerie
in Port-au-Prince folgendermaßen: "Schluchzende
und traumatisierte Menschen irrten auf den
Straßen von Port-au-Prince umher. Stimmen
waren aus den Trümmern zuhören.
‘Bitte, holt mich raus, ich sterbe.
Ich habe zwei Kinder bei mir’, rief
eine Frau einem Journalisten von Reuters aus
einem eingestürzten Kindergarten im Stadtteil
Canape-Vert der Hauptstadt entgegen."
Eine
besonders grausige Folge des Erdbebens ist
die Zerstörung aller Krankenhäuser
der Stadt. Wie Ärzte ohne Grenzen berichten,
sind alle drei Einrichtungen, in die sie normalerweise
Patienten einweisen, so schwer beschädigt,
dass sie unbenutzbar sind.
"Ohne
diese Infrastruktur können wir wenig
für die Menschen tun", sagte der
Sprecher der Gruppe in Toronto. "Bestenfalls
können wir im Moment erste Hilfe leisten
und die Patienten stabilisieren. Wir haben
es mit schweren Traumata zu tun - Kopfverletzungen,
gebrochene Gliedmaßen. Das sind ernste
Verletzungen, die wir im Moment ohne die entsprechende
Infrastruktur nicht adäquat versorgen
können."
Das
Rote Kreuz in Haiti berichtet, dass ihm die
Medikamente ausgegangen seien. Die Organisation
schätzt, dass etwa drei Millionen Haitianer
von der Tragödie betroffen sind.
Währenddessen
erschüttern Nachbeben weiterhin die Stadt
und die Umgebung.
"Experten
befürchten, dass das Schlimmste für
Haiti noch bevorstehen könnte",
berichtete die Londoner Finacial Times. "’Es
wird noch wochenlang Nachbeben geben’,
sagte David Kerridge, Chef der Abteilung für
Geologische Gefahren bei der British Geological
Society; ’Es könnte leicht zu Erdrutschen
kommen, die in abgelegenen Gegenden der Insel
möglicherweise viele Opfer kosten’."
Das
Erdbeben ist die jüngste und schwerste
einer ganzen Reihe von Naturkatastrophen,
die Haiti in letzter Zeit heimgesucht haben.
Das Land hat sich noch nicht von vier Hurrikanen
und Tropenstürmen erholt, die 2008 über
das Land hinweggefegt sind.
Diese
Naturkatastrophen kommen noch zu der Katastrophe
hinzu, die der Kapitalismus und mehr als hundert
Jahre imperialistischer Unterdrückung
in diesem ärmsten Land der westlichen
Hemisphäre angerichtet haben. All dies
verstärkt noch die Auswirkungen der Naturkatastrophen.
Haitis
Bruttoinlandsprodukt betrug 2008 sieben Mrd.
Dollar, das ist etwa ein Drittel der Summe,
die die Wall Street Investmentbank Goldman
Sachs zum Jahresende allein für Boni
ausgeschüttet hat. Den Zahlen der Weltbank
zufolge muss mehr als die Hälfte der
Bevölkerung Haitis von weniger als einem
Dollar am Tag leben, und Zweidrittel müssen
von weniger als zwei Dollar leben.
Die
Lebenserwartung von Männern beträgt
in Haiti kaum mehr als fünfzig Jahre.
Stromausfälle
waren in Haiti auch vor der Katastrophe schon
an der Tagesordnung. Der Weltgesundheitsorganisation
zufolge hat keine einzige Stadt in Haiti ein
öffentliches Abwassersystem, und die
Hälfte der Bevölkerung hat keinen
Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Jetzt
gibt es gar keine Elektrizität und kein
Telefon mehr, und die Trinkwasservorräte
gehen in vielen Gegenden zur Neige. Infektionskrankheiten
könnten viele weitere Opfer fordern.
Schon
2004 wies das Sekretariat der Vereinten Nationen,
das sich mit Katastrophenhilfe befasst, auf
diesen kumulativen Effekt von Naturkatastrophen
und sozioökonomischem Elend hin.
Die
Folgen solcher Bedrohungen sind für Haiti
viel größer, weil die Menschen
dort viel weniger geschützt sind. Schnelle
Verstädterung, fehlende Landverwaltung,
die Ausbeutung der Wälder durch die Produktion
von Holzkohle und die dadurch bedingte Waldvernichtung
machen Haiti für Schlammlawinen besonders
anfällig.
Der
Leiter des Sekretariats, Salvano Briceno,
sagte damals: "Haiti kommen viele Risiken
zusammen, und irgendwann muss es zum Ausbruch
kommen. Das Anwachsen von Risiken in Haiti
wurde in einem Ausmaß zugelassen, dass
jede Naturkatastrophe zu einem großen
Desaster führen muss."
Er
drängte internationale Hilfsorganisationen
und die Regierungen der Welt, Haiti beim Aufbau
seiner Infrastruktur zu helfen, damit es besser
auf Naturkatastrophen vorbereitet wäre,
anstatt auf Hilfe danach angewiesen zu sein.
Stattdessen
schickten die Vereinten Nationen Tausende
Soldaten unter der Führung der brasilianischen
Armee, um das verarmte Land zu besetzen und
für "Ruhe und Ordnung" zu sorgen,
nachdem die USA einen Putsch zum Sturz des
gewählten Präsidenten Jean-Bertrand
Aristide unterstützt hatten. Etwa 8.000
Haitianer wurden unter dem Putschregime getötet,
viele von rechten Milizen, die teilweise von
der CIA ausgebildet worden waren.
Das
war die letzte in einer langen Reihe von amerikanischen
Interventionen, die das Ziel verfolgten, Washingtons
Vorherrschaft in dem Land zu erhalten und
jede Bewegung der Massen zur Beseitigung der
diktatorischen sozialen und ökonomischen
Ordnung zu unterdrücken.
Amerikanisches
Militär hielt das Land von 1915 bis 1935
besetzt und wurde erst nach dem Aufbau einer
Armee abgezogen, die das politische Leben
im Land für weitere Jahrzehnte in eisernem
Griff hielt. Später unterstützte
Washington die 30-jährige Diktatur der
Duvaliers -Papa Doc und Baby Doc -, die Zehntausende
Opfer forderte.
Die
amerikanischen Medien interessieren sich nicht
für diese Geschichte. Die Armut in Haiti
wird einfach als gegebene Tatsache behandelt,
an der letztlich die Haitianer selbst Schuld
sind. (Der Fernsehprediger Pat Robertson,
Gründer der Christlichen Koalition und
Führungsfigur der Christlichen Rechten,
bot noch eine eigene Erklärung. Er vertrat
die Ansicht, dass die Haitianer sich nur von
der französischen Herrschaft befreien,
die Sklaverei abschütteln und die erste
schwarze Republik gründen konnten, weil
sie einen Pakt mit dem Teufel eingegangen
seien. Und dafür würden sie seitdem
bestraft.)
Präsident
Barack Obama gab am Mittwoch eine scheinheilige
Erklärung zur Katastrophe in Haiti ab.
"Die
Berichte und Bilder von eingestürzten
Krankenhäusern, zerstörten Wohnhäusern
und Männern und Frauen, die ihre verletzten
Nachbarn durch die Straßen tragen, sind
wirklich Herz zerreißend", sagte
er. "Für ein Land und ein Volk,
das so häufig von Härten und Leiden
heimgesucht wird, scheint diese Tragödie
besonders grausam und unbegreiflich."
Das Desaster in Haiti "erinnert uns an
unsere gemeinsame Existenz als Menschheit",
fügte er hinzu.
Um
ein solches Gefühl "gemeinsamer
Menschheit" zu entwickeln hätte,
er nicht auf ein Beben der Stärke 7 in
Port-au-Prince warten müssen. Ähnliche
Bilder hätte er in Pakistan sehen können,
wo Predator-Drohnen Häuser und Dörfer
zerstören, oder in Afghanistan und im
Jemen, wo sie von amerikanischen Bomben zerstört
werden, ganz zu schweigen von Tod und Zerstörung,
die das amerikanische Militär über
den Irak gebracht hat.
Die
US-Regierung reagiert auf die Katastrophe
in Haiti im Wesentlich auf militärische
Weise. Vor Ort trafen zuerst Schiffe der Küstenwache
ein, die normalerweise haitianische Flüchtlinge
abfangen müssen, die den schlimmen Bedingungen
in ihrem Land zu entfliehen versuchen.
Der
Küstenwache sollen der Flugzeugträger
USS Vinson und andere Kriegsschiffe folgen.
Geplant ist auch - schon wieder - die Entsendung
von amerikanischen Truppen in das Land.
Der
Chef des US-Südkommandos, General Douglas
Fraser, sagte Reportern am Mittwoch, das Militär
habe "mehrere Kräfte aus dem Umfeld
der Streitkräfte in Alarmbereitschaft
versetzt". Er fügte hinzu, dass
das Militär möglicherweise "ein
großes amphibisches Schiff mit einem
Expeditionscorps der Marine an Bord entsenden"
werde. CBS News berichtete, dieser Einsatz
werde "aus Sicherheitsgründen"
vorbereitet.
Im
ersten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts,
auf dem Höhepunkt des Imperialismus,
wies die deutsche Revolutionärin Rosa
Luxemburg auf den starken Kontrast zwischen
dem humanitären Gehabe der imperialistischen
Mächte angesichts von Naturkatastrophen
und ihrer Brutalität bei der Niederschlagung
von Widerstand gegen ihre Vorherrschaft hin.
Damals
war Mount Pelee auf der Insel Martinique ausgebrochen.
Dabei kamen 40.000 Menschen um.
Luxemburg
zählte die Massaker an Afrikanern durch
die Briten, an Filipinos durch die Amerikaner
und an Kolonialvölkern in anderen Ländern
durch alle Großmächte auf und schrieb:
"Und
nun sind sie alle auf Martinique, wieder ein
Herz und eine Seele, sie helfen, retten, trocknen
Tränen und fluchen dem unglücksäenden
Vulkan. Mont Pelée, du gutmütiger
Riese, du kannst lachen, mit Ekel kannst du
herniederschauen auf diese mildtätigen
Mörder, auf diese weinenden Raubtiere,
auf diese Bestien im Samariterkleid. Aber
es kommt ein Tag, wo ein anderer Vulkan seine
Donnerstimme erhebt, ein Vulkan, in dem es
brodelt und kocht, ob sie auch des nicht achten,
und vom Erdboden fegt die ganze scheinheilige,
blutbefleckte Kultur."