Seit
dem 1. Januar 2003 ist Luiz Inacio "Lula"
da Silva auch offiziell der Präsident Brasiliens.
Seit Anfang Herbst 2002 haben sowohl die internationalen
Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank) als auch
die bürgerlichen Sektoren, die vom ex-Präsidenten
Fernando Henrique Cardoso (F.H.C.) vertreten
werden, versucht, Mechanismen aufzustellen,
um die "Bewegungsfreiheit" der von
der emblematischen Persönlichkeit der Arbeiterpartei
(PT) Lula geleiteten neuen brasilianischen Regierung
maximal einzuschränken. Die wichtigsten
Präsidentschaftskandidaten hatten vom IWF
ein Vereinbarungsprotokoll vorgelegt bekommen
; sie haben es unterzeichnet, so auch - und
vor allem - Lula.
Zwischen
dem ersten und zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen
haben wichtige bürgerliche Sektoren einen
Annäherungsversuch zum "Regierungskern
der PT" unternommen. Da die Wahl Lulas
unvermeidbar schien, wirkte die brasilianische
Elite gemäss ihrer strategischen Tradition
auf zwei Ebenen : auf der einen Seite Erpressung
durch finanzielle Destabilisierung (Kapitalflucht
durch grosse brasilianische Spekulanten und
transnationale Konzerne, Äusserungen über
einen Zahlungsstopp bei den Schulden Brasiliens),
auf der anderen Seite Verhandlungen über
eine "Übergangsregierung", welche
die Elemente der Kontinuität mit dem wirtschaftlichen
Modell sichert, das unter den zwei Regierungsmandaten
des F.H.C. eingeführt wurde.
Die
Ernennung von Henrique de Compos Meirelles (der
erste Lateinamerikaner, der eine US-amerikanische
internationale Bank, die Bank of Boston, präsidiert
hat) an die Spitze der Zentralbank, gab den
Spekulanten genügend Sicherheiten und zeichnete
den Rahmen vor, in dem sich die zukünftige
Lula-Regierung einschreiben sollte.
Lula
und seine Minister
Am
23. Dezember 2002 gab Lula die Liste seiner
25 Minister und 8 Staatssekretäre bekannt.
Die brasilianische Presse reagierte prompt.
So machte die grosse Zeitung O Globo darauf
aufmerksam, dass zwei Minister Lulas den Präsidentschaftskandidaten
und Schützling von F.H.C., José
Serra, unterstützt hatten und nun wichtige
wirtschaftliche Sektoren vertraten.
Es
handelt sich zum Einen um Luiz Fernando Furlan,
der das Ministerium für "Entwicklung,
Industrie und Aussenhandel" erhält.
Furlan ist kein Unbekannter für das internationale
Grosskapital. Er steht an der Spitze der grössten
Exportfirma von Geflügel, Schweine und
brasilianischem Fleisch : Sadia SA. Die Sadia
besitzt 12 grosse Fabriken in Brasilien und
ist in 7 Bundesstaaten vertreten. Ausserdem
ist Furlan Mitglied des Verwaltungsrates der
Amro Bank Brasil (die grosse holländische
multinationale Bank). Er pflegt auch Verbindungen
zum Automobilherstellerverband. Er ist Vizepräsident
des brasilianischen Exportverbandes und des
Mercosur European Business Forum (MEBF). Er
ist ebenfalls Mitglied des Brazil-USA Business
Developement Council und der Direktion des Latin
American Entrepreneurs Council (CEAL auf spanisch).
Furlan
leitete eine der wichtigen Diskussionen während
der letzten Tagung des Weltwirtschaftsforums
(WEF) in Rio de Janeiro im November 2002. Ende
2001 erläuterte Furlan vor der argentinischen
Bankiersgesellschaft die Wichtigkeit einer Verstärkung
des Mercosur im Rahmen einer "vom Export
getragenen" Wirtschaft, um eine für
die lateinamerikanische Bourgeoisie (er dachte
dabei in erster Linie an die brasilianische
Bourgeoisie) günstigere Position in den
Verhandlungen mit den USA um die FTAA (die geplante
Gesamtamerikanische Freihandelszone vom Kanada
bis nach Patagonien) zu erreichen. In diesem
Zusammenhang zieht er Verbindungen mit der Europäischen
Union in Betracht.
Während
dieser Tagung des Weltwirtschaftsforums betonte
er, dass im Rahmen der FTAA und der Verhandlungen
mit der WTO der Marktzugang für brasilianische
Produkte höchste Priorität habe. Dies
ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass
die Sadia in 60 Länder exportiert und im
Jahre 2001 einen Umsatz von Rund 700 Millionen
Dollar aufwies. In einem Interview mit der brasilianischen
Zeitschrift Exame sagte Furlan : "Da der
[brasilianische] Binnenmarkt weiterhin sehr
schwach ist, ist für uns der einzige Weg
zum Wachstum der Export". Es scheint daher
ohne Zweifel, dass der Minister für "Entwicklung,
Industrie und Aussenhandel" die Interressen
der grossen nationalen und internationalen Exportländer
Brasiliens verteidigen wird. Dadurch haben wir
tatsächlich ein "Übergangsprogramm"
zwischen dem Modell von F.H.C. und dem "Furlan-Modell".
Die
Landwirtschaft und... die Landreform
An
der Seite Furlans steht der Minister für
Landwirtschaft, Roberto Rodrigues. Er ist eine
der zentralen Persönlichkeiten der Strukturen
der Landwirtschaftspolitik in Brasilien. Er
war an der Spitze beinahe aller Institutionen,
die sich um die Landwirtschaft und den landwirtschaftlichen
Export kümmerten. Zur Erinnerung kann man
festhalten : der brasilianische Agrobusinessverband
(ABAG) und die brasilianischen Landwirtschaftsgesellschaft
(SRB). Er war auch Mitglied des nationalen Währungsrats
(CMN), des nationalen Rates für Landwirtschaftspolitik,
des nationalen Rates für den Aussenhandel
(CONCEX) und des Unternehmerrates der Wettbewerbsfähigkeit
(CEC). Er war Landwirtschaftssekretär im
Staate Sao Paulo während der Regierung
von Luiz Antonio Fleury Filho, der vor allem
für seine hohe Korruption bekannt war.
Abgesehen von seinen Fähigkeiten als Professor
ist Roberto Rodrigues ein Grossgrundbesitzer
in der Region Rieirao Preto im Bundesstaat Sao
Paulo und in Maranhao. Rodrigues hat immer die
Exportorientierung der Landwirtschaft verteidigt
und ihre Bedeutung für das Herausholen
von Überschüssen in der brasilianischen
Handelsbilanz.
An
der Seite dieser Minister wurde ein Verantwortlicher
für die "Landwirtschaftliche Entwicklung"
ernannt, das heisst für die Agrarreform.
Es handelt sich um Miguel Soldatelli Rossetto,
ein Mitglied der offiziellen Linken des PT (der
Strömung Sozialistische Demokratie, DS).
Der Gewerkschaftsführer, der im Jahre 1996
zum Bundesabgeordneten gewählt wurde, fand
sich dann ab November 1998 als Vizegouverneur
des Staates Rio Grande do Sul auf der PT-Liste
wieder, an deren Spitze Olivio Dutra stand.
Dieser erhielt ebenfalls einen Ministerposten,
den des Stadtministers in der Regierung Lulas.
Ende 2002 hatte die PT die Wahlen im Staate
Rio Grande do Sul verloren, doch sah es damals
aus, dass sich einige ihrer Führer und
sicher ein Teil ihrer Abgeordneten auf bundesstaatlicher
Ebene neu einrichten könnten. Dies ist
nicht neu in der Geschichte, dass die Institutionen
an den Sohlen... der Linken kleben.
Die
gleichzeitige Ernennung von Furlan, Rodrigues
und Rossetto wird in der brasilianischen Presse
als Ausdruck der Existenz einer "pluralen
Regierung" im Brasilien Lulas bezeichnet.
Es tauchen aber dennoch schon erste Fragen auf.
Denn tatsächlich soll ja der Minister für
die "Agrarreform", Rossetto, eine
landwirtschaftliche Reform durchführen.
Um dies zu machen, scheint es logisch, dass
er sich mit den Kleinbauern und landlosen Bauern,
vertreten durch die MST (Bewegung der Landlosen),
zusammentut. Nun aber ist der Landwirtschaftsminister
Rodrigues Urheber eines Vorschlags, der unter
der Regierung von F.H.C. verabschiedet wurde
und darauf abzielt, die Agrarreform in jenen
Ländereien zu verbieten, die von LandarbeiterInnen,
die der MST angehören, besetzt werden.
Dies sollte den Minister der Agrarreform M.
Rossetto zum Nachdenken anregen... Denn ein
solches Gesetz ist eine Kriegserklärung
an alle armen brasilianischen Bauern, die zahlreicher
sind als die grossen Landbesitzer und Agrarexporteure.
Wahrscheinlich
wird die MST Druck auf Rossetto ausüben,
um Spannung zwischen dem Minister für die
Agrarreform und dem Lanwirtschaftsminister zu
erzeugen. Gleichzeitig wird sie aber ihre Autonomie
gegenüber der Regierung bekräftigen.
Was
die äusseren Angelegenheiten anbelangt,
hat Lula Celso Luiz Nunes Amorim ernannt, der
unter F. H. C. Botschafter in London war. Er
war auch UNO-Botschafter und in diesem Rahmen
Mitglied des Sicherheitsrates. Kein neues Gesicht
also. Er war Minister für auswärtige
Angelegenheiten unter der Regierung von Itamar
Franco in den Jahren 1993-1994.
Vom
Kompromiss zum Verzicht
Der
Wille zur Veränderung auf Grund des sozialen
Desasters, das durch die neoliberale Politik
des F. H. C. verursacht wurde, war der Grund
für den Wahlerfolg Lulas. In den kommenden
Monaten - nach einer Reihe von wichtigen und
konkreten Beschlüssen, über unter
anderem das Minimaleinkommen und die Agrarreform
- werden sich verschiedene Optionen aufzeigen
: wird man sich in die Richtung bedeutender
Strukturreformen (unter anderem bezüglich
der Konzentration von Reichtum, des Landbesitzes,
des Exportmodells) bewegen, oder werden die
Kompromisse mit den internationalen Finanzinstitutionen
und den grossen brasilianischen und transnationalen
privaten Gruppen die Politik Lulas kennzeichnen
?
In
diesem Rahmen stellt sich für die "PT-Linke"
folgende Frage : ist die Besetzung von "Vertrauensposten"
(Vertrauen gegenüber wem ?) in der Regierung
kompatibel mit der Beteiligung an der sozialen
Mobilisierung an vorderster Front ? Solche Mobilisierungen
sind angesichts von unvermeidlichen sozialen
Zusammenstössen die einzige Garantie dafür,
dass tatsächliche Veränderungen eingeleitet
werden und die grosse Mehrheit der brasilianischen
Bevölkerung ihre Würde erlangen kann.
Der "Regierungskern" der PT hat sich
schon für eine Richtung entschieden. Die
"PT-Linke" steht am Scheideweg und
droht... ins Schleudern zu geraten. Das ist
gefährlich, vor allem wenn man weder über
die richtigen Reifen noch über die Kontrolle
des Fahrzeugs verfügt. |