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Verändern oder verändert werden ?

Brasilien nach der Wahl Lulas

von Charles-Andé Udry aus Debatte Nr. 5, Januar 2003

 

Seit dem 1. Januar 2003 ist Luiz Inacio "Lula" da Silva auch offiziell der Präsident Brasiliens. Seit Anfang Herbst 2002 haben sowohl die internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank) als auch die bürgerlichen Sektoren, die vom ex-Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (F.H.C.) vertreten werden, versucht, Mechanismen aufzustellen, um die "Bewegungsfreiheit" der von der emblematischen Persönlichkeit der Arbeiterpartei (PT) Lula geleiteten neuen brasilianischen Regierung maximal einzuschränken. Die wichtigsten Präsidentschaftskandidaten hatten vom IWF ein Vereinbarungsprotokoll vorgelegt bekommen ; sie haben es unterzeichnet, so auch - und vor allem - Lula.

Zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen haben wichtige bürgerliche Sektoren einen Annäherungsversuch zum "Regierungskern der PT" unternommen. Da die Wahl Lulas unvermeidbar schien, wirkte die brasilianische Elite gemäss ihrer strategischen Tradition auf zwei Ebenen : auf der einen Seite Erpressung durch finanzielle Destabilisierung (Kapitalflucht durch grosse brasilianische Spekulanten und transnationale Konzerne, Äusserungen über einen Zahlungsstopp bei den Schulden Brasiliens), auf der anderen Seite Verhandlungen über eine "Übergangsregierung", welche die Elemente der Kontinuität mit dem wirtschaftlichen Modell sichert, das unter den zwei Regierungsmandaten des F.H.C. eingeführt wurde.

Die Ernennung von Henrique de Compos Meirelles (der erste Lateinamerikaner, der eine US-amerikanische internationale Bank, die Bank of Boston, präsidiert hat) an die Spitze der Zentralbank, gab den Spekulanten genügend Sicherheiten und zeichnete den Rahmen vor, in dem sich die zukünftige Lula-Regierung einschreiben sollte.

Lula und seine Minister

Am 23. Dezember 2002 gab Lula die Liste seiner 25 Minister und 8 Staatssekretäre bekannt. Die brasilianische Presse reagierte prompt. So machte die grosse Zeitung O Globo darauf aufmerksam, dass zwei Minister Lulas den Präsidentschaftskandidaten und Schützling von F.H.C., José Serra, unterstützt hatten und nun wichtige wirtschaftliche Sektoren vertraten.

Es handelt sich zum Einen um Luiz Fernando Furlan, der das Ministerium für "Entwicklung, Industrie und Aussenhandel" erhält. Furlan ist kein Unbekannter für das internationale Grosskapital. Er steht an der Spitze der grössten Exportfirma von Geflügel, Schweine und brasilianischem Fleisch : Sadia SA. Die Sadia besitzt 12 grosse Fabriken in Brasilien und ist in 7 Bundesstaaten vertreten. Ausserdem ist Furlan Mitglied des Verwaltungsrates der Amro Bank Brasil (die grosse holländische multinationale Bank). Er pflegt auch Verbindungen zum Automobilherstellerverband. Er ist Vizepräsident des brasilianischen Exportverbandes und des Mercosur European Business Forum (MEBF). Er ist ebenfalls Mitglied des Brazil-USA Business Developement Council und der Direktion des Latin American Entrepreneurs Council (CEAL auf spanisch).

Furlan leitete eine der wichtigen Diskussionen während der letzten Tagung des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Rio de Janeiro im November 2002. Ende 2001 erläuterte Furlan vor der argentinischen Bankiersgesellschaft die Wichtigkeit einer Verstärkung des Mercosur im Rahmen einer "vom Export getragenen" Wirtschaft, um eine für die lateinamerikanische Bourgeoisie (er dachte dabei in erster Linie an die brasilianische Bourgeoisie) günstigere Position in den Verhandlungen mit den USA um die FTAA (die geplante Gesamtamerikanische Freihandelszone vom Kanada bis nach Patagonien) zu erreichen. In diesem Zusammenhang zieht er Verbindungen mit der Europäischen Union in Betracht.

Während dieser Tagung des Weltwirtschaftsforums betonte er, dass im Rahmen der FTAA und der Verhandlungen mit der WTO der Marktzugang für brasilianische Produkte höchste Priorität habe. Dies ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Sadia in 60 Länder exportiert und im Jahre 2001 einen Umsatz von Rund 700 Millionen Dollar aufwies. In einem Interview mit der brasilianischen Zeitschrift Exame sagte Furlan : "Da der [brasilianische] Binnenmarkt weiterhin sehr schwach ist, ist für uns der einzige Weg zum Wachstum der Export". Es scheint daher ohne Zweifel, dass der Minister für "Entwicklung, Industrie und Aussenhandel" die Interressen der grossen nationalen und internationalen Exportländer Brasiliens verteidigen wird. Dadurch haben wir tatsächlich ein "Übergangsprogramm" zwischen dem Modell von F.H.C. und dem "Furlan-Modell".

Die Landwirtschaft und... die Landreform

An der Seite Furlans steht der Minister für Landwirtschaft, Roberto Rodrigues. Er ist eine der zentralen Persönlichkeiten der Strukturen der Landwirtschaftspolitik in Brasilien. Er war an der Spitze beinahe aller Institutionen, die sich um die Landwirtschaft und den landwirtschaftlichen Export kümmerten. Zur Erinnerung kann man festhalten : der brasilianische Agrobusinessverband (ABAG) und die brasilianischen Landwirtschaftsgesellschaft (SRB). Er war auch Mitglied des nationalen Währungsrats (CMN), des nationalen Rates für Landwirtschaftspolitik, des nationalen Rates für den Aussenhandel (CONCEX) und des Unternehmerrates der Wettbewerbsfähigkeit (CEC). Er war Landwirtschaftssekretär im Staate Sao Paulo während der Regierung von Luiz Antonio Fleury Filho, der vor allem für seine hohe Korruption bekannt war. Abgesehen von seinen Fähigkeiten als Professor ist Roberto Rodrigues ein Grossgrundbesitzer in der Region Rieirao Preto im Bundesstaat Sao Paulo und in Maranhao. Rodrigues hat immer die Exportorientierung der Landwirtschaft verteidigt und ihre Bedeutung für das Herausholen von Überschüssen in der brasilianischen Handelsbilanz.

An der Seite dieser Minister wurde ein Verantwortlicher für die "Landwirtschaftliche Entwicklung" ernannt, das heisst für die Agrarreform. Es handelt sich um Miguel Soldatelli Rossetto, ein Mitglied der offiziellen Linken des PT (der Strömung Sozialistische Demokratie, DS). Der Gewerkschaftsführer, der im Jahre 1996 zum Bundesabgeordneten gewählt wurde, fand sich dann ab November 1998 als Vizegouverneur des Staates Rio Grande do Sul auf der PT-Liste wieder, an deren Spitze Olivio Dutra stand. Dieser erhielt ebenfalls einen Ministerposten, den des Stadtministers in der Regierung Lulas. Ende 2002 hatte die PT die Wahlen im Staate Rio Grande do Sul verloren, doch sah es damals aus, dass sich einige ihrer Führer und sicher ein Teil ihrer Abgeordneten auf bundesstaatlicher Ebene neu einrichten könnten. Dies ist nicht neu in der Geschichte, dass die Institutionen an den Sohlen... der Linken kleben.

Die gleichzeitige Ernennung von Furlan, Rodrigues und Rossetto wird in der brasilianischen Presse als Ausdruck der Existenz einer "pluralen Regierung" im Brasilien Lulas bezeichnet. Es tauchen aber dennoch schon erste Fragen auf. Denn tatsächlich soll ja der Minister für die "Agrarreform", Rossetto, eine landwirtschaftliche Reform durchführen. Um dies zu machen, scheint es logisch, dass er sich mit den Kleinbauern und landlosen Bauern, vertreten durch die MST (Bewegung der Landlosen), zusammentut. Nun aber ist der Landwirtschaftsminister Rodrigues Urheber eines Vorschlags, der unter der Regierung von F.H.C. verabschiedet wurde und darauf abzielt, die Agrarreform in jenen Ländereien zu verbieten, die von LandarbeiterInnen, die der MST angehören, besetzt werden. Dies sollte den Minister der Agrarreform M. Rossetto zum Nachdenken anregen... Denn ein solches Gesetz ist eine Kriegserklärung an alle armen brasilianischen Bauern, die zahlreicher sind als die grossen Landbesitzer und Agrarexporteure.

Wahrscheinlich wird die MST Druck auf Rossetto ausüben, um Spannung zwischen dem Minister für die Agrarreform und dem Lanwirtschaftsminister zu erzeugen. Gleichzeitig wird sie aber ihre Autonomie gegenüber der Regierung bekräftigen.

Was die äusseren Angelegenheiten anbelangt, hat Lula Celso Luiz Nunes Amorim ernannt, der unter F. H. C. Botschafter in London war. Er war auch UNO-Botschafter und in diesem Rahmen Mitglied des Sicherheitsrates. Kein neues Gesicht also. Er war Minister für auswärtige Angelegenheiten unter der Regierung von Itamar Franco in den Jahren 1993-1994.

Vom Kompromiss zum Verzicht

Der Wille zur Veränderung auf Grund des sozialen Desasters, das durch die neoliberale Politik des F. H. C. verursacht wurde, war der Grund für den Wahlerfolg Lulas. In den kommenden Monaten - nach einer Reihe von wichtigen und konkreten Beschlüssen, über unter anderem das Minimaleinkommen und die Agrarreform - werden sich verschiedene Optionen aufzeigen : wird man sich in die Richtung bedeutender Strukturreformen (unter anderem bezüglich der Konzentration von Reichtum, des Landbesitzes, des Exportmodells) bewegen, oder werden die Kompromisse mit den internationalen Finanzinstitutionen und den grossen brasilianischen und transnationalen privaten Gruppen die Politik Lulas kennzeichnen ?

In diesem Rahmen stellt sich für die "PT-Linke" folgende Frage : ist die Besetzung von "Vertrauensposten" (Vertrauen gegenüber wem ?) in der Regierung kompatibel mit der Beteiligung an der sozialen Mobilisierung an vorderster Front ? Solche Mobilisierungen sind angesichts von unvermeidlichen sozialen Zusammenstössen die einzige Garantie dafür, dass tatsächliche Veränderungen eingeleitet werden und die grosse Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung ihre Würde erlangen kann. Der "Regierungskern" der PT hat sich schon für eine Richtung entschieden. Die "PT-Linke" steht am Scheideweg und droht... ins Schleudern zu geraten. Das ist gefährlich, vor allem wenn man weder über die richtigen Reifen noch über die Kontrolle des Fahrzeugs verfügt.