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Der zweite Krieg ums Gas

Die sozialen Bewegungen stürzen
Präsident Carlos Mesa

von Thierra Vermorel aus INPREKORR 406/407, September/Oktober 2005

Am 9. Juni wurde Eduardo Rodriguez Nachfolger von Carlos Mesa an der Spitze des Staates Bolivien. Zuvor gab es drei Wochen intensiver Kämpfe der Bevölkerung, die vielleicht einmal als der „zweite Krieg ums Gas“ in die Geschichte eingehen werden. Nach einem ersten Konflikt im Oktober 2003, bei dem mehr als 80 Menschen zu Tode kamen und der schließlich mit der ziemlich surrealen Flucht des Präsidenten Sanchez de Lozada in die USA endete, handelt es sich nun zweifellos um einen neuen Sieg der bolivianischen sozialen Bewegungen über die traditionellen politischen Parteien, die weiße Oligarchie von Santa Cruz, die Botschaft der Yankees und die multinationalen Konzerne, die hier ihr Süppchen kochen.

Dieser Sieg hinterlässt aber einen bitteren Beigeschmack, ein Gefühl von etwas Unvollendetem, das umso tiefer reicht, als die wichtigsten Forderungen der sozialen Bewegungen einmal mehr nicht erfüllt worden sind. Schlimmer noch, der Abschluss jener Krise durch die Ernennung von Rodriguez lässt einen die Frage stellen, wenn man sich die Möglichkeiten jener heterogenen Bewegungen als mögliche Träger einer alternativen Macht anschaut, ob diese neuerliche Revolte des Volkes für die bolivianische Linke nicht die x-te „verpasste Gelegenheit“ darstellt. Wir möchten daher auf die wichtigsten Etappen eingehen, die zur Krise geführt haben, und auf die Möglichkeiten, die sie für den Kampf gegen Neoliberalismus und Imperialismus in Bolivien eröffnet.


DIE VERSPRECHUNGEN DER REGIERUNG MESA

Die Flucht von Sanchez de Lozada im Oktober 2003 und die Ernennung seines Stellvertreters Carlos Mesa zum Staatspräsidenten machte einer unerhörten Lage Platz. Mesa war eigentlich kein „Politiker“; er war Historiker und Journalist und wurde dann „eingeladen“, für die Präsidentschaftswahlen von 2002 die von Goni 1 angeführte Liste zu vervollständigen. Er war nicht Mitglied der wichtigsten Koalitionspartei der Regierung, der Nationalrevolutionären Bewegung (MNR). Seine Entscheidung, das Präsidentenamt zu übernehmen und in seinem Diskurs mit Sanchez de Lozada zu brechen, vor allem aber seine Weigerung, gegen die sozialen Bewegungen mit Gewalt vorzugehen, führten zu seiner Isolierung von der großen Mehrheit der traditionellen Parteien, die die „Mega-Koalition“ 2 gebildet hatten und die hinfort mit den Massakern verbunden sein werden, die im Verlauf des ersten Krieges ums Gas geschahen. 3 Sein Engagement zugunsten der sozialen Bewegungen, die Verantwortung von Goni selbst und seinen Leuten für die Massaker durch Armee und Polizei zu beleuchten, machte sogar aus ihm einen Feind eines Teils dieser Leute, besonders aus der MNR. Bei seinem Regierungsantritt war Carlos Mesa ein „Präsident ohne Partei“, was zu bedeuten schien, dass er nur vorrübergehend regieren würde, da er nicht über die absolute Mehrheit verfügte, die zum Regieren nötig ist, und weil viele der Abgeordneten ihm feindlich gesonnen waren.

Diese Feindschaft war umso offensichtlicher, als Mesa in der ersten Zeit geneigt schien, die wichtigsten Forderungen der sozialen Bewegungen zu erfüllen, die als „Agenda des Oktober“ bezeichnet wurden:

Zuerst die Abhaltung eines Referendums über das Gas, wo die Bedingungen der Förderung und Kommerzialisierung an Verschleuderung von Volkseigentum grenzen. Das Gas wurde Anfang der neunziger Jahre durch die transnationalen Konzerne Petrobras (Brasilen), Repsol (Spanien), Exxon- Mobil (USA) und Total (Frankreich) entdeckt und wird zum fast ausschließlichen Nutzen dieser Konzerne vermarktet. Die Ertragsanteile (Tantiemen und Lizenzbeiträge) des bolivianischen Staates betragen nur 18 Prozent, was im Vergleich zu den Regelsätzen in den Nachbarländern geradezu lächerlich ist. Ein neues Gesetz über Brennstoffe, um die Bedingungen der Zusammenarbeit zwischen den Konzernen und dem Staat zu ändern.

Schließlich die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung, was vorher von Sanchez de Lozada abgelehnt worden war, um die Institutionen des Landes auf der Grundlage der Anerkennung der Unterschiedlichkeit der Ethnien und Kulturen von Bolivien zu reformieren, wobei der bedeutsame Platz Anerkennung finden sollte, den die eingeborene Bevölkerung (die Indios) im Lande einnimmt. Bei seinem Vorgehen fand Mesa einen gewichtigen, aber eher unerwarteten Verbündeten. Den Chef der MASIPSP 4 , Evo Morales.

 


DIE MAS-IPSP – VOM RADIKALISMUS ZUR KOLLABORATION

In der jüngsten Geschichte des Landes nimmt diese Partei einen besonderen Platz in der politischen Landschaft ein: Die MAS entwickelte sich aus der Ge-werkschaftsbewegung der Bauern, insbesondere der Kokabauern, und organisierte eine beispiellose politische Partizipation der Massen. Allein schon ihrer Herkunft wegen ist diese Partei ein Feind der Vereinigten Staaten: Während sich die politischen Diktaturen in den siebziger Jahren vor allem wegen des Ausbaus der Drogenproduktion halten konnten, kam es in den achtziger Jahren in den USA zu einer sprunghaften Zunahme des Kokainkonsums, was Washington dazu brachte, in ganz Südamerika eine Politik zu entwickeln, die massiven Druck auf die betroffenen Regierungen ausübte, gegen den Anbau von Koka vorzugehen. Angesichts dieser Strategie gelang es den Cocaleros (Kokabauern), sich gewerkschaftlich zu organisieren, vor allem dank der Bergarbeiter, die 1985 Opfer der Schließung zahlreicher Bergwerke gewesen waren, und die nun Koka anpflanzten. Es gelang dieser Bewegung, aus der Koka- Frage ein zentrales Thema der ganzen Bauern- und Indiobewegung zu machen. Weil die Linke nach und nach aus dem etablierten Parteienspektrum verschwand, fühlten sie sich ermutigt, ihre eigene politische Gruppierung zu schaffen. Sie verbanden bei der Entstehung der MAS ihre Verteidigung der Kokaproduktion mit antiimperialistischen Forderungen. Die Gegnerschaft zu einer Beherrschung des amerikanischen Kontinentes durch die USA führte die MAS auch dazu, gegen die neoliberalen Politikansätze und gegen die amerikanische Freihandelszone (ALCA) Stellung zu beziehen.

Wegen ihrer Entschlossenheit und ihrer Radikalität wurden die die MAS bildenden sozialen Bewegungen, vor allem die der Bauern und der indigenen Bevölkerung in der Region Cochabamba, zu neuen Widerstandszentren gegen die herrschenden Klassen. Dies geschah kaum zehn Jahre nach der „Enthauptung“ der traditionellen Gewerkschaftsbewegung, wie sie in der COB (bolivianische Gewerkschaftszentrale) vereinigt war, durch die besonders harte neoliberale Politik, die ihre wichtigsten Bastionen schleifte (Bergwerke, Schulwesen, Gesundheitsdienst …) Der Aufschwung der MAS am Vorabend der Wahlen, der sich in den neuen Kämpfen der Cocaleros und Bauern manifestierte, aber auch bei andern Gruppen, etwa im Krieg ums Wasser in Cachabamba 2000, führte den damaligen US-Botschafter Manuel Rocha zu der Aussage, er rate den Bolivianern dringend davon ab, „für die Feinde der Demokratie zu stimmen“. Mit 21 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichte die MAS von Evo Morales ein unvergleichliches Ergebnis und beförderte so die Angst der bolivianischen Bourgeoisie, der Staatsapparat könnte in die Hände der „Indios“ fallen.

Eigenartigerweise war dieses Ergebnis von einer radikalen politischen Wende der MAS begleitet, die nun die Aktion im Parlament dem gesellschaftlichen Widerstand vorzog. Diese Orientierung beruhte auf der Idee, Evo Morales könnte die für 2007 angesetzten Präsidentschafts-wahlen gewinnen, wenn es ihm gelänge, die Stimmen der Mittelklassen auf sich zu ziehen, die selbst wegen der Einmischung der US-Botschaft und wegen der schwierigen wirtschaft-lichen Lage (über 60 Prozent der Bevölkerung lebt heute unter der Armutsgrenze) radikaler geworden sind.


Mit der gewerkschaftlichen Organisierung der Kokabauern gelang es,
aus der Koka-Frage ein zentrales Thema der Indigenen-Bewegung zu machen.

Man kann diese Orientierung auch teilweise mit der legitimen Angst vor einem Eingreifen der USA in der Region erklären; keinesfalls rechtfertigt sie die bisweilen heftige Ablehnung einer Beteiligung an den nicht zur MAS gehörenden sozialen Bewegungen während der Mobilisierungen gegen Goni und Mesa. Diese Haltung, die bewirkt hatte, dass Evo Morales sich erst sehr spät der Bewegung vom Oktober für eine Verstaatlichung des Gases anschloss, war auch während der Amtszeit von Carlos Mesa konstant vorhanden, so dass Mesa sogar auf die Unterstützung durch die Führung der MAS zählen konnte, trotz des Unverständnisses, das diese Situation an der Basis der Partei von Evo Morales hervorrief.

 


DIE DIVERSITÄT DER SOZIALEN BEWEGUNGEN

Wenn die MAS also im Namen der Verteidigung der Demokratie Mesa eine fast bedingungslose Unterstützung zukommen ließ, so führten viele nicht mit der MAS verbundene gesellschaftliche Bereiche einen Kampf für die Verstaatlichung des Gases und der Ölvorkommen.

Unter ihnen war es die von Jaime Solares geführte COB, die sich am radikalsten in diesem Kampf engagierte. Das Wiederauftauchen der COB an vorderster Front des politischen Lebens in Bolivien im Verlauf der beiden letzten Jahre war in dem Maße eine Überraschung, als man dachte, sie habe sich noch nicht von ihrer zahlenmäßigen Schwächung im Gefolge der brutalen Reformen von 1985 erholt. Ein Element der Analyse dieses Phänomens liegt wahrscheinlich in der Übernahme der Führung durch eine neue, kämpferische Führung, die sehr stark von Interessen politischer Parteien entfernt ist, auch weil die „politische“ Linke nur noch in embryonalem Zustand vorhanden ist. 5

Ein anderer Pol jener Linken ist in El Alto aufgetaucht. Jene Stadt ist auf dem Hochplateau gelegen, das die Hauptstadt La Paz umgibt, und stellte in den vergangenen Jahren das Epizentrum der wichtigsten Mobilisierungen dar, besonders in den Konflikten ums Gas. Dort wohnt eine verarmte Bevölkerung, zu der auch MigrantInnen aus den Gebieten des Altiplano gehören, die starke Bindungen zu den ländlichen Gemeinschaften des Departements La Paz unterhalten. El Alto ist eine Art Zentrum des gesellschaftlichen Widerstandes geworden, das in der Lage ist, umso heftiger zu reagieren, als es die Hauptstadt La Paz mit ihrem Regierungszentrum zu blockieren vermag. Die wichtigsten Organisationen, die dort die Mobilisierungen strukturieren, sind die Föderation der Stadtteilkomitees (FEJUVE), die von Abel Mamani geführte wird, sowie die regionale Arbeiterzentrale (COR) von Edgar Patani, die zwar zur COB gehört, aber häufig selbständig handelt. Zu diesem Pol kann man noch die Eingeborenenbewegung Pachakuti (MIP) des Bauernführers Felipe Quispe hinzurechnen, deren Einflusszone im Hinblick auf die Bauerngewerkschaften nun allerdings auf die Region La Paz beschränkt scheint, weil die Vereinigte Gewerkschaftszentrale der Landarbeiter (CSUTCB) sich gespalten hat. 6

Schließlich stellt die Koordination zur Verteidigung von Gas und Wasser, deren Sprecher Oscar Olivera ist, einen weiteren beachtlichen Pol der sozialen Bewegungen in Bolivien dar. Diese breite und flexible Koordination, die für die Verstaatlichung des Gases eintritt, umfasst in der Region Cochabamba Bauern und Eingeborene, Gewerkschaften und Jugendorganisationen. In jener Region dominiert die MAS, aber die Koordination übt auf sie starken Druck aus und zwingt sie zu Mobilisierungen. Obwohl es in den vergangenen Jahren zu einer deutlich zunehmenden Distanz zur MAS gekommen ist, ist die Koordination auch weiterhin bereit, mit der Partei von Evo Morales einen Dialog zu führen.

Trotz der teilweise beträchtlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen diesen Organisationen gelang es ihnen, sich im Verlauf der Amtszeit von Carlos Mesa mit der Forderung nach der Verstaatlichung der Gasvorräte zu vereinigen, wobei Mesa aber die Festlegung eines Datums für ein Referendum immer wieder hinauszögerte.

 


MESA ZWISCHEN ZWEI FEUERN

Diese lange erwartete Abstimmung, die schließlich am 18. Juni 2004 stattfand, rief den Zorn der sozialen Bewegungen hervor, weil die Exekutive die Fragestellung bewusst höchst zweideutig anlegte. So wollte Mesa unbedingt jeden direkten Bezug zur Verstaatlichung des Gases vermeiden, sich aber gleichzeitig die Unterstützung von Evo Morales sichern. Die Bewegungen forderten jedoch vom Präsidenten (gegen die Meinung der MAS) die einfache Frage, ob die Gas- und Ölvorräte des Landes verstaatlicht werden sollten oder nicht. Sie mobilisierten für die Enthaltung, (deren Rate um die 50 Prozent lag), wodurch sich der scheinbare Erfolg von Mesa und Morales an den Wahlurnen relativierte.

Noch weniger erwartet wurden die Angriffe der liberalen Rechten, die die Unternehmerschaft von Santa Cruz und Tarija repräsentieren, auf das Referendum; sie waren prinzipiell gegen ein Referendum bezüglich der Ausbeutung von Bodenschätzen, die sie als ihr Eigentum ansehen. 7 Die mit der Crucena- Oligarchie verbundenen Organisationen, darunter das Bürgerkomitee Pro- Santa Cruz, starteten einen Appell zugunsten eines Referendums über regionale Autonomie. Auch wenn Mesa auf diese Forderung einging, so war das dem Bürgerkomitee nicht genug. Für sie ging es darum, eine regionale Autonomie durchzusetzen, die es der bolivianischen Bourgeoisie ermöglicht hätte, die Geschicke der Gasförderung noch vor der Wahl einer Konstituierenden Versammlung in die eigenen Hände zu bekommen. Denn wenn es dort zu einer (wahrscheinlichen) Mehrheit von Bauern und Indios käme, dann könnte diese Mehrheit das Autonomieprojekt und die Fortsetzung der liberalen Gaspolitik ablehnen. Sie könnte in dieser Region auch eine neue Agrarreform auf die Tagesordnung setzen, da sie von den beiden vorherigen Reformen nicht betroffen war. 8

Carlos Mesas Anerkennung der Notwendigkeit eines Referendums über die Autonomie war nicht geeignet, die neue Angriffsfront im Zaun zu halten, sondern legitimierte eine Forderung, die besonders von der liberalen Rechten vertreten wird und zu deren Gunsten sie auch bereit war, den Präsidenten zu opfern.

 


VOM „GAZOLINAZO“ IM FEBRUAR ZUM „ZWEITEN KRIEG UMS GAS“ IM MAI

Die Radikalität, mit der sich die Oligarchie von Santa Cruz in den Kampf um Autonomie stürzte, führte zu Mesas Isolierung zu Anfang des Jahres 2005. Seine unter dem Druck des IWF vorgenommene Entscheidung vom Februar, den Benzinpreis stark heraufzusetzen (der gazolinazo) war ein Zeichen dafür. Man brauchte nicht überrascht zu sein, dass die radikale Linke gegen eine Maßnahme kämpfte, die die wirtschaftlichen Aktivitäten einiger gesellschaftlicher Bereiche, aber auch das Leben der Mehrheit der Bevölkerung stark in Mitleidenschaft zog (betroffen waren zunächst vor allem die Bus- und die Taxifahrer). Hingegen konnte man überrascht sein, mit welcher Macht die Unternehmerorganisationen, so die CAO (Landwirtschaftskammer des Ostens), die CAINCO (Industrie- und Handelskammer Boliviens) oder die CEPB (Konföderation der bolivianischen Privatunternehmer) sich in Aktionen wie einen Hungerstreik gestürzt haben, mit dem der Rücktritt der Regierung gefordert wurde.

Obwohl die sozialen Bewegungen zusammen und gleichzeitig gegen die Benzinpreiserhöhungen protestiert haben, waren es nicht die gleichen Mobilisierungen, die im Lande stattfanden. In El Alto kämpften die DemonstrantInnen auch weiterhin für die Verstaatlichungen und lehnten die private Wasserversorgung durch Aguas del Illimani, einer Tochtergesellschaft der französischen Lyonnaise des Eaux, ab. Aber in Santa Cruz wurden diese Forderungen von Forderungen nach einer Autonomie der Departments im Osten von Bolivien begleitet.

So verlor Mesa erstmals die Unterstützung von Evo Morales, der den Präsidenten aufforderte, „zurückzutreten, wenn es ihm an Mut fehle, zu regieren“; er führte die MAS in einen „Pakt der revolutionären Einheit“, dem auch die übrigen linken Gruppen (COB, COR, FEJUVE, CSUTCB-Quispe, Koordination von Cochabamba) angehörten, wogegen er sich vorher drei Jahre lang gewehrt hatte.

Am 6. März reichte Carlos Mesa beim Kongress seinen Rücktritt ein, um die Mobilisierungen zu beenden und um das Vertrauen der Parlamentarier in ihn zu testen: Sein „Pokerspiel“ funktionierte, denn viele von ihnen, auch die der MAS, lehnten seinen Rücktritt aus Angst vor einem Staatsstreich ab. Sobald klar war, dass sich Mesa halten konnte, brach die MAS den Pakt, für den sie sich engagiert hatte. Jedoch war der neuerliche Versuch, den Carlos Mesa unternahm, um die Interessen von Santa Cruz und El Alto, oder anders gesagt, die der Unternehmer und der Klassen des einfachen Volkes miteinander zu versöhnen, nur von kurzer Dauer.

Anfang Mai entschieden zwei Ereignisse das Los des Präsidenten Mesa endgültig. Zunächst die unter viel Geschrei vorgenommene Verabschiedung des Gesetzes über die Öl- und Gasvorräte, wozu die Debatte im Parlament in der ersten Maiwoche begonnen hatte. Sogleich unternahm der mobilisierungsbereite Pol der radikalen Linken eine Kampagne von Demonstrationen, um die Verstaatlichung durchzusetzen. Das schließlich am 17. Mai 2005 verabschiedete Gesetz stieß auf den radikalen Widerstand der MAS. Auch wenn die Forderung dieser Partei nach einer Erhöhung der Besteuerung der in der Gasförderung tätigen Unternehmen auf 50 Prozent akzeptiert wurde, so sah jenes Gesetz aber einen Artikel vor, der die Förderverträge, die von den früheren Regierungen mit den transnationalen Konzernen abgeschlossen worden waren, legalisiert hätte. Aber diese Verträge waren, wie es die Verfassung verlangt, vom Parlament nie gebilligt worden und mussten somit als illegal gelten. Aus diesem Grund hätte die Annahme des neuen Gesetzes, das dem Schein nach für die Multis weniger günstig gewesen wäre als das frühere, den Konzernen alle Möglichkeiten eröffnet, Entschädigungszahlungen durchzusetzen. Genau aus diesem Grund trafen die MAS und die CSUTCB-Loayza die Entscheidung, zu einem Marsch gegen das Gesetz aufzurufen. Dieser startete am 16. Mai in Caracollo und kam am 27. Mai in La Paz an; er drückte auch die Radikalisierung der Bewegung zugunsten der Verstaatlichungen aus.

Denn es waren über 40 000 Bauern/ Bäuerinnen und Indios/Indias, die dem Aufruf der beiden Organisationen gefolgt waren. Diese Erfolg bezeugte die Mobilisierungsfähigkeiten der MAS, die aber von einigen Bergarbeitergewerkschaften in Zweifel gezogen wurden, die diesen Marsch zu stoppen versuchten, weil sie den AnhängerInnen von Morales vorwarfen, sie würden nicht wirklich für die Verstaatlichungen eintreten. Gleichzeitig radikalisierte sich die Lage im ganzen Land, besonders im Andengebiet des Westens, denn in den meisten großen Städten wie La Paz, Oruro, Potosí, Cochabamba und Sucre fanden nach einem Aufruf der Arbeiterzentralen der jeweiligen Departements (CORs) unbegrenzte Generalstreiks statt, die sich damit den AktivistInnen des El Alto anschlossen.

Diese Radikalisierungswelle hatte natürlich Auswirkungen auf die Mitglieder der MAS, die bei der Abschlusskundgebung am Ende des Marsches im Zentrum von la Paz von ihrer Führung selbst die Übernahme der Forderung nach einer Verstaatlichung der Öl- und Gasvorkommen forderten; dadurch wurde diese Führung in der Praxis zu einer einheitlichen Linie mit der übrigen bolivianischen Linken gezwungen.


Im ganzen Land fanden Mobilisierungen und Proteste zu
unterschiedlichen Anliegen statt, unter anderem für
Verstaatlichungen und gegen private Wasserversorgung.

Mit dem Umschwenken der MAS stieg der Druck weiter an und am 31. Mai kreisten die sozialen Bewegungen von La Paz und El Alto den Murillo-Platz ein, der die wichtigsten Einrichtungen der bolivianischen Republik schützt; sie erklärten, der Kongress sei illegitim. Dieser funktionierte auch nicht mehr. Denn die Parlamentarier erschraken sehr über die Mobilisierungen und wollten nicht mehr in la Paz tagen.

Das Parlament, das über die Gesetze zu den Öl- und Gasvorkommen sowieso schon gespalten war, als die gesellschaftliche Spannung einem Höhepunkt zutrieb, sollte noch eine weitere Frage entscheiden, bei der ein Konsens unmöglich schien: die Einigung auf ein Datum zur Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung und für ein Referendum über die Autonomieregelungen. Da der Kongress im Koma lag, wollte Mesa seine Handlungsfähigkeit zeigen und verkündete am 2. Juni ein Dekret, das das Datum für die beiden Abstimmungen auf den 16. Oktober 2005 festlegte.

Die gesamte Linke war jedoch der Meinung, dass die Autonomiefrage im Rahmen der künftigen Verfassunggebenden Versammlung entschieden werden müsste, da diese ansonsten keinen Daseinsgrund mehr hätte. Dadurch wurden die Ängste der Rechten aus Santa Cruz, ihre mit dem Gas verbundenen Interessen könnten Schaden erleiden, bestätigt, was zum Bruch mit dem Präsidenten führte. Nun forderten Rechte wie Linke Mesas Demission, und dieser legte am 6. Juni 2005 sein Amt nieder.


KRISE DER NACHFOLGE

Dieser Rücktritt beruhigte die Lage aber nicht, sondern stürzte das Land in Auseinandersetzungen, wodurch sich der ganze Staatsapparat bedroht sah. Nach den Vorgaben der Verfassung folgen der Senatspräsident und der Präsident der Abgeordnetenkammer als Vizepräsident dem zurückgetretenen Präsidenten nach. Doch der Senatspräsident war niemand Anderes als Hormando Vaca Diez, Mitglied des MIR und Abgeordneter der Region Santa Cruz. Für alle sozialen Bewegungen wäre ein Präsident Vaca Diez eine Provokation gewesen, denn er gehört zur „Crucena“- Oligarchie. Seine Ernennung hätte bedeutet, dass die traditionellen Parteien wieder auf die vordere Bühne zurückgekehrt wären, nachdem sie durch den ersten Krieg ums Gas ja gerade politisch von dort verdrängt worden waren. Zur wichtigsten Forderung der Verstaatlichung der Öl- und Gasvorräte trat also die Forderung nach dem Rücktritt von Vaca Diez, sowie von Mario Cossio, dem Präsidenten der Abgeordnetenkammer, sowie der Ankündigung von Neuwahlen für einen Kongress, der längst nicht mehr repräsentativ war. Bei der Ankündigung des Rücktritts von Mesa gingen in La Paz über 80 000 Menschen auf die Straße, um die Umsetzung eines „verfassungsgemäßen Staatsstreichs“, oder aber einen Militärputsch zu verhindern. Denn in der Tat wurde ein Eingreifen der Armee zur „Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung“ als möglicher Ausweg zu einer repressiven Lösung befürchtet. Da die Lage in La Paz viel zu gespannt war, beschloss der Kongress, in Sucre im Süden Boliviens zu tagen, in der verfassungsmäßigen Hauptstadt Boliviens.

Die sozialen Bewegungen beschlossen nun übereinstimmend, alles in die Wege zu leiten, um eine Ernennung von Vaca Diez zu verhindern: In weniger als zwei Tagen trafen sich über 6000 GegnerInnen dank der Bergarbeiter des COB und der Bauern und Bäuerinnen der MAS und der CSUTCB-Loayza in Sucre. Bei der Eröffnung der Parlamentssitzung am 8. Juni stiegen die Spannung und die Verwirrung auf das Äußerste. Die Armee schoss in die Menge und tötete einen Bergarbeiter, Juan Coro, womit sie einen Vorgeschmack auf den autoritären Stil eines Vaca Diez gab. Gleichzeitig breitete sich die Verfassungskrise auf das ganze Land aus: Auf Initiative des COB und der CSUTCB-Loayza gab es über 120 Blockaden – also mehr als im Oktober 2003 – , die das Land lähmten. In der Region Santa Cruz machten sich die Organisationen der Bauern und Indios daran, sieben Öl- und Gasfelder zu besetzen. In El Alto wurde auf Initiative der COB, der COR und der FEJUVE eine Volksversammlung eingerichtet, was an sich schon einen Herausforderung des Staatsapparates war. Ab dem 10. Juni wurde dieser Aufruf auch in Cochabamba von einer Koordination aufgenommen, die ähnliche Strukturen einrichtete.

Angesichts dieser Krise schien es sowohl der Oligarchie wie der Botschaft der USA günstiger zu sein, zurückzuweichen, als die Kontrolle über die Lage völlig zu verlieren. Die Erklärung des Generalstabs vom 8. Juni, laut Verfassung „sei die Ernennung von Vaca Diez legitim, aber nicht wünschenswert“, machte dessen Hoffnungen auf eine Präsidentschaft zunichte. Die Ernennung des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes, Eduardo Rodriguez, zum Präsidenten eröffnete eine Lage, ähnlich der, wie sie sich bei der Amtsübernahme von Mesa gestaltet hatte: Dieser Jurist hat weder politische Erfahrung noch gehört er einer Partei an, und er selbst erklärte, seine wichtigste Aufgabe bestehe darin, Wahlen für die Neuwahl des Kongresses anzusetzen.

Trotzdem kann man nicht ausschließen, dass eine Situation „wie bei Mesa“ zu einer Stabilisierung der politischen Lage und zu einer Entscheidung von Rodriguez führen könnten, bis 2007 im Amt zu bleiben, und dies vor allem aus zwei Gründen:

Zunächst wegen des Problems, das sich aus der Abhaltung von Neuwahlen auf institutioneller Ebene ergibt. Denn diese sind von der Verfassung für die gegebenen Umstände nicht vorgesehen; 9 man bräuchte also zu ihrer Abhaltung eine Verfassungsänderung, deren Durchführung … 2007 beendet wäre, oder aber die Abgeordneten und Senatoren, ihre Ersatzleute und alle KandidatInnen, die zu den Wahlen angetreten waren und die die zurückgetretenen Abgeordneten ersetzen könnten, müssten insgesamt zurücktreten. (Somit müssten etwa 1200 Leute, die an den Wahlen von 2002 beteiligt waren, allesamt ihren Rücktritt einreichen!) Die Lage scheint umso verworrener zu sein, als einige Parlamentarier (der MAS, aber auch der NFR) ihren Rücktritt von der Zustimmung zu einem Gesetz abhängig gemacht haben, das so schnell wie möglich die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung vorschreibt, und dies mit der Maßgabe, dass das Referendum über die Autonomieregelungen nicht vorher stattfinden darf; das Bürgerkomitee Pro-Santa Cruz möchte das Referendum jedoch unbedingt am 12. August 2005 abhalten.

Der zweite Grund liegt darin, dass Rodriguez, auch wenn er nicht aus der Welt der Politik kommt, für die bolivianische Bourgeoisie und die Botschaft der Vereinigten Staaten nun eine Vertrauensperson darstellt: Er wurde in den USA ausgebildet und galt früher als Sanchez de Lozada nahestehend, dank dessen Unterstützung er auch zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofes hatte aufsteigen können.

Und in der Tat hält Washington ein wachsames Auge auf die Entwicklungen in Bolivien. So erklärte der stellvertretende Außenminister, der mit Lateinamerika befasst ist, am 7. Juni, die MAS würde vom Präsidenten Venezuelas, Hugo Chavez höchstpersönlich finanziert. Diese immer wieder vorkommenden Provokationen zielen darauf ab, die sozialen Bewegungen in Bolivien zu diskreditieren. Sie scheinen vor allem das Ziel zu verfolgen,


Auf Druck der Linken brach auch die Rechte mit Mesa,
der am 6. Juni 2005 sein Amt niederlegte.
ein mögliches Eingreifen des Militärs mit dem Ziel, die „Ordnung des Empire“ wieder herzustellen, zu legitimieren, wenn die aus Arbeitenden, Bauern/Bäuerinnen und Indios/Indias bestehende Linke auf der Straße oder an den Urnen Erfolg haben sollte.

VERPASSTE GELEGENHEIT FÜR EINE ANTIKAPITALISTISCHE LINKE?

Für die sozialen Bewegungen in Bolivien ist der zweite Krieg ums Gas noch nicht beendet. In ihrer großen Mehrheit haben sie einen „humanitären Waffenstillstand“ erklärt, einerseits um den Familien zu ermöglichen, wieder zu Kräften zu kommen und Nahrungsmittelund Benzinvorräte anzulegen, bevor es zu neuen Mobilisierungen kommt, andererseits um dem neuen Präsidenten Zeit zu geben, ihren Forderungen Gehör zu schenken. Trotzdem ermöglicht es diese Pause im Konflikt schon jetzt, einige Lehren zu ziehen.

Wahrscheinlich war die wichtigste Errungenschaft für die COB, die Koordination von Cochabamba und die Bewegungen des El Alto, die Forderung nach einer Verstaatlichung der Öl- und Gasvorkommen glaubwürdig gemacht zu haben. Trotz des Drucks der anderen lateinamerikanischen Länder, die damit drohen, einen regionalen Energieverbund aufzubauen, von dem Bolivien dann ausgeschlossen wäre, 10 ist die Verstaatlichungsforderung nun keine Forderung bloß der radikalsten Sektoren mehr. Das Umschwenken der MAS, die ausgestreckte Hand von Chavez, der das Projekt einer solidarischen Integration (PetroSur) vorschlägt und die Aussichten auf den Export und die Industrialisierung der Gasvorkommen stellen günstige Vorzeichen für ein Projekt dar, welches zwar den transnationalen Konzernen Schrecken einjagt, aber bereits unter praktischen Vorzeichen angegangen wird. Aber ist dies nicht ein magerer Gewinn angesichts der Möglichkeiten der Bewegung? Der Ausgang der Krise mit ihrer extremen Polarisierung um die Gestalt von Hormando Vaca Diez herum scheint eigenartiger Weise die konkreten Forderungen der sozialen Bewegungen hintangeschoben zu haben. Die Gefahr, dass die Debatten um die Verstaatlichung zu ihrer Vertagung auf den Sanktnimmerleinstag führen, weil heute die Fragen und Polemiken um mögliche Neuwahlen im Vordergrund stehen, muss die sozialen Bewegungen zu größter Wachsamkeit führen.

Ein anderer Grund für Frustrationen liegt in der schwach ausgeprägten Fähigkeit der Bewegungen, der Staatsmacht eine andere, alternative Machtstruktur entgegenzustellen. So ist es bei den Versammlungen der Bevölkerung von El Alto und Cachabamba weitgehend bei beschwörenden Appellen geblieben, und es kamen nur Koordinationen der Führer der wichtigsten sozialen Bewegungen heraus, jedoch wurden keine Räte in den Stadtteilen und an den Arbeitsorten geschaffen. Oder in anderen Worten, es ging nie um Formen einen Doppelherrschaft. Wie dies am 10. Juni ein Kommuniqué der Koordination von Cachabamba festgestellt hat: „Dieses Mal haben wir die Öltürme, die Gasfelder und die Raffinerien besetzt. In Zukunft müssen wir auch in der Lage sein, sie in unserem Eigeninteresse einzusetzen.“ Trotz der Intensität und Tiefe der Krise scheint die bolivianische Linke noch wenig darauf vorbereitet zu sein, die Verantwortung für eine politische Krisenlösung durch Schaffung eines antikapitalistischen Projektes übernehmen zu können.

Deswegen ist die entscheidende Frage die Positionierung der MAS-IPSP in den kommenden Tagen. Die Partei von Evo Morales ist gegenwärtig die einzige Organisation von politischem Gewicht, die eine linke Alternative zu den vorherrschenden Parteiencliquen anbieten kann. Aber die Einheit der Linken, die für eine solche Perspektive nötig wäre, ist noch lange nicht erreicht. Morales Verlangen, unbedingt die Gelegenheit der kommenden Präsidentschaftswahlen ergreifen zu wollen, führt dazu, dass er der übrigen Linken den Rücken zudreht, die eigentlich mit den Mobilisierungen weitermachen möchte. Am Ende der Krise wird deutlich: Nachdem Mesa abgetreten war, verteidigte der Führer der Cocaleros als einzige Perspektive die Ernennung von Rodriguez und rief die sozialen Bewegungen zum Innehalten für einen friedlichen Übergang auf, was ihm von den Führers des El Alto die Bezeichnung „Verräter“ eintrug.

Doch die Krise hat auch gezeigt, dass die Mobilisierungen die Orientierung der MAS beeinflussen konnten, wie dies bei der Übernahme der Verstaatlichungsforderung im Verlauf des Mai geschehen ist. Die Krise ermöglichte auch, dass mit Roman Loayza ein neuer Führer in Erscheinung treten konnte. Seine Mobilisierungsfähigkeiten zeigen, wie sehr er zum wichtigsten Bauernführer aufgerückt ist, und dies zu Lasten seines Intimfeindes, des Chefs des MIP, Felipe Quispe. Loayza, der auch Senator ist, ist nun eindeutig zur Nummer zwei der MAS-IPSP aufgestiegen und scheint auch die Befähigung zu haben, die Führung von Morales herauszufordern. Während ein Teil der Linken, vor allem im El Alto mit Fingern auf den Führer der Cocaleros zeigt, rief Loayza die Bauern/Bäuerinnen dazu auf, für den Fall, das die Abgeordneten nicht zurücktreten würden, ihre Mobilisierungen fortzusetzen, wodurch er seine Legitimität verstärkte.

Wenn auch das Ziel der kommenden Demonstrationen die nächsten Wahlen sein werden, so könnten die Proteste doch zu einem neuen Mobilisierungszyklus führen, der sowohl die Verstaatlichung der Gasvorkommen ein weiteres Mal auf die Tagesordnung setzen, wie auch der radikalen Linken neue Möglichkeiten verschaffen würde, wobei ihr erstrangiges Ziel die Konsolidierung ihrer Einheit sein müsste. Dies wird für sie wohl die Vorbedingung sein müssen, eine politische Perspektive zu entwickeln, die ihr trotz der Erfahrungen aus den Kämpfen der vergangenen Jahre nach wie vor abgeht. Eine solche Perspektive ist umso nötiger, als die gesellschaftliche Polarisierung in Bolivien, die den Krisen der vergangenen Monate zugrunde liegt, sich keineswegs abschwächt, sondern immer schärfer zu werden scheint.

Übersetzung: Paul B. Kleiser

 

1 Goni ist einer der Spitznamen von Gonzalo Sanchez de Lozada, der wegen seines starken amerikanischen Akzentes auch El Gringo genannt wird.

2 Bei diesen Parteien handelt es sich um die MNR, um den MIR (Bewegung der revolutionären Linken) und die NFR (Neue republikanische Kraft). Auf dieser Liste der traditionellen Parteien fehlte nur die Demokratisch-Nationalistische Aktion ADN, weil ihr Kandidat bei den Wahlen 2002 so schlecht abgeschnitten hatte. Die ADN ist die historische Partei von Hugo Banzer, dem Diktator der siebziger Jahre. Er wurde Ende der neunziger Jahre nochmals zum Präsidenten gewählt, verstarb jedoch, bevor er sein Mandat 2001 zu Ende führen konnte.

3 Vgl. Inprekorr Nr. 386/387, Januar/Februar 2004.

4 Bewegung für den Sozialismus-politisches Instrument für die Souveränität der Völker. IPSP war der ursprüngliche Name der Partei, der Begriff MAS wurde im August 2001 hinzugefügt. Da das nationale Wahlgericht die Partei unter dem Namen IPSP nicht zur Wahl zulassen wollte, wurde an die Parteiführung das Ansinnen herangetragen, einfach die Abkürzung einer bestehenden, aber in Agonie liegenden Partei zu übernehmen, eben der Bewegung für den Sozialismus. Dieser Vorschlag wurde angenommen. Aber die Entscheidung führte zu einigen Kontroversen, denn die von Anez Pedrasa geführte MAS war ursprünglich aus einer Abspaltung von der bolivianischen sozialistischen Phalange (FSB) entstanden, die sich auf den Frankismus berief. Die MAS brach mit der FSB und behielt nur den Sozialismus bei, sie vollführte eine radikale Wende und verbündete sich im Rahmen der Vereinigten Linken (IU) mit der KP. Dieser Gruppierung schlossen sich zu Anfang der neunziger Jahre auch die Koka- Bauern, unter ihnen Evo Morales, die die IPSP gegründet hatten, an.

5 Nach der Spaltung der Revolutionären Arbeiterpartei (POR), der historischen trotzkistischen Organisation in Bolivien und den Fehlschlägen der verschiedenen Guerilla-Bewegungen, waren die Kommunistische Partei und die POR-Lora zu Grüppchen geworden. Der heutige wichtigste Führer der COB, Jaime Solares, beruft sich auf die Tradition der PORCombate, die bis zum 12. Weltkongress der IV. Internationale (1995) die bolivianische Sektion der Internationale war. Der Kongress hatte die starke Schwächung, ja das Verschwinden dieser Organisation festgestellt. Eine kleine Gruppe von Mitgliedern machte sich sodann an den Wiederaufbau der COB.

6 Die von Felipe Quispe seit 1998 geleitete CSUTCB hat sich auf dem Kongress von Sucre im Juni 2003 gespalten; Grund für die Spaltung waren Mitglieder der MAS. Der Kongress wurde von einer Mehrheit der Departements wegen der Nicht-Beachtung der Statuten durch die Führung einberufen, aber Quispe und die lokalen Führer von La Paz und Tarija weigerten sich, daran teilzunehmen. Daher gibt es nun zwei gewerkschaftliche Bauernverbände; einer wird von Quispe geführt und vom MIR beeinflusst, der größere wird vom Senator der MAS, Roman Loayza, geleitet.

7 Die wichtigsten Förderzentren für Erdgas befinden sich in der Region Tarija, an der Grenze zu Argentinien, während die Zentren der Probebohrungen in der Region Santa Cruz, im Osten Bolivien konzentriert sind.

8 Die beiden Agrarreformen fanden 1953 und 1983 statt.

9 Der Artikel 93 der Verfassung sieht vor, dass nur die Wahl des Präsidenten und des Vize- Präsidenten während der Wahlperiode neuerlich stattfinden können, nicht aber allgemeine Wahlen, die den Kongress in seiner Gesamtheit betreffen.

10 Ein Treffen des Mercosur Anfang Juni beschloss die Errichtung eines „regionalen Gasringes“, der im Süden Perus begingen soll, wo erhebliche neue Vorkommen entdeckt worden sind, die seit kurzem ausgebeutet werden, und der Chile, Argentinien, Paraguay und Brasilien versorgen soll, wobei Bolivien ausgelassen würde. Das erklärte Ziel einiger Länder, besonders des stark von Zulieferungen abhängigen Argentiniens, ist es, nicht in die Zwänge der „instabilen“ politischen Lage in Bolivien zu geraten.