Am
11. November 2000 präsentierte Richard
Haass in Atlanta ein Papier mit dem Titel "imperiales
Amerika". Haass war Mitglied des nationalen
Sicherheitsrats und Spezialassistent des Präsidenten
in der Amtszeit von Vater Bush. Der neue Präsident
George W. Bush hat ihn zum Direktor der politischen
Planung im Staatsdepartement ernannt. Am erwähnten
Tag liess Haass verlauten, dass die Amerikaner
"ihre Rolle neu bestimmen und vom traditionellen
Nationalstaat zur imperialen Macht übergehen"
müssten, damit es den USA gelingen könne,
ihr Ziel einer globalen Vorherrschaft zu realisieren.
Haass vermied das Wort "imperialistisch"
zur Beschreibung der Rolle Amerikas und zog
ihm "imperial" vor, weil der Begriff
des "Imperialismus" mit "Ausbeutung,
in der Regel zu Handelszwecken" verbunden
werde, sowie mit der "Kontrolle von Territorien".
Trotzdem kann es keinen Zweifel über Haass'Absichten
geben : "Sich für eine imperiale Aussenpolitik
einzusetzen heisst, voller Überzeugung
nach einer Aussenpolitik zu rufen, die darauf
abzielt, die Welt gemäss bestimmten Prinzipien
betreffend die zwischenstaatlichen Beziehungen
zu organisieren. Die Rolle der USA würde
jener Grossbritanniens im 19. Jahrhundert gleichen...
Zwang und der Einsatz von Gewalt kämen
in der Regel nur als ultima ratiozum Tragen.
Man könnte also auf die Rolle Amerikas
in diesem neuen Jahrhundert anwenden, was John
Gallagher und Ronald Robinson über die
Rolle Gross;britanniens vor 150 Jahren ge;schrie;ben
haben : Die britische Politik folgte dem Prinzip,
ihre Kontrolle wenn möglich informell auszuweiten,
und wenn nötig formell."
Die
Existenz eines amerikanischen Imperiums ist
kein Geheimnis. In den meisten Regionen der
Welt wird sie in breiten Kreisen oder sogar
allgemein anerkannt, auch wenn die Behörden
der USA traditionellerweise davon nichts zu
wissen behaupten. Doch Haass setzte sich gerade
dafür ein, dass Washington seine imperiale
Rolle vor der US-Bevölkerung und der ganzen
Welt viel offener anerkennen soll, um die imperialen
Ambitionen noch weiter zu entwickeln. "Die
grundlegende Frage, mit der sich die amerikanische
Aussenpolitik weiterhin auseinandersetzen muss,"
erklärte er im Folgenden, "lautet
: Was tun mit einem Überschuss an Macht
und mit den zahlreichen und beträchtlichen
Vorteilen, die dieser Überschuss den USA
garantiert ?" Dieser Machtüberschuss
könne nur ausgenutzt werden, wenn offen
gesagt werde, dass die USA so wie Grossbritannien
im 19. Jahrhundert imperiale Interessen haben.
Deshalb sollte die Welt darüber informiert
werden, dass Washington bereit sei, "seine
Kontrolle auszuweiten", informell wenn
möglich, formell wenn nötig, um das
sicherzustellen, was es als seine legitimen
Interessen in der Welt betrachtet. Der letzte
Abschnitt des Papiers von Haass war folgendermassen
überschrieben : "Der Imperialismus
beginnt zu Hause." Die Schluss;folgerung
: "Die grösste Gefahr, der die USA
zur Zeit entgegen treten müssen... ist,
dass sie die Chance nicht wahrnehmen, eine ihre
grundsätzlichen Interessen begünstigende
Welt entstehen zu lassen, indem sie zu wenig
dafür tun. Zwischen einem zu wenig entwickelten
(under stretched) und einem überdehnten
(over stretched) Imperium erscheint das erstgenannte
als grössere Gefahr."
Alles
deutet darauf hin, dass die von Haass entwickelten
Argumente zum imperialen Amerika im Allgemeinen
der heute in der herrschenden amerikanischen
Klasse dominanten Weltsicht entsprechen und
auch vom US-Staat geteilt werden, der den Interessen
dieser Klasse dient. Nachdem sie lange Zeit
die Existenz eines US-Imperiums verneinte, vergöttert
die vorherrschende Meinung in den USA heute
das "amerikanische Reich" mit seiner
"imperialen Armee" und seinen "imperialen
Protektoraten". Diese Veränderung
in der öffentlichen Positionierung setzte
am Ende der 90er Jahre ein, als nicht nur offensichtlich
wurde, dass die USA nach dem Untergang der Sowjetunion
die einzige Supermacht sind, sondern auch, dass
Europa und Japan auf Grund des stärkeren
Rückgangs des Wirtschaftswachstums immer
weniger in der Lage sind, die USA wirtschaftlich
herauszufordern. Ausserdem schien Europa vor
dem Hintergrund des Debakels der Bürgerkriege
in Ex-Jugoslawien selbst in seiner eigenen Einflusszone
unfähig zu sein, ohne die USA militärisch
zu intervenieren.
Seit
Washington nach dem 11. September 2001 seinen
globalen Krieg gegen den Terrorismus lanciert
hat, sind die imperialen Züge der amerikanischen
Aussenpolitik immer deutlicher hervorgetreten.
Das amerikanische Imperium wird inzwischen durch
die Experten und die führenden Medien als
eine "Bürde" dargestellt, die
auf Grund ihrer weltweiten Rolle von historisch
neuem Ausmass auf den Schultern der USA lastet.
Man spricht von den USA als dem Kopf eines Reichs
von neuer Art, das nichts mehr mit nationalen
Interessen, wirtschaftlicher Ausbeutung, Rassismus
und Kolonialismus zu tun habe, und das nur zum
Zweck der Verbreitung von Freiheit und Menschenrechten
existiere. Das behauptet zum Beispiel Michael
Ignatieff, seines Zeichens Professor für
Politik der Menschenrechte an der Kennedy School
of Government der Harvard-Universität,
in einem Artikel im New York Times Magazinevom
5. Januar 2003 : "Das amerikanische Reich
ist nicht wie die Imperien der Vergangenheit,
die auf den Kolonien, den Eroberungen und der
Bürde des weissen Mannes gründeten...
Das Reich des 21. Jahrhunderts stellt eine neue
Erfindung in den Jahrbüchern der Politikwissenschaft
dar. Es ist ein Imperium "light",
eine globale Hegemonie, die sich mit freien
Märkten, Menschenrechten und Demokratie
schmückt, deren Bestand durch die eindrücklichste
Militärmacht durchgesetzt wird, die die
Welt jemals gesehen hat." Wenn
wir solche grossartigen Diskurse bei Seite lassen,
erkennen wir, aus welchem Grund dieses "Reich
des 21. Jahrhunderts" heute für die
Menschheit eine Gefahr ersten Ranges darstellt
: Washington ist zunehmend geneigt, seine Militärmacht
ohne Ihresgleichen einzusetzen, um andere Länder
anzugreifen und zu besetzen, wenn es dies als
absolut notwendig zur Umsetzung seiner Ziele
erachtet. Doch schon vor mehr als zehn Jahren
hielt ein indischer Ökonom, Prabhat Patnaik,
fest, dass "kein Marxist jemals die Existenz
des Imperialismus davon abhängig gemacht
hat, ob es Kriege gibt ; im Gegensatz dazu wurde
die Existenz von Kriegen durch den Begriff des
Imperialismus erklärt." Nun da die
Realität des Imperialismus auf Grund solcher
Kriege wieder offen sichtbar ist, erscheint
es notwendig, auf das Verständnis seiner
tiefer liegenden Ursachen zurückzukommen.
Der
klassische Imperialismus
Eine
der einflussreichsten Darstellungen des britischen
Imperialismus im 19. Jahrhundert haben vor einem
halben Jahrhundert die Wirtschaftshistoriker
John Gallagher und Ronald Robinson in ihrem
Artikel "Der Imperialismus des Freihandels"
entwickelt.1 Haass hat sich zum Teil auf diese
Analyse gestützt, um zu Gunsten des "imperialen
Amerika" zu argumentieren. Die Hauptaussage
des Artikels von Gallagher und Robinson ist
äusserst einfach : Der Imperialismus ist
eine permanente Realität der wirtschaftlichen
Expansion in der Moderne. Jene, die den Imperialismus
in erster Linie mit Kolonien und Kolonialismus
in Verbindung bringen und deshalb den Kampf
um Afrika und die koloniale Expansion vom Ende
des 19. Jahrhunderts als Grundlage eines allgemeinen
Modells des Imperialismus verwenden, täuschen
sich. Der britische Imperialismus ist während
dem gesamten 19. Jahrhundert von seiner inneren
Logik her grundsätzlich unverändert
geblieben, auch wenn zuerst die Ausweitung des
Freihandels im Vordergrund stand, und in einer
zweiten Phase die Annexion von Kolonien.
Gallagher
und Robinson wiesen (in demselben Abschnitt,
den Haass zitierte) darauf hin, dass "die
britische Politik dem Prinzip folgte, ihre Kontrolle
wenn möglich informell auszuweiten, und
wenn nötig formell. Die eine Methode als
"anti-imperialistisch" und die andere
als "imperialistisch" zu bezeichnen
bedeutet, die Tatsache zu ignorieren, dass die
britischen Interessen unabhängig von der
Methode dauerhaft gesichert und gestärkt
wurden. Die übliche Zusammenfassung der
Freihandelspolitik im Kürzel "Handel,
nicht Autorität" müsste eigentlich
folgendermassen heissen : "Handel mit informeller
Kontrolle wenn möglich ; Handel mit Autorität
wenn nötig"... Trotz den Versuchen,
einen "billigen Imperialismus" zu
entwickeln, erzwangen die ausländischen
Herausforderungen der britischen Vorherrschaft
im tropischen Afrika (am Ende des 19. Jahrhunderts)
und das Fehlen solider und breit abgestützter
einheimischer politischer Organisationen - die
in anderen Regionen der Welt so nützlich
für die informelle Expansion waren - schliesslich
den Übergang zur formellen Autorität."
Auf
der Grundlage dieser Argumentationslinie ist
für das Verständnis des britischen
Imperialismus im 19. Jahrhundert die Aufmerksamkeit
nicht in erster Linie auf den Kolonialismus,
sondern auf den "Imperialismus des Freihandels"
zu richten. Nur wenn die wirtschaftlichen Ziele
Grossbritanniens nicht durch eine informelle
Kontrolle sichergestellt werden konnten, wurde
zur Umsetzung dieser Ziele der formelle Imperialismus
oder die Kolonisierung angewandt - das heisst
die direkte und dauerhafte politische und militärische
Kontrolle. Oft wurde gesagt, dass "der
Handel der Fahne folgt"; es wäre viel
präziser zu sagen, dass es "eine allgemeine
Tendenz des britischen Handels (gab), der unsichtbaren
Fahne des informellen Imperiums zu folgen".
Gallagher und Robinson zufolge liegt "die
besondere Eigenschaft des britischen Imperialismus
des Freihandels im 19. Jahrhundert" darin,
dass der Einsatz seiner Militärmacht und
seiner allgemeinen Hegemonie hauptsächlich
auf die Errichtung sicherer Grundlagen der wirtschaftlichen
Vorherrschaft und ihrer Ausweitung beschränkt
wurde.
Das
eindeutigste Beispiel für einen solchen
informellen Imperialismus war die Rolle Grossbritanniens
in Lateinamerika im 19. Jahrhundert. Grossbritannien
sicherte seine Kontrolle über die Region
durch verschiedene Handelsverträge und
Finanzbeziehungen ab, die sich wiederum auf
die Schlagkraft der britischen Marine stützten.
Wie sagte doch der britische Aussenminister
George Canning 1824 : "Das spanische Amerika
ist frei, und wenn wir unsere Geschäfte
nicht in Missachtung der Regeln des gesunden
Menschenverstandes verwalten, ist es englisch."
Gallagher und Robinson zufolge wurde der britische
Einfluss so ausgeübt, dass solche Regionen
in "komplementäre Wirtschaftssatelliten"
verwandelt wurden, "die Grossbritannien
mit Lebensmitteln und Rohstoffen versorgten
und den britischen Industrien wachsende Märkte
darboten". Und wenn es kein anderes Mittel
gab, um seine Herrschaft zu sichern, war Grossbritannien
immer zur aktiven und direkten Intervention
bereit - wie so oft geschehen in Lateinamerika
im 19. Jahrhundert.
Der
bekannte deutsche Historiker Wolfgang J. Mommsen
hielt in seinen Imperialismustheorien2fest,
dass mit diesem Konzept des informellen Imperialismus
eine Brücke zwischen den nicht-marxistischen
und den marxistischen Ansätzen geschlagen
wurde, weil es die historische Kontinuität
des Imperialismus als Ausdruck der wirtschaftlichen
Expansion (nicht zu verwechseln mit seinen formelleren
politisch-militärischen Ausdrucksweisen)
betont : Durch die Anerkennung zahlreicher informeller
Typen der imperialistischen Herrschaft, welche
der Errichtung einer formellen Autorität
vorangehen, diese begleiten oder sie sogar überflüssig
machen, habe sich das westliche (nicht-marxistische)
Denken zur Frage des Imperialismus der marxistischen
Theorie angenähert... Im allgemeinen sei
inzwischen die Mehrheit der nicht-marxistischen
Theoretiker bereit zu anerkennen, dass eine
Abhängigkeit imperialistischer Art sehr
wohl das Ergebnis ganz unterschiedlicher informeller,
insbesondere ökonomischer Einflüsse
sein könne. Die imperialistischen Kräfte
seien in keiner Weise dazu verdammt, in der
kolonialen Peripherie andauernd politische Macht
direkt einzusetzen. In der Regel reiche es aus
zu wissen, dass die imperialistischen Unternehmen
im Falle einer Krise auf die Unterstützung
durch die Macht der Metropole zählen könnten.
Die formelle politische Autorität sei deshalb
nur die aussergewöhnlichste, keineswegs
die normalste Form der imperialistischen Abhängigkeit.
Ironischerweise
betonten Gallagher und Robinson den Unterschied
zwischen ihrem Ansatz und dem der Klassiker
John A. Hobson (Imperialism : a study, 1902)
und Lenin (Der Imperialismus als höchstes
Stadium des Kapitalismus, 1916). In der Tat
bringen sie die Thesen von Hobson und Lenin
mit einem enger gefassten Begriff in Verbindung,
der eine formelle Kontrolle oder eine koloniale
Herrschaft voraussetzt. Insbesondere werfen
sie Lenin vor, er habe den Imperialismus mit
formeller eher als mit informeller Kontrolle
gleichgesetzt, indem er das durch den Höhepunkt
der Annexion von Kolonien geprägte letzte
Viertel des 19. Jahrhunderts als ein qualitativ
neues Stadium des Kapitalismus - das monopolitische
oder imperialistische Stadium - bezeichnet habe.
Doch
diese Kritik trifft nicht zu. In Wirklichkeit
hat Lenin selbst die Tatsache hervorgehoben,
dass der Imperialismus nicht unbedingt eine
formelle Kontrolle einschliesse, wovon insbesondere
das Beispiel des britischen Imperialismus in
Lateinamerika im 19. Jahrhundert zeuge. Im imperialistischen
Stadium gebe es nicht nur zwei Kategorien von
Ländern : die Besitzer von Kolonien und
die Kolonien, hielt Lenin fest. Er betonte die
vielfältigen Formen abhängiger Länder,
die dem Namen nach politisch unabhängig,
in Wirklichkeit aber in einem Netz von finanzieller
und diplomatischer Abhängigkeit gefangen
seien. Diese Länder nannte er Halbkolonien.
Lenin erwähnte das Beispiel Argentiniens,
das in einem solchen Ausmass finanziell von
London abhängig sei, dass es sich eigentlich
um eine Kolonie handle.3
Die
Existenz eines informellen Imperialismus des
Freihandels (oder Imperialismus ohne Kolonien)
war für die marxistische Theorie nie ein
Rätsel, da sie den Imperialismus als einen
historischen Prozess betrachtet, der mit der
kapitalistischen Expansion verbunden ist - und
sich erst in zweiter Linie durch die besonderen
politischen Formen auszeichnet, in denen er
seinen Ausdruck findet. Der Grund für die
Beschreibung des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts
als imperialistisches Stadiumim Werk von Lenin
sowie bei den meisten späteren marxistischen
Theoretikern hat nicht in erster Linie etwas
mit dem Übergang von einem informellen
zu einem formellen Imperialismus zu tun, auch
nicht mit der Realität der Annexionen,
die in der Peripherie zu jener Zeit in grossem
Ausmass realisiert wurden. Im Zentrum steht
viel mehr die Entwicklung des Kapitalismus selbst,
der ein monopolistischesStadium erreichte und
dadurch einen qualitativ neuen Typ von Imperialismus
hervorbrachte. Diese besondere historische Analyse
des Imperialismus als Ausdruck der kapitalistischen
Entwicklung in ihrer ganzen Komplexität
(Ökonomie / Politik / Militär - Zentrum
und Peripherie) verlieh der marxistischen Theorie
des Imperialismus ihre Bedeutung als schlüssiger
Ansatz zum Verständnis der grundlegendsten
Globalisierungstendenzen des Systems.
Diese
Interpretation enthält die Idee, dass der
Imperialismus seit den Anfängen zum Kapitalismus
gehört. Zahlreiche gegenwärtige Ausdrucksformen
des Kapitalismus, wie die Entwicklung des Weltmarkts,
die Teilung in Zentrum und Peripherie, der Kampf
um Kolonien und Halbkolonien, die Aneignung
des Mehrwerts, die Kontrolle über die Rohstoffe,
um sie in die Metropole fliessen zu lassen,
usw. zeichnen den Kapitalismus als globales
System seit dem Ende des 15. Jahrhunderts aus.
Der Imperialismus, verstanden im weitesten Sinn
des Wortes, wurzelt in der Akkumulationsdynamik
des Systems (die genau so grundlegend ist wie
die Jagd nach Profiten selbst), welche die im
Zentrum der kapitalistischen Weltwirtschaft
gelegenen Länder - und insbesondere die
vermögenden Interessen in diesen Ländern
- dazu antreibt, sich durch die Aneignung des
Mehrwerts und der lebensnotwendigen Ressourcen
der Peripherie zu bereichern - was Pierre Jalée
als Plünderung der Dritten Weltbezeichnete.4
Mit Hilfe von verschiedenen Zwangsinstrumenten
wurden die ärmeren Satellitenwirtschaften
- seit der Zeit der Eroberungen am Ende des
15. und im 16. Jahrhundert - so strukturiert,
dass ihre Produktions- und Verteilungssysteme
nicht in erster Linie auf ihre eigenen Bedürfnisse,
sondern auf jene der herrschenden Metropole
ausgerichtet waren. Die Anerkennung der Existenz
solcher gemeinsamer Züge des Imperialismus
in den verschiedenen Phasen der kapitalistischen
Entwicklung lässt sich aber ohne Weiteres
mit der Beobachtung vereinbaren, dass eine qualitative
Veränderung im Wesen und in der Bedeutung
des Imperialismus stattgefunden hat. Diese Veränderung
setzte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts
ein, und sie war von derart grosser Bedeutung,
dass Lenin sie mit der Vorstellung von einem
neuen Stadium des Kapitalismus in Verbindung
brachte.
Die
MarxistInnen haben also oft den älteren
Imperialismus vom so genannten "neuen Imperialismus"
unterschieden, dessen Anfänge in den letzten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts liegen. Zwei
grundlegende Tatsachen zeichneten diesen neuen
Imperialismus aus : (1) das Ende der britischen
Hegemonie und ein unerbittlicher Kampf zwischen
den entwickelten kapitalistischen Ländern
um die Kontrolle der Territorien auf weltweiter
Ebene ; (2) die zunehmende Bedeutung der - sehr
grossen, Industrie- und Finanzunternehmen miteinander
verbindenden - monopolistischen Konzerne als
vorherrschende wirtschaftliche Akteure in allen
fortgeschrittenen kapitalistischen Staaten.
Diese neuen Mammut-Unternehmen zielen ihrem
Wesen nach darauf ab, sich über die nationalen
Grenzen hinweg zu entwickeln und die Produktion
und den Konsum im globalen Massstab zu beherrschen.
Wie Harry Magdoff festhielt, ist "das Bedürfnis
zu herrschen ein integraler Bestandteil des
Geschäfts". Die monopolistischen Unternehmen
sind in diesem imperialistischen Kampf sehr
oft durch ihre eigenen Nationalstaaten unterstützt
worden. Die marxistische Theorie des neuen Imperialismus
lenkte also durch das Hervorheben des Aufstiegs
der riesigen Konglomerate die Aufmerksamkeit
auf die neuen globalen wirtschaftlichen Bedingungen,
die mit jener Realität entstanden, die
später mit dem Begriff der multinationalen
oder globalen Unternehmen bezeichnet werden
sollte. Dies wiederum bildete das Umfeld, in
dem sich ältere Phänomene - wie die
Aneignung des Mehrwerts, das Streben nach Kontrolle
über Rohstoffe und Reichtümer, die
Schaffung von Beziehungen wirtschaftlicher Abhängigkeit
in der Peripherie und der ununterbrochene Wettlauf
der rivalisierenden kapitalistischen Mächte
- in neuer und veränderter Form äussern
würden.
Es
ist dieses Verständnis des Imperialismus
als historische Realität der kapitalistischen
Entwicklung, deren Eigenschaften sich als Ausdruck
der Entwicklung des Systems selbst verändern,
das den marxistischen Ansatz am deutlichsten
von den vorherrschenden Interpretationen unterscheidet.
Letztere betrachten den Imperialismus meistens
einfach nur als eine Politik und beziehen den
Begriff vor allem auf die politische und militärische
Aktion von Staaten. Den am meisten verbreiteten
vorherrschenden Ansichten zufolge (von denen
sich realistische Wirtschaftshistoriker wie
Gallagher und Robinson unterscheiden) existiert
der Imperialismus nur bei offener politischer
und territorialer Kontrolle, der eine richtige
militärische Eroberung voraus ging. Aus
marxistischer Sicht hingegen äussert sich
der Imperialismus nicht nur durch die Politik
der Staaten, sondern auch in der Aktion der
Unternehmen und in den Mechanismen des Handels,
der Finanz und der Investitionen. Er umfasst
eine Gesamtheit von Klassenverhältnissen,
einschliesslich des Unterhalts von lokalen Kollaborateuren
oder compradores5in den abhängigen Gesellschaften.
Jede Erklärung der Funktionsweise des modernen
Imperialismus setzt also eine Beschreibung des
monopolistischen kapitalistischen Systems in
seiner Gesamtheit voraus. In dieser Hinsicht
ist die informelle Kontrolle von Ländern
in der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems
durch im Zentrum dieses Systems gelegene Länder
genau so wichtig wie die formelle Kontrolle.
Die Kämpfe um die Hegemonie und die Rivalitäten
zwischen den vorherrschenden kapitalistischen
Staaten im allgemeinen finden ohne Unterbruch
statt, doch nehmen sie je nach den verfügbaren
wirtschaftlichen, politischen und militärischen
Ressourcen unterschiedliche Formen an.
Das
imperiale Amerika in der Welt nach dem Kalten
Krieg
Besteht
aus marxistischer Sicht der wichtigste Wesenszug
des modernen Imperialismus aus der zunehmenden
Vorherrschaft der Riesenkonzerne, so hat sich
doch im Verlauf der Zeit die Machtanordnung
innerhalb des Systems, die in der jeweiligen
Position der verschiedenen Nationalstaaten ihren
Ausdruck findet, in beträchtlichem Ausmass
verändert. Das Ende des 19. und der Beginn
des 20. Jahrhunderts waren auf weltweiter Ebene
durch den Niedergang der britischen Hegemonie
und die daraus hervorgehende verschärfte
Rivalität zwischen den führenden kapitalistischen
Staaten geprägt, die zum Ersten und Zweiten
Weltkrieg führte. Die Entstehung der Sowjetunion
während dem Ersten Weltkrieg stellte eine
Herausforderung des Systems von aussen dar,
die schliesslich zum Kalten Krieg zwischen den
USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur neuen
hegemonialen Macht in der kapitalistischen Weltwirtschaft
aufgestiegen waren, und der Sowjetunion führte.
1991 liess der Zusammenbruch der Sowjetunion
die USA als alleinige Supermacht übrig.
Am Ende der 90er Jahre erlangten die USA auch
wieder die Oberhand gegenüber ihren wirtschaftlichen
Rivalen. Wie Henry Kissinger 2001 in Braucht
Amerika eine Aussenpolitik ? 6 feststellte,
besteht das Resultat von all dem zu Beginn dieses
neuen Jahrhunderts daraus, dass die USA "eine
Vorherrschaft erlangt haben, über die nicht
einmal die grössten Reiche der Vergangenheit
verfügten".
Dies
führt uns natürlich unmittelbar zur
Frage, was die USA aus ihrem enormen "Machtüberschuss"
zu tun gedenken. Washingtons Antwort liegt insbesondere
seit dem 11. September in der Verfolgung seiner
imperialen Ambitionen durch eine Vielzahl neuer
Interventionen in der weltweiten Peripherie
in einem seit dem Vietnamkrieg unbekannten Ausmass.
Mit seinem imperialen Krieg gegen den Terrorismus
befindet sich der US-Staat gänzlich im
Einklang mit den Expansionsplänen der US-amerikanischen
Geschäftswelt. Ende Januar 2003 stellte
Business Weekdie aus einer US-Invasion des Irak
resultierenden wirtschaftlichen Vorteile wie
folgt dar : "Weil die US-Armee während
einer gewissen Zeit die irakischen Öl-
und Gasvorkommen (es handelt sich nach den saudi-arabischen
um die zweitgrössten bekannten Reserven
der Welt) kontrollieren wird, dürften die
US-Konzerne sich einen guten Teil dieses Geschäfts
unter den Nagel reissen. Sie könnten auch
Bohrrechte erwerben." Die Dienstleistungsunternehmen
der Erdölbranche, unter denen die US-amerikanischen
führend sind, könnten sich "genau
so siegreich fühlen wie die US-Spezialtruppen".
Das grundlegende Ziel solcher militärischer
Interventionen liegt in Wirklichkeit in einem
Regimewechsel und der darauf folgenden Restrukturierung
der Wirtschaft des "Schurkenstaates"
(der so genannt wird, weil er sich ausserhalb
der im Wesentlichen durch die USA definierten
imperialen Ordnung bewegt), um sie den vorherrschenden
Interessen der kapitalistischen Weltwirtschaft
anzupassen. Dabei geht es auch darum, dessen
Ressourcen einer intensiveren Ausbeutung zugänglich
zu machen.
Richard
Haass, dessen Verantwortungsbereich in der heutigen
Administration auf die Rolle des amerikanischen
Koordinators für die Zukunft Afghanistans
ausgeweitet wurde, betont in seinem Buch Intervention7,
dass ein Regimewechsel oft nur mit einer militärischen
Invasion im Grossmassstab umgesetzt werden kann,
wobei das eroberte Land in Ruinen zurück
bleibt. Daraus ergibt sich dann die Notwendigkeit,
sich zu Gunsten einer Politik des nation-building
(Nationenbildung) zu engagieren : "Es ist
schwierig, Einzelpersonen mit militärischen
Mitteln zu treffen... Die Versuche der USA,
einen Wechsel der politischen Führung mit
Gewalt zu erzwingen, sind in Fällen wie
Gaddhafi in Lybien, Saddam im Irak und Aideed
in Somalia gescheitert. Gewalt kann ein Umfeld
schaffen, in dem die Wahrscheinlichkeit eines
politischen Wechsels steigt. Aber ohne aussergewöhnliche
nachrichtendienstliche Informationen und eine
gehörige Portion Glück hat Gewalt
für sich allein genommen wenig Aussichten
auf Erfolg in Sachen politischer Veränderung.
Die Wahrscheinlichkeit solcher Veränderungen
lässt sich nur durch sich sehr stark einmischende
Interventionen erhöhen, wie das nation-building,
das in einem ersten Schritt die Eliminierung
jeglicher Opposition einschliesst, um sich dann
dauerhaft in einer Besetzung zu engagieren,
welche die Fabrikation einer anderen Gesellschaft
ermöglicht."
Haass
unterstreicht, dass eine solche Besetzung zum
Zweck der "Bildung einer Nation" (nation-building)
es erfordert, "jeden lokalen Widerstand
zu bekämpfen und zu entwaffnen und eine
politische Autorität zu errichten, die
über das Monopol oder ein quasi-Monopol
der legitimen Anwendung von Gewalt verfügt"
(in Anlehnung an die berühmte Definition
des Staates durch Max Weber - hier jedoch umgesetzt
durch eine Invasionsmacht). Haass zitiert einen
Beobachter der Aussenpolitik und fügt an,
dies verlange eine Besetzung "von imperialem
Ausmass und vielleicht unbeschränkter Dauer".
Genau
diese Art von Invasion mit "imperialem
Ausmass" und ungewisser Dauer scheint zur
Zeit ganz oben auf der Tagesordnung von Washingtons
Krieg gegen den Terrorismus zu stehen. Im Rahmen
der Besetzungen und des nation-buildingnach
militärischen Invasionen (wie im Falle
Afghanistans) wird keine offene Form des Kolonialismus
im dreisten Stil des 19. Jahrhunderts zur Anwendung
kommen. Es wird keine formelle Annexion geben,
und letztlich wird ein Schein von lokaler Autorität
gleich zu Beginn errichtet werden, auch ohne
die militärische Besetzung zu beenden.
Doch ein wesentliches Ziel, das in früheren
Zeiten durch den Kolonialismus in seiner klassischen
Form erreicht wurde, wird auch in Zukunft angestrebt
werden müssen. Wie Magdoff erklärte,
war "der Kolonialismus als direkter Einsatz
militärischer und politischer Gewalt von
grundlegender Bedeutung für die Reorganisation
der sozialen und ökonomischen Institutionen
zahlreicher abhängiger Länder zum
Zweck ihrer Anpassung an die Bedürfnisse
der Metropolen. Ist dieses Werk einmal vollbracht,
so reichen die wirtschaftlichen Kräfte
- die internationalen Preise, die Handels- und
Finanzsysteme - in der Regel aus, um das Herrschafts-
und Ausbeutungsverhältnis zwischen Metropole
und Kolonie zu erhalten oder sogar zu verschärfen.
Vor diesem Hintergrund ist es dann möglich,
der Kolonie die formelle politische Unabhängigkeit
zuzugestehen, ohne etwas Wesentliches zu ändern
und allzu sehr mit den Interessen zu kollidieren,
welche zur Eroberung der Kolonie geführt
haben."
Ein
solcher Prozess läuft zur Zeit in Afghanistan
ab und wird nun auch im Irak ins Auge gefasst.
Ist ein Land erst einmal vollständig entwaffnet
und den Bedürfnissen der Zentrumsländer
der kapitalistischen Welt entsprechend umgeformt,
ist die Aufgabe des nation-buildingvollbracht
und neigt sich die Besetzung wahrscheinlich
ihrem Ende zu. Doch in Regionen, die reich an
vitalen Ressourcen wie Erdöl sind (oder
denen strategische Bedeutung für den Zugang
zu solchen Ressourcen zugemessen wird), könnte
der Übergang vom formellen zum informellen
Imperialismus nach einer Invasion langsamer
vonstatten gehen - oder nur in sehr begrenztem
Ausmass stattfinden. Die "informelle Kontrolle"
bzw. der globale Akkumulationsmechanismus, der
systematisch die Zentrumsnationen begünstigt,
ist das normale Instrument der imperialistischen
Ausbeutung in der Peripherie. Doch in manchen
Fällen sind aussergewöhnliche Massnahmen
notwendig, um widerspenstige Staaten zurück
auf den rechten Weg des Marktes und der internationalen
Machthierarchie zu bringen, an deren Spitze
die USA stehen.
Heute
sticht der amerikanische Imperialismus aussergewöhnlich
stark ins Auge, weil er direkt mit einem Krieg
verbunden ist und sich auf eine endlose Reihe
weiterer Kriege zu bewegt, die grundsätzlich
denselben Zielen dienen werden. Doch wenn wir
die tiefer liegenden Kräfte verstehen wollen,
die am Werk sind, dürfen wir uns durch
diesen verschärften Militarismus und seine
Aggressionen nicht von der inneren Logik des
Imperialismus ablenken lassen, die sich am sichtbarsten
im tiefer werdenden Graben zwischen dem Einkommen
und dem Reichtum der reichen und der armen Länder
äussert, sowie im Nettotransfer von wirtschaftlichem
Mehrwert von der Peripherie ins Zentrum, auf
dem dieser Graben beruht. Die zunehmende Polarisierung
von Reichtum und Armut zwischen den Nationen
(eine Polarisierung, die auch innerhalb der
Nationen existiert) ist der grösste Erfolg
des Systems auf globaler Ebene. Um diese Polarisierung
geht es letztlich auch beim Kampf gegen den
modernen Imperialismus. Wie Magdoff in Imperialismus
ohne Kolonienerklärt, gibt es im Kapitalismus
eine grundsätzlich Einheit der wirtschaftlichen,
politischen und militärischen Herrschaft.
Wer gegen die Folgen des Imperialismus kämpfen
will, muss anerkennen, dass es unmöglich
ist, eine dieser Dimensionen der Herrschaft
herauszufordern, ohne zugleich alle anderen
in Frage zu stellen - das heisst also : ohne
das System insgesamt in Frage zu stellen.
*
John Bellamy Foster zählt zu den Herausgebern
der Monthly Reviewund ist Autor des Buches Marx's
Ecology. Materialism and nature(Monthly Review
Press, 2000). Der vorliegende Text ist eine
leicht abgeänderte Fassung seiner Einleitung
zur Publikation einer Artikelserie von Harry
Magdoff unter dem Titel Imperialism without
colonies(Monthly Review Press, 2003) zum Gedenken
an dessen 90. Geburtstag. Harry Magdoff war
mit Paul M. Sweezy lange Zeit einer der wichtigsten
Animatoren der Monthly Review. Er hat u.a. folgende
Werke publiziert : Imperialism : from the colonial
age to the present(1978) und zusammen mit Paul
M. Sweezy : The deepening crisis of U.S. capitalism(1981).
1.
J. Gallagher, R.E. Robinson : "The Imperialism
of Free Trade", Economic History Review,
2. Reihe, VI, 1953.
2.
Wolfgang J. Mommsen : Imperialismustheorien
: ein Überblick über die neueren Imperialismustheorien,
Göttingen, 1977.
3.
W. I. Lenin : Der Imperialismus als höchstes
Stadium des Kapitalismus, 1946, S. 72.
4.
Pierre Jalée : Le pillage du Tiers Monde,
F. Maspero, Cahiers libres, 1965 (neue Auflage
mit Nachwort 1982).
5.
Comprador : Käufer auf spanisch. In der
marxistischen Literatur wird der Ausdruck der
"Comprador-Bourgeoisie" zur Beschreibung
der herrschenden Klassen der kolonialen oder
halbkolonialen Länder verwendet, deren
Interessen eng mit jenen der herrschenden Klassen
der imperialistischen Länder verknüpft
sind und die sich von der kapitalistischen Produktion
in der Landwirtschaft und - mehr noch - in der
Industrie zu Gunsten des Kaufs von Ländereien
und Immobilien, des Handels und des Wuchers
(Finanzgeschäfte) abwenden. Dadurch tragen
sie zur Fortdauer der Unterentwicklung ihres
Landes bei und weisen grundlegend parasitäre
Züge auf.
6.
Henry Kissinger : Does America need a foreign
policy ? Toward a diplomacy for the 21st century,
New York, 2001 (Tonbandaufnahmen).
7.
Richard N. Haass : Inter;ven;tion : The use
of American military force in the Post-Cold
War World, Washington DC, Brookings, 1999.
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