Nach über sieben Wochen Streik
und einer mit der Regierung geschlossenen
Vereinbarung ist es für einen
großen Teil der Studentenbewegung
in Quebec an der Zeit, Bilanz zu
ziehen. Der Streik, der am 24. Februar
von den Studentenverbänden,
die Mitglied bei CASSEE 1
sind, begonnen worden war, wurde
nach einer zunehmenden Radikalisierung
der Jugend in Quebec und einigen
Rückziehern der Regierung beendet.
Seit ihrer Regierungsübernahme
am 14. April 2003 hat die Regierung
Jean Charest 2
versucht, die Steuern zu senken,
damit die Steuersätze mit denen
in den USA und im englischsprachigen
Kanada vergleichbar würden.
Diese Obsession für Steuersenkungen
erfreute den Arbeitgeberverband
von Quebec, konnte aber nur durch
Mittelkürzungen bei einigen
Ministerien gegenfinanziert werden.
Auch das Erziehungsministerium entging
der Logik der Mittelkürzungen
nicht. Um im Erziehungswesen zu
sparen, beschloss die Regierung
eine Reform der finanziellen Hilfen
für die Studenten (AFE), die
unter anderem eine Kürzung
des Etats für die Stipendien
um 103 Mio. kanadische Dollar 3
pro Jahr, eine Anbindung der Schuldenhöhe
der StudentInnen an ihre Leistungen,
ein Programm der späteren Rückzahlung
der Stipendien gemäß
den Einkünften und eine langfristige
Streichung von Stipendien vorsah.
Außerdem sollte das Netz von
Colleges 4
(eine Art Fachhochschule, [d.Übers.])
an die Privatwirtschaft angebunden
und dezentralisiert werden.
Mehr als sieben Wochen streikten
die StudentInnen in Quebec.
Alle diese Reformen ließen
den Zorn der ASSE 5
anwachsen. Von Seiten der FEUQ und
der FECQ 6
wurden die studentischen Forderungen
eher gebündelt und in einer
einzigen defensiven Teilforderung
eingebracht: Rücknahme der
Regierungsmaßnahme der Umwandlung
der Stipendien in Darlehen, was
der Regierung die Einsparung von
103 Mio. $ ermöglicht hätte.
So wurden ab Herbst von den drei
studentischen Gruppierungen die
Strategien ausgearbeitet, die das
Ziel hatten, die Regierung zum Nachgeben
zu zwingen. Während FEUQ und
FECQ ihre Mitglieder vorbereiteten,
die 103 Mio. $ zu verteidigen, entwickelte
ASSE eine breite politische Strategie,
die auch zu einer Diskussion über
das Gesellschaftsmodell führen
sollte. Eine wichtige Etappe auf
dem Weg zum Streik wurde im Januar
erreicht, als ASSE und unabhängige
Studentenverbände die CASSEE
gründeten. Dies war ein qualitativer
Sprung, der der neuen Koalition
ermöglichte, die Mitgliederzahl
zu verdoppeln. Ursprünglich
wollte CASSEE nur eine vorübergehende
Struktur um ASSE herum sein, um
eine demokratische Koordination
des Streiks zu ermöglichen.
Aber CASSEE brachte die Diskussion
qualitativ voran, indem es eine
Plattform mit drei Punkten vorschlug:
• Völlige Rücknahme
der AFE-Reform (und nicht nur der
Budget- Kürzung um 103 Mio.
$);
• Stopp jedes Dezentralisierungsprojektes
oder der Anbindung des Netzes der
Colleges an den Markt;
• Ziel wurde die Erreichung
des kostenlosen Schulbesuchs und
die Abschaffung der Verschuldung
der StudentInnen.
Dank dieser Plattform wurde eine
Debatte über den Platz und
die Funktion des Erziehungswesens
in der Gesellschaft Quebecs eröffnet.
ACHTER
STUDENTENSTREIK
Die
ersten studentischen Organisationen,
die zumeist Mitglied von CASSEE
waren, hielten in der zweiten und
dritten Februarwoche Streikvollversammlungen
ab. So wurde am 24. Februar 2005
der achte unbefristete allgemeine
Studentenstreik ausgerufen. Wir
möchten daran erinnern, dass
die Studentenstreiks von 1968, 1974,
1978, 1986 und 1996 wirklich zu
Siegen geführt haben, und unter
anderem den Aufbau eines Netzes
öffentlicher Universitäten,
7 die
Einführung von Verbesserungen
bei Stipendien und Krediten und
das Einfrieren der Kosten der Colleges
und Universitäten zum Ergebnis
hatten. Der Streik von 1988 wurde
von den StudentInnen als Teilsieg
empfunden, weil er zum Ende einer
Reform der AFE führte, aber
die Regierung nicht in allen Punkten
zurückweichen musste. Was den
Studentenstreik von 1990 angeht,
so führte er zur schlimmsten
Niederlage in der Geschichte der
Studentenbewegung Quebecs, weil
es der Regierung gelang, die Schulgelder
um 140 Prozent hochzusetzen. 8
Als
am 24. Februar 2005 ein unbefristeter
Streik ausgerufen wurde, ließ
nichts erahnen, dass er nicht nur
der längste, sondern auch der
größte Studentenstreik
in der Geschichte Quebecs werden
und sogar den von 1974 noch übertreffen
sollte.9
Am 24. Februar waren es die Mitgliedsorganisationen
von CASSEE, die den unbefristeten
Streik auf der Grundlage der Forderungen
der Koalition und ohne Absprache
mit der FEUQ oder der FECQ ausriefen.
Schon Ende Januar hatte die Vollversammlung
der StudentInnen Quebecs (AEQ) die
Unmöglichkeit aufgezeigt, eine
nationale Streikkoordination aufzubauen,
die gleichermaßen Mitglieder
der FEUQ, der FECQ, der CASSEE und
der unabhängig gebliebenen
Organisationen umfasst hätte.
Trotz der Tatsache, dass es nach
der AEQ vom Januar keine Gespräche
zwischen den verschiedenen Gruppierungen
mehr gab, begann die FECQ mitzumachen
und rief ihrerseits Anfang März
zum Streik auf. Als die FEUQ erkennen
musste, dass sich die Regierung
nicht bewegte, rief auch sie am
8. März erstmals in ihrer Geschichte
mit der Forderung nach Rückgabe
der 103 Mio. $ zum Streik auf. So
wuchs der Streik trotz der Spaltung
der Bewegung weiter an.
Der Kampf der
StudentInnen hat eine Radikalisierung
der Jugend insgesamt
ermöglicht.
ROTES
VIERECK
Ab
Ende Februar zog die CASSEE die
Aufmerksamkeit der Bevölkerung
auf die Verschuldung der StudentInnen,
indem sie das rote Viereck bekannt
machte, das bedeuten sollte, dass
sich die StudentInnen „klar
im Rot befanden“. Das rote
Viereck wurde so schnell zum Symbol
der Unterstützung der studentischen
Forderungen und der Gegnerschaft
zur Politik der Regierung der liberalen
Partei. Das Frühjahr 2005 wird
als Frühjahr des roten Vierecks
in die Geschichte eingehen! Das
fragliche Objekt wurde von Hunderttausenden
von Menschen angesteckt. Man fand
es aus Stoff, aus Papier, als Kunst
usw. Es breitete sich wie ein Ölfleck
überall in Quebec aus. Es wurde
zum Vereinigungszeichen des Volkszorns
der Bevölkerung Quebecs gegen
die Regierung, die an ihren neoliberalen
Maßnahmen festhielt. Mit diesem
Zeichen gelang CASSEE ein Meisterstück,
weil es allen zeigte, dass sich
die Studentenbewegung großer
Sympathie in der Bevölkerung
erfreute.
Es gelang dem roten Viereck, die
Spaltungen zu überwinden, da
auch die FECQ und die FEUQ dieses
Symbol als dasjenige des gesamten
studentischen Kampfes annahmen.
Von nun an liefen die Demonstrationen
gegen die neoliberale Politik der
Regierung Jean Charest unter dem
Zeichen des roten Vierecks, gleichgültig
welche Gewerkschaft dazu aufgerufen
hatte. Es war diesem Symbol gelungen,
eine gewisse Einheit in der Bewegung
herzustellen, auch wenn sich die
verschiedenen Strömungen in
der Sache weiterhin stritten.
Eine erste negative Auswirkung der
Spaltung der Studentenbewegung lag
darin, dass die FEUQ und die FECQ
alleine mit der Regierung verhandelten.
Die CASSEE war vom neuen Erziehungsminister
Jean- Marc Fournier vom Verhandlungstisch
ausgeschlossen worden. Er wollte
die CASSEE nicht dabeihaben, weil
sie angeblich zu radikal und zu
„gewalttätig“ sei.
Da sich aber die Kontakte zwischen
der FECQ und FEUQ auf der einen
und der CASSEE auf der andern Seite
auf einem toten Punkt befanden,
hatten die beiden Gruppierungen
seit Beginn des Streiks beschlossen,
in die Verhandlungen einzutreten,
auch wenn die CASSEE ausgeschlossen
bliebe. Minister Fournier spielte
dann auch die Spaltungskarte aus,
was es ihm ermöglichte, den
Forderungen der StudentInnen nicht
allzu weit entgegenkommen zu müssen.
Mit dieser Karte der Mäßigung
in der Hinterhand bot Minister Fournier
am 15. März an, 41 Mio. $ (etwa
26 Mio. € ) von den 103 gekürzten
Mio. $ zurückzugeben. Doch
dieses Angebot wurde sowohl von
der FEUQ und FECQ als auch von der
CASSEE als völlig lächerlich
abgelehnt. Die Arroganz der liberalen
Regierung stachelte die Bewegung
an und am Folgetag befanden sich
250 000 StudentInnen im Streik.
Am gleichen Tag demonstrierten fast
100 000 Menschen in den Straßen
von Montreal und kritisierten den
Vorschlag von Fournier. Der Zornging
so hoch, dass nicht nur die militanteren
Studentenorganisationen auf die
Straße gingen. Sogar die Hochschule
für Management der Universität
von Quebec in Montreal erklärte
sich zwar nicht für den unbefristeten
Streik, streikte jedoch eine Woche.
Dies öffnete den Weg zu Streiktagen
an der Handelshochschule, an der
nationalen Hochschule für öffentliche
Verwaltung, am Polytechnikum und
an der Universität McGill.
Als der Minister Fournier am 1.
April sein zweites Angebot abgab,
waren die studentischen Organisationen,
die den Streik begonnen hatten,
bereits seit fünf Wochen im
Streik. Diesmal musste die Regierung
in einigen Punkten zurückweichen.
Auch wenn sie die AFE-Reform nicht
völlig zurücknahm, so
verzichtete sie auf eine Rückzahlung
der Kredite gemäß dem
Einkommen, dem Programm der Schuldenreduzierung
gemäß den Leistungen
der StudentInnen und auf ihr Projekt,
die Stipendien längerfristig
auslaufen zu lassen. Außerdem
wurden den StudentInnen für
das Schuljahr 2006/ 2007 wieder
Stipendien in Höhe von 103
Mio. $ zugesagt.
Um dies tun zu können, musste
sich die Regierung von Quebec das
Geld bei der kanadischen Bundesregierung
holen. Dieses Angebot stieß
in der Studentenschaft nicht nur
auf Zustimmung. Die FEUQ und die
FECQ akzeptierten das Angebot und
kehrten an ihren Studienplatz zurück,
während die CASSEE das Angebot
nicht annahm, aber den Streik abbrach.
Denn das Angebot von Fournier war
auf mehreren Ebenen problematisch.
Um zu einem Abkommen zu kommen,
musste die Studentenschaft akzeptieren,
dass sie die 103 Mio. für das
Schuljahr 2004/2005 verliert, sowie
weitere 33 Mio. $ für das Schuljahr
2005/2006. Dies bedeutet, dass sich
die StudentInnen für diejenigen
geschlagen haben, die zwischen 2006
und 2010 studieren werden und somit
an die Stipendien von 103 Mio. herankommen.
Ein weiteres Problem mit dem Abkommen
besteht darin, dass ein Artikel
der AFE vorsieht, dass die Erhöhungen
der Stipendien und Kredite wegen
der Inflationsrate jedes Jahr neu
verhandelt werden sollen. Und schließlich
ist das Geld aus den Kassen des
Bundesstaates durchaus willkommen,
ermöglicht aber der Regierung
von Quebec, ihre Steuersenkungsmaßnahmen
und ihren neoliberalen Kurs fortzusetzen.
Weil die CASSEE nicht am Verhandlungstisch
saß, konnten die FEUQ und
FECQ nicht gedrängt werden,
die 103 Mio. $ in Gänze einzufordern,
und zwar auch für die Jahre
2004/2005 und 2005/ 2006. Der Kampf
ist also noch nicht zu Ende.
DER
KAMPF GEHT WEITER
Die
Studentenbewegung konnte die Regierung
zurückdrängen; nun muss
sie auf dieses Kapital setzen, um
ihre Verbindungen zu den lebendigen
Kräften der Gesellschaft zu
erweitern, um den Kampf gegen den
Neoliberalismus fortzusetzen. Der
Kampf der StudentInnen hat eine
Radikalisierung der Jugend ermöglicht.
In den Tagen nach dem Ende des Streiks
sah sich die FEUQ Angriffen ihrer
Basis ausgesetzt. Verschiedene StudentInnenverbände
haben Vollversammlungen angesetzt,
um den Austritt aus der FEUQ zu
beschließen. In dieser Studentenbewegung
war die FEUQ der Schwanz der Bewegung,
sie beteiligte sich nur, weil sie
musste und es kam zu keiner politischen
Diskussion. Nach diesem Streik wird
sich die studentische Linke nur
außerhalb der FEUQ aufbauen
können, um die Diskussion in
Richtung Generalstände des
Bildungswesens zu treiben und den
Kampf gegen den Neoliberalismus
fortsetzen zu können. Die CASSEE
wird sich noch mehr für Gruppierungen
öffnen müssen, die sich
im Verlauf des Streiks radikalisiert
haben. Sie darf nicht auf den harten
Kern zurückfallen, wie ihn
die ASSE zu Anfang 2005 stellte.
Die CASSEE verfügt über
eine politische Plattform von Forderungen,
die es der studentischen Linken
ermöglicht, Hoffnung in die
Zukunft zu haben. Wird sie den Willen
besitzen, geduldig eine langfristige
Strategie auszuarbeiten, um zu bewirken,
dass jene Plattform auch in die
Tat umgesetzt wird? Diese Frage
muss sich die studentische Linke
ab sofort stellen. Die ASSE muss
sich so umstrukturieren, dass aus
ihr eine demokratische Massenorganisation
der StudentInnen wird, die auf der
Linken verankert ist.
|
(1)
Koalition für ausgedehnte
studentische Solidarität:
der radikale Flügel der
Studentenbewegung in Quebec. |
(2)
Vorsitzender der liberalen
Partei und Ministerpräsident
von Quebec. |
(3)
Entspricht gegenwärtig
etwa 64 Mio. Euro. |
(4)
In Quebec besteht das Netz
von Colleges aus Colleges
allgemeiner und beruflicher
Bildung, wo junge Menschen
(im Allgemeinen zwischen 17
und 20) hingehen, die ihre
Sekundarbildung
abgeschlossen haben. Sie bereiten
sich
dort aufs Berufsleben oder
aber auf den Eintritt in eine
Universität vor. |
(5)
Assoziation für die Solidarität
unter den StudentInnen; sie
stand am Anfang der CASSEE. |
(6)
Föderation der UnistudentInnen
Quebecs und Föderation
der Colleges-StudentInnen
Quebecs. |
(7)
Das Netz der Universität
von Quebec, die mittlerweile
Universitäten in mehreren
Regionen Quebecs unterhält. |
(8)
Die Niederlage von 1990 erklärt
zum Teil das Verschwinden
der nationalen Vereinigung
der Studenten und Studentinnen
Quebecs (ANEEQ), die nach
dem Streik von 1974 entstanden
war. Nach dem Ende von ANEEQ
gab es keine einheitliche
Organisation der Studentenbewegung
in Quebec mehr. |
(9)
Die Streik von 1974 hatte
vier Wochen gedauert, aber
drei Viertel der Colleges
und ein Teil der Universitäten
waren in einen unbefristeten
Streik getreten. |
|