Gegenreformen
Die
erste Gegenreform, die 1997 von der Regierung
Jerzy Buzek eingeführt wurde2,
zielte auf eine Mischfinanzierung des Gesundheitssystems
(zum Teil durch eine Versicherung, zum Teil
durch den Staatshaushalt) ab und führte
zur Schaffung von 16 regionalen Versicherungskassen,
die aus den Beiträgen finanziert wurden,
die zusammen mit der Einkommensteuer erhoben
wurde. Da diese Dezentralisierung mit der Bildung
von autonomen öffentlichen Gesundheitszentren
und nicht-öffentlichen Gesundheitszentren
einherging, hat zu zahlreichen Missbräuchen
geführt, durch die der Beginn der Akkumulation
von Kapital im Bereich der Gesundheitsdienste
möglich wurde. 1998 wurde das Eigentum
an den öffentlichen staatsnahen Krankenhäusern
auf die Regionen, Landkreise und Ortschaften
übertragen, die von da an für deren
Defizit verantwortlich waren.
2004
sind die regionalen Kassen zu regionalen Abteilungen
des Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ) umgewandelt
worden, die die Gesundheitsdienste, ob sie öffentlich
sind oder nicht, durch Jahresverträge finanzieren.
Dieses Vertragssystem hat zur Beschneidung der
Mittel der öffentlichen Krankenhäuser
und anderen Gesundheitszentren geführt;
das hat es unmöglich gemacht, bestimmte
medizinische Akte zu finanzieren, wenn die im
Vertrag vorgesehene Anzahl dieser Akte im Jahr
erreicht war (häufig in der zweiten Hälfte
des Jahres …). Dadurch ist die Wartezeit
der PatientInnen ganz erheblich länger
geworden, und sie waren gezwungen, auf private
Dienste zurückzugreifen, deren Kosten nicht
erstattet wurden, die jedoch schnell zur Verfügung
standen; dadurch wurde die beschleunigte Entwicklung
der Akkumulation des Kapitals im Gesundheitsbereich
möglich.
Die
neoliberale Regierung von Donald Tusk3
hat im April 2011 ein Gesetz über die Gesundheitsversorgung
zur Abstimmung gebracht, das die Regionen und
Gemeinden dazu zwingt, falls sie die Krankenhäuser
nicht „kommerzialisiert“4
haben, deren Defizit innerhalb von drei Monaten
nach dem Abschluss des Geschäftsjahres
zu decken. Die öffentlichen Institutionen,
die ihre Krankenhäuser oder Gesundheitszentren
„kommerzialisieren“, können
die Annullierung ihrer rechtlichen Verpflichtungen
(Schulden usf.) beantragen. Durch dieses Gesetz
wird auch die Schaffung von neuen öffentlichen
Gesundheitszentren untersagt (ausgenommen ist
die Schaffung einer neuen Einheit durch den
Zusammenschluss von zwei bereits existierenden
öffentlichen Einrichtungen). Das Gesetz
sieht ferner vor, dass die Arbeitszeit der medizinischen
Berufe verlängert werden kann und dass
die Krankenschwestern in diesen kommerzialisierten
Unternehmen nicht nur auf der Grundlage eines
Arbeitsvertrags, sondern auch als „individuelle
Unternehmer“ auf der Grundlage eines Handelsvertrags
anzustellen sind (was dem Unternehmer ermöglicht,
nicht für die Sozialversicherung derjenigen
aufzukommen, die bei ihm arbeiten). Die Regierung
hat vor, den Betrag der obligatorischen Beiträge
zur Sozialversicherung um 3 %5 anzuheben,
um das Defizit im Gesundheitsbereich zu decken
…
Die
Ziele der Regierung
Zbigniew
Zdónek, Arzt und Leiter des Gesundheitssektors
der Polnischen Partei der Arbeit, erklärt
die gegenwärtige Gegenreform: „Im
vergangenen Jahr hat der Nationale Gesundheitsfonds
(NFZ) zur Finanzierung der Gesundheitsversorgung
57 Milliarden Zloty (14,37 Milliarden Euro)
ausgegeben. Die Polen haben für die Arztbesuche,
die Behandlung und die Medikamente ebenso viel
ausgegeben. Dieser Markt wird noch zunehmen,
denn die Gesellschaft wird älter, und unsere
Ausgaben für Gesundheit werden ansteigen.
Das bedeutet, dass wir in einem Jahr die Hälfte
von dem ausgeben, was wir in den letzten zehn
Jahren auf die Konten der privaten Rentenfonds
überwiesen haben. Und wie durch Zufall
ist zur gleichen Zeit, in der der Staat mit
der neulich beschlossenen Reform dem Kapitalmarkt
(zurecht) 20 Milliarden Zloty weggenommen hat,
die ihm in den letzten zehn Jahren zugeflossen
waren – auf Verlustbasis, wodurch die
Staatsverschuldung sich erhöhte, wie Ministerpräsident
Donald Tusk am Ende selber zugegeben hat –,
der Weg für die neuen Gesundheitsversicherungen
aufgetan worden. Die Reform der Gesundheitsversorgung
reduziert die Krankenhäuser auf typisch
marktorientierte Unternehmen. Auf diese Weise
hat der Ministerpräsident dem Kapitalmarkt
den Zugang zu viel Geld verschafft. Scheinbar
tut er das in unserem Interesse. Vor zehn Jahren,
als er mit der „Wahlaktion Solidarnosc“
eine Koalition hatte, hat er ebenfalls „in
unserem Interesse“ die Renten reformiert.
Jetzt ist er gezwungen, einen Schritt zurück
zu tun, denn seine Lösung kostet den polnischen
Staat zu viel.“6
„Die
Politiker von der Bürgerplattform verstehen
es, sich auf Kosten der öffentlichen Ressourcen
zu bereichern. Seit jetzt 20 Jahren experimentieren
sie damit. Seit zwei Jahren suchen sie über
die Ministerin für Gesundheit ihr Projekt
einzuführen. Sie gilt als hysterisch, wusste
aber sehr gut, was sie tat, als sie vor zwei
Jahren die Kompetenzen der Allgemeinmediziner
einschränkte und ihnen untersagte, die
Patienten korrekt zu untersuchen und zu behandeln.
Diese scheinbar unbedeutende Geste hat die Patienten
zu den medizinischen Fachzentren umgelenkt.
Millionen von Patienten wandten sich an die
Spezialisten. Die Ministerin hat dafür
aber keine Finanzierung vorgesehen, und weil
die Spezialisten keine Verträge mehr hatten,
konnten sie die Patienten nicht mehr annehmen.
Die öffentlichen Krankenhäuser haben
sie aufgenommen, denn sie sind dazu verpflichtet.
Aber der Haushaltsrahmen für medizinische
Behandlungen der Krankenhäuser wurden nicht
erweitert, das heißt, sie hatten keine
Finanzierung für diese zusätzlichen
Patienten. Das hat zu ihrer wachsenden Verschuldung
geführt. Dann hat die Ministerin angefangen,
laut zu sagen, dass es sich um öffentliche
Mittel handelt und dass die kommerziellen Firmen
effizienter sein werden. Aber welcher kommerzielle
Betrieb auf der Welt kann Gewinn machen, wenn
man ihm nicht einen Teil der Leistungen bezahlt,
im Fall der Krankenhäuser die so genannten
Überlasten? Auf diese Weise ist der Tod
der öffentlichen Krankenhäuser planvoll
organisiert worden. Damit wurde der Übernahme
durch privates Kapital der Weg geebnet. Zentral
hierfür war das vor kurzem in Kraft getretene
Gesetz, das Präsident Bronislaw Komorowski
unterzeichnet hat, der erst vor einem Jahr gesagt
hat, die Privatisierung der Krankenhäuser
stehe im Gegensatz zu seinen Idealen.“7
Die
Auswirkungen der Privatisierungen
An
Beispielen für die Folgen der bereits vollzogenen
Privatisierungen von Krankenhäusern mangelt
es nicht.
So
musste Andrzej Stania (PO), der Bürgermeister
der Stadt Ruda Slaska, nachdem das öffentliche
Krankenhaus vor zwei Jahren privatisiert worden
war, für die Finanzierung der neuen Aktiengesellschaft
in jedem Monat 200 000 Zloty aus dem Haushalt
der Stadt bereitstellen. Jedoch hatten „die
Freie Gewerkschaft ,August 80‘ an diesem
Krankenhaus und die Polnische Partei der Arbeit
einen Plan zur Rettung des Krankenhauses ausgearbeitet.
Die Bürger schlossen sich zusammen, um
Unterschriften unter eine Petition mit der Forderung
nach Beibehaltung des öffentlichen Krankenhauses
mittels einer Bürgerabgabe in Höhe
von 10 Zloty im Monat pro erwachsenen Einwohner
zu sammeln. Damit hätten die Einwohner
die Kontrolle über das Krankenhaus in ihre
Hände nehmen und mit 5 Millionen Zloty
pro Jahr zu dessen Finanzierung beitragen können!
In drei Jahren hätten wir ein modernes
Krankenhaus, und das gesamte eingesammelte Geld
könnte zur Entwicklung der Vorbeugung und
Behandlung der Kranken dienen. Und was haben
wir stattdessen? Eine kommerzielle Firma, die
jeden Monat ein Defizit in Höhe von 200
000 Zloty verursacht, und die Perspektive, dass
sie privatisiert werden wird, denn das ist das
Gesetz … des Markts.“8
Bei der Gemeinderatswahl vom November 2010 hat
der für diese Machenschaften verantwortliche
Bürgermeister allerdings verloren, er ist
von Grazyna Dziedzic abgelöst worden, die
an der Spitze der Liste einer Bürgerinitiative
stand, die von der Polnischen Partei der Arbeit
unterstützt wurde.
Der
Chef des Landkreises Krosno Odrzanskie, ebenfalls
Mitglied von PO, hat die Verwaltung des Kreiskrankenhauses
einer Aktiengesellschaft aus Szczecin übertragen.
Sie hat das für ihresgleichen typische
„Wunder“ bewirkt: Sie hat die Kosten
für die Behandlungen und die Gehälter
gesenkt. In diesem Landkreis mit 60 000 EinwohnerInnen
hat sie einen einzigen Arzt für den Innendienst
angestellt, der zugleich Chef dieses Diensts,
medizinischer Direktor des Krankenhauses, der
Arzt für die Palliativbehandlung und der
Arzt des Diabeteszentrums ist … Durch
solche Einsparungen beim Personal hat das Unternehmen
große Gewinne gemacht, und am Ende des
Jahres konnte sie eines der Krankenhäuser
für 6 Millionen Zloty aufkaufen. Z. Zdónek
kommentiert: „Dadurch dass für die
Patienten mit einer Herzattacke der Krankentransport
nicht mehr sichergestellt war und dass es keinen
Arzt mehr gab, der in der Lage war, sich um
einen schwerkranken Patienten zu kümmern,
sind Menschen gestorben. Aber nicht sie zählen,
sondern die Gewinne…“ (Z. Zdónek,
in: Kurier Zwiazkowy, Nr. 367, 25. Mai 2011)
Siegreicher
Widerstand
Der
Chef des stark verschuldeten Landkreises Swidnica,
Mitglied der PO, hat das öffentliche Krankenhaus
„Latawiec“ zu „kommerzialisieren“
versucht. Die nationale Gewerkschaft der Krankenschwestern
und Hebammen OZZPiP hat beschlossen, dieses
Vorhaben zu bekämpfen, und hat dafür
die Unterstützung der Freien Gewerkschaft
„August 80“ und der Polnischen Partei
der Arbeit bekommen.
Elzbieta
Pieprz, die Vorsitzende von OZZPiP Swidnica,
sagte auf einer öffentlichen Veranstaltung
im März: „Wir sind gegen die Kommerzialisierung
und folglich gegen die Privatisierung des Krankenhauses.
Wir wollen unsere Arbeitsplätze verteidigen.
Wir sind zu allen Kampfformen bereit, auch einen
Streik mit Besetzung.“ Marta Galeczka
vom Selbstverwaltungsrat der Krankenschwestern
bei „Latawiec“ erklärte: „Wenn
die Krankenschwestern es hinnehmen, mit kommerziellen
Verträgen zu arbeiten, kommt es bereits
zu Konflikten. Ein privater Unternehmer möchte
aber ein Maximum an Einsparungen. Die Privatisierung
wird nicht nur eine Gefahr für die Arbeitsplätze
bedeuten, sondern auch für die Arbeitsverträge.“
(Zitiert nach Kurier Zwiazkowy, Nr. 361, 23.
März 2011)
Am
13. April ist ein Komitee für den Erhalt
des öffentlichen Krankenhauses in Swidnica
gegründet worden. Als sie zur Bildung des
Komitees aufrief, erklärte Elzbieta Pieprz:
„Wir kämpfen für das Wohl der
abhängig Beschäftigten, denn es ist
objektiv besser, in einem öffentlichen
Krankenhaus zu arbeiten als in einem privaten.
Wir kämpfen aber auch im Interesse unserer
Patienten. Die Fälle der Krankenhäuser
in unserer Umgebung, die umgewandelt worden
sind, in Swiebodzin, Dzierzoniow oder Zabkowice
Slaskie, zeigen recht gut, dass dort nur die
Fälle behandelt werden, in denen kein Transport
möglich ist, oder die leichten, also rentablen
Fälle. Die Patienten mit schwerwiegenderen
Erkrankungen werden zu uns geschickt. Die privaten
Krankenhäuser orientieren sich an dem Profit,
denn das verlangt das Handelsgesetzbuch von
ihnen.“ (Zitiert nach Kurier Zwiazkowy,
Nr. 364, 13. April 2011) In dem Komitee sind
GewerkschafterInnen (von OZZPiP und „August
80“), Berufsverbände (der Krankenschwestern,
Hebammen und ÄrztInnen), politische Parteien
– außer der Polnischen Partei der
Arbeit auch die sozialliberale Allianz der Demokratischen
Linken (SLD) und die rechtspopulistische Partei
Gesetz und Gerechtigkeit (PiS) –, PatientInnen
und zahlreiche BürgerInnen von Swidnica
vertreten. Für die Petition des Komitees
wurden Tausende von Unterschriften abgegeben
(Kurier Zwiazkowy, Nr. 365, 20. April 2011)
Die Behörden haben schließlich einen
Rückzieher gemacht: Am 2. Juni hat die
Kommission des Landkreises, die das Projekt
der „Kommerzialisierung“ vorlegen
sollte, ihre Arbeiten beendet, ohne dass sie
gewagt hätte, solch ein Projekt vorzuschlagen!
Jan
Malewski ist Redakteur von Inprecor. Dieser
Artikel hätte ohne die Hilfe von Zbigniew
Zdónek (Arzt und Leiter des Gesundheitssektors
der Polnischen Partei der Arbeit), Iwoana Borchulska
(Vizepräsidentin der Gewerkschaft der Krankenschwestern
und Hebammen OZZPiP), Krystyna Ptok (Vizepräsidentin
der OZZPiP in der Region Schlesien), Elzbieta
Pieprz (Vorsitzende von OZZPiP in Swidnica)
und Luiza Nowaczynska (Mitglied von OZZPiP im
Krankenhaus „Latawiec“ in Swidnica)
nicht geschrieben werden können; sie haben
auf der europäischen Konferenz in Amsterdam
dargestellt, wie die Lage des Gesundheitswesens
in Polen ist.
Übersetzung
aus dem Französischen: Friedrich Dorn
1
Innerhalb von fünf Jahren, von 1955 bis
1960, ist die Verwaltung des sozialen Gesundheitssystems
(Beiträge, Versicherungspflicht, Auszahlung
der Beihilfen) den (vollständig
verstaatlichten) Gewerkschaften übertragen
worden, bis die Missbräuche der „Gewerkschafts“bürokraten
das Regime zur Rückkehr zu Verstaatlichung
veranlassten.
2 Jerzy Buzek, der erste Minister von der Wahlaktion
Solidarnosc, ist bei der Parlamentswahl
vom Oktober 2001 weggefegt worden, da es ihm
nicht gelang, über die Schwelle von 8 %
zu gelangen, die Wahlbündnisse nehmen mussten
(bei den politischen Parteien sind es 5 %)
und es keine/n einzige/n Abgeordnete/n seiner
Formation mehr gab. Diese Niederlage die
Karriere von J. Buzek nicht beendet, 2004 ist
er auf der Liste der Bürgerplattform (Platforma
Obywatelska, PO) in das Europaparlament gewählt
worden, und seit 2009 ist er dessen Präsident.
3
Donald Tusk, Mitbegründer des Liberalen
Demokratischen Kongresses (KLD) 1991 sowie
der Bürgerplattform (PO) 2001, ist seit
der Wahl vom Oktober 2007 Ministerpräsident
mit
einer Koalitionsregierung von PO und der Bauernpartei
(PSL). Sein Kandidat für die Präsidentschaft
der Republik, Bronislaw Komorowski, hat die
Präsidentschaftswahl vom Juni
2010 gewonnen, dadurch hat die PO eine vollständige
Kontrolle total über die staatlichen Institutionen
bekommen und kann sie die Politik der ultraliberalen
Gegenreformen wie im Gesundheitswesen beschleunigen.
4 Unter „Kommerzialisierung“ wird
hier die Umwandlung in eine kommerzielle Firma
verstanden,
auch wenn die Region, die Stadt oder der Bezirk
Eigentümer der Aktien dieses Unternehmens
bleibt. Es handelt sich um einen Schritt zur
Privatisierung.
5 Das sind durchschnittlich über 100 Zloty
(25 Euro), das durchschnittliche Bruttoeinkommen
lag nach Angaben des Zentralen Statistischen
Amts (GUS) im letzten Vierteljahr von
2010 bei 3438 Zloty (867 Euro), netto also etwa
2500 Zloty. Nahezu 70 % der Beschäftigten
in Polen verdienen weniger als diesen Durchschnittsbetrag,
der durch sehr hohe Einkommen
nach oben gedrückt wird.
6
Z. Zdónek, „Donaldyzacja sluzby
zdrowia“ (Die Donaldisierung des Gesundheitswesens),
in: Kurier Zwiazkowy (Wochenzeitung der Freien
Gewerkschaft „August 80“), Nr. 363,
6.
April 2011.
Z.
Zdónek, „Wszyscy jestesmy Olewnikami“
(Wir sind alle Opfer wie die Olewnik), in:
Kurier Zwiazkowy, Nr. 367, 25. Mai 2011.
8
Z. Zdónek, „Jak sie kreci lody
na sluzbie zdrowia“ (Wie man sich zu Lasten
der
Gesundheitsdienste bereichert), in: Kurier Zwiazkowy,
Nr. 350, 24. November 2010. |