Zehn
Millionen ArbeiterInnen organisierten sich in
der Gewerkschaft Solidarnosc
Als
am 14. August 1980 auf der Gdansker Lenin-Werft
die Kranführerin Anna Walentynowicz wegen
ihres Einsatzes für bessere Arbeitsbedingungen,
gleiche Bezahlung für Frauen und Männer
und freie Gewerkschaften entlassen wurde, legten
17.000 Werftarbeiter die Arbeit nieder und besetzten
die Werft. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich
der „Strajk“; innerhalb von drei
Tagen griff er auf das ganze Land über.
Dieser Streik kam keineswegs aus dem Nichts.
Gerade unter der Arbeiterschaft gärte es.
Immer wieder hatte die Regierung die Arbeitsnormen
erhöht und gleichzeitig die Preise für
Lebensmittel raufgesetzt.
Stalinismus
In
Polen bestand das gleiche Regime wie im gesamten
Ostblock. Eine Schicht von Partei- und Staatsfunktionären
herrschte über einer verstaatlichten Wirtschaft.
Trotz angeblicher „Entstalinisierung“
nach dem Tode des sowjetischen Diktators Stalin
existierten in den Satelliten-Staaten wie Polen
oder der DDR weiter dieselben Machtstrukturen.
Eine privilegierte Bürokratie thronte über
der verstaatlichten Wirtschaft und niemand kontrollierte
sie. Die DDR war für diese Funktionärsschicht
– in Worten – ein „Arbeiter-
und Bauernstaat“, Polen eine „Volksdemokratie“...
Doch wehe, wenn „die Arbeiter“ oder
„das Volk“ mal gegen die herrschende
Funktionärsschicht aufbegehrten. Dann wurde
mit Polizei und Panzern dem Volk und im speziellen
den ArbeiterInnen aufs Haupt geschlagen. So
zum Beispiel 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn
und Polen und 1970 in Polen.
Das
„überbetriebliche Streikkomitee“
Schon
einen Monat vor der August-Erhebung gab es eine
erfolgreiche Streikwelle gegen Preiserhöhungen.
Damit wurde das Selbstbewusstsein der ArbeiterInnen
gestärkt. Gleichzeitig kam in verschiedenen
Großbetrieben die Forderung nach einer
koordinierenden Organisation, einer nicht vom
Staat kontrollierten Gewerkschaft, auf.
Als nun am 14. August auf der Lenin-Werft gestreikt
wurde, bildete sich ein Streikkomitee. Der Elektriker
Lech Walesa wurde zu einem der Sprecher ernannt.
Da dieser Streik auf die ganze Stadt übergriff,
wurde aus der Streikleitung ein „überbetriebliches
Streikkomitee“.
Bereits drei Tage später, am 17. August,
war dieses „überbetriebliche Streikkomitee“
aus Gdansk das Sprachrohr der überall im
Lande streikenden Belegschaften. Das Streikkomitee
formulierte seine „21 Forderungen von
Gdansk“, worin sie die Abschaffung der
Parteiprivilegien, die Freilassung der politischen
Gefangenen, Pressefreiheit, Streikrecht, freie
Gewerkschaften und offene Diskussionen über
die Wirtschaftskrise forderten.
Die landesweite Streikwelle hatte mit dem Streikkomitee
aus Gdansk plötzlich eine landesweite Koordination.
Lech Walesa – und die Streikleitung der
Lenin-Werft – wurden plötzlich zur
Führung der gesamten polnischen Arbeiterschaft.
Noch im August folgten Streiks im ganzen Land.
Das „überbetriebliche Streikkomitee“
wurde beauftragt, die Forderungen der Arbeiterschaft
der Regierung gegenüber zu vertreten.
Regierung
unter Druck
Mit
dieser koordinierten Aktion der Mehrheit der
polnischen Arbeiterschaft konnte die Regierung
sich nicht messen. Ein Einsatz von Armee und
Polizei hätte zu diesem Zeitpunkt eher
ihren eigenen Sturz nach sich gezogen. Der spätere
Putschist, General Jaruzelski, warnte deshalb
im August 1980 die Regierung Gierek vor dem
Einsatz der Armee.
Um zu überleben, musste die Regierung nachgeben.
Der stellvertretende Ministerpräsident
Jagielski musste am 31. August 1980 die „Vereinbarung
von Gdansk“ unterschreiben. Darin gewährte
die Regierung das Recht auf unabhängige
Gewerkschaften mit Streikrecht und Zugang zu
den Massenmedien. Das war die Geburtsstunde
der Solidarnosc. Innerhalb weniger Wochen wurde
die Solidarnosc zum Zentrum der Bewegung. Davon
angespornt, entstand auch unter der Bauernschaft
eine „Bauern-Solidarnosc“. Und auch
Student-Innen und Intellektuelle gründen
ihre Solidarnosc. Im November 1980 traten von
den 16 Millionen Beschäftigten rund zehn
Millionen der neuen Gewerkschaft bei. Und auch
die herrschende Partei, die PVAP, verlor über
eine Million Mitglieder an Solidarnosc.
Unter diesem Eindruck beschloss sogar der Zentralrat
der offiziellen Gewerkschaft, CRZZ, seine Selbstauflösung.
Am 5. September trat die Regierung unter Gierek
zurück. Nun war die Krise für alle
offensichtlich. Ein Machtvakuum tat sich auf.
Doppelherrschaft
Das
ganze Land wendete sich der Solidarnosc zu.
Walesa und Co. suchten die Verhandlung mit der
Regierung. Dadurch wurde die Aktivität
der Massen auf ermüdende Verhandlungsrunden
an „Runden Tischen“ und Fernseh-Debatten
gelenkt. Fast eineinhalb Jahre zog sich das
hin.
Hier eine neue Macht – mit über zehn
Millionen organisierten ArbeiterInnen, die faktisch
die Kontrolle über die Produktion ausübten
– und da eine verhasste Regierung, die
kaum eine Stütze in der Gesellschaft hatte.
Wenn die Solidarnosc-Führung um Walesa
zu diesem Zeitpunkt gewollt hätte –
ein entschlossener Generalstreik hätte
die Regierung zu Fall gebracht. Doch Walesa
sah sich immer wieder als „Feuerwehrmann“,
der den Brand zu löschen versuchte. Die
Solidarnosc-Führer beschwichtigten die
Arbeiter, „um die Verhandlungen nicht
zu gefährden“.
Militärputsch
Die
Unentschlossenheit der Führung gab der
Regierung – und besonders den Hardlinern
im Militärapparat um General Jaruselzki
– Zeit. Das Militär zog Kampfverbände
zusammen, legte Lebensmitteldepots an. Die Anzeichen
mehrten sich, dass die Regierung „was
plant“ – doch die Solidarnosc-Führung
unternahm nichts. Im Gegenteil, sie verhandelte
weiter. Die Preise stiegen unaufhörlich,
die Löhne kamen nicht hinterher, das stundenlange
Schlangestehen vor den Geschäften und oben-drein
eine Führung, die immer noch verhandelte
– das alles lähmte.
Anfang Dezember wurde eine besetzte Feuerwehrhochschule
in Warschau geräumt. Die Basis von Solidarnosc
sah die Gefahr eines Schlages der Regierung
und forderte die Arbeiterbewaffnung. Walesa
stimmte dem zu – doch anstatt sofort zu
reagieren, wurde der Termin für einen Generalstreik
für eine Woche später angesetzt. Schlimmer
noch, obwohl offensichtlich wurde, dass die
Regierung wieder Mut gefasst hatte, ging die
Führung von Solidarnosc weiterhin zu den
Verhandlungen.
Am 13. Dezember 1981 war es dann so-weit. Am
Abend entmachtete der militärische Apparat
die Regierung und verhängte das Kriegsrecht.
Blitzschnell schlug das Militär zu: Überall
wurden noch in der Nacht zum 14. Dezember Solidarnosc-Führer,
ArbeiteraktivistInnen und Intellektuelle verhaftet.
Die Büros der Gewerkschaft wurden besetzt
und Unterlagen sowie Kassen beschlagnahmt. Jede
gewerkschaftliche Tätigkeit wurde unter
Strafe gestellt. Auf den Straßen errichteten
Militär und Polizei Straßensperren,
Betriebe wurden unter Militärverwaltung
gestellt. Wer Streikaufrufen folgte, konnte
wegen „Arbeitverweigerung“ bis zu
fünf Jahre eingesperrt werden...
Lech
Walesa
In
einem ARTE-Interview vom 15. Mai 2005 berichtete
Walesa über sein Konzept vor 25 Jahren
als Vorsitzender der Solidarnosc und seine Ziele
als Regierungschef von 1989 bis 95.
„Als ich das Konzept erwogen hatte,
waren das drei Kapitel: Mein erstes Kapitel
war, ein Monopol aufzubauen. Wir wollten so
viel Leute wie möglich haben. (...) Der
Sieg über den Kommunismus beendete das
erste Kapitel.
Dann kam das zweite Kapitel, das nicht besonders
schön war: Das Monopol wieder aufgliedern.
Es sollte sich wieder auflösen in Parteien,
Gewerkschaften oder andere Organisationen. Davor
hatte ich eigentlich Angst, aber wir mussten
uns aufteilen, um den Kapitalismus aufzubauen.
Der Kommunismus war besiegt, den dritten Weg
gab es nicht und vor mir riesige Massen an Proletariern.
Die Betriebe sollten aufgelöst, die Menschen
entlassen werden. Aber wie sollte ich damit
fertig werden? Ich hatte solche Angst vor diesem
neuen Kapitel, denn diejenigen, die mich auf
den Schultern getragen haben, hätten mich
mit Steinen beworfen. Dadurch, dass die Leute
zerstritten waren, haben wir die Betriebe doch
schließen können. Wären sie
nicht zerstritten gewesen, hätten wir das
nicht geschafft. Das war das zweite Kapitel,
das aus Streit und Teilung bestand.
Ich weiß nicht, ob ich es gut gemacht
habe. Aber ich weiß, dass ich diese Operation
präzise gemacht habe.“ (www.arte-tv)
Tradition
wieder aufnehmen
Walesas
„drittes Kapitel“ heißt: „Wir
organisieren uns jetzt“.
Das ist wirklich nötig – aber anders
als dieser Zyniker sich das denkt!
Denn die Folgen der Einführung des Kapitalismus
in Polen haben unter der Arbeiterklasse große
Wut entstehen lassen. Waren früher auf
der Gdansker Werft über 17.000 beschäftigt,
so sind es heute nicht mal mehr 5.000. Die arbeitenden
Menschen Polens kamen mit dem Zusammenbruch
des Stalinismus vor 15 Jahren vom Regen in die
Traufe. Bewies der Militärputsch vom Dezember
1981, dass die Arbeiter-Innen in diesen „Arbeiterstaaten“
nichts zu melden hatten, so beweist der Kapitalismus
heute, dass sie nichts zu sagen haben und auf
die Straße geworfen werden...
Heute gilt es, sich der Traditionen von 1980/81
zu besinnen und für eine wirkliche Arbeiterdemokratie
zu kämpfen.
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