Interview
mit Barbara Ferusso, Mitglied des nationalen
politischen Komitees von Rifondazione Comunista
(PRC)
aus Debatte Nr. 2-3, Juli/August 2002
Die
aktuelle politische und soziale Lage in Europa
zeigt, dass eine Wende stattgefunden hat. In
Grossbritannien, in Spanien, in Deutschland
kennen die Kämpfe der Lohnabhängigen
einen neuen Aufschwung. Sie finden jeweils ausgehend
von der sozio-politischen Geschichte der verschiedenen
Länder statt.
Dieser
Aufschwung findet in einem schwierigen Kontext
statt. Defensive Kämpfe stossen sehr schnell
auf ernsthafte Hindernisse. Um sie zu überwinden
werden drei Elemente nötig sein: eine Akkumulation
von Erfahrungen neuer Generationen; ein Austausch
(der zur Herausbildung einer gemeinsamen politischen
Kultur führt) zwischen diesen Generationen
und den Leuten, die eine Kontinuität von
auch nur minimalen Aktivitäten während
den 80er und 90er Jahren aufrecht erhalten haben;
der Aufbau von Elementen eines antikapitalistischen
Programms. Dieser letzte Teil wird die Frucht
eines Dialogs zwischen den Kräften der
radikalen Linken - die verstehen, dass eine
Veränderung der historischen Phase eingetreten
ist, die aus der Sozialdemokratie und aus den
ihr im wesentlichen subalternen Kommunistischen
Parteien sozial-liberale Kräfte macht -,
erneuerten klassenkämpferischen Gewerkschaftsströmungen,
die in der Lage sind, die demokratische Organisierung
der grösstmöglichen Zahl von Lohnabhängigen
zu ermöglichen und den RepräsentantInnen
der fortgeschrittensten Kämpfe sein. Die
Zusammenarbeit dieser Kräfte bildet die
Voraussetzung für einen kollektiven Entwurf,
der die Dimension eines Bruchs und einer Überwindung
des Kapitalismus integriert.
Der
Wiederaufschwung der Kämpfe findet im Zusammenhang
mit der Vertiefung der neokonservativen Gegenreformen
(Privatisierungen, Abbau der sozialen Rechte
und der Arbeitsgesetzgebung usw.) statt, die
die Kollektive der Lohnabhängigen prekarisieren,
zersplittern und zerreissen. Die Lohnabhängigen
werden somit gedrängt, neue Arten ihrer
Vereinigung zu erfinden, deren Potential überraschend
sein könnte.
Italien
repräsentiert im Moment die Speerspitze
dieser neuen sozialen Kämpfe: bisherige
Höhepunkte des sozialen Konflikts waren
die Massendemonstration vom 23. März mit
mindestens 1,5 Millionen TeilnehmerInnen und
der Generalstreik vom 16. April, der die Wirtschaft
des Landes für einen Tag lahmgelegt hat
und an dem 13 Millionen Lohnabhängige teilgenommen
haben. Wir haben uns deshalb mit Barbara Ferusso,
Mitglied des nationalen politischen Komitees
von Rifondazione Comunista (PRC), über
die Entwicklungen der letzten Monate unterhalten.
Barbara Ferusso ist in der Jugendorganisation
des PRC und im Torino Social Forum aktiv; sie
hat vor kurzem an Veranstaltungen der Bewegung
für den Sozialismus (BFS) in Zürich
und in Basel teilgenommen.
Die
Regierung Berlusconi wird in den schweizerischen
Medien als eine italienische "Besonderheit"
dargestellt. Was hältst du davon?
Der
Sieg von Berlusconi im Frühjahr 2001 kann
nicht nur auf seine Medienmacht und auf Elemente
wie Korruption und Klientelwirtschaft zurückgeführt
werden. Die heutige Regierungskoalition hat
es geschafft, verschiedene und zersplitterte
Teile der politischen Rechten zusammenzuführen:
die traditionelle, im Faschismus verankerte
Rechte der Alleanza Nazionale; die fremdenfeindliche,
partikularistische Lega Nord; die unternehmerische,
"dynamische" Rechte um Berlusconi;
sowie Restbestände der alten Christdemokratie.
Dieser Sieg ist symptomatisch für eine
neue politische Phase in Europa, die dadurch
charakterisiert ist, dass das Projekt der Mitte-Links-Koalitionen,
die in den 90er Jahren in eine Reihe von Ländern
in die Regierungen gewählt wurden, gescheitert
ist.
Es
handelte sich um ein Projekt, das die kapitalistische
Globalisierung akzeptierte, als positiv ansah
und dachte, dass sie nur noch "sozial",
"ökologisch nachträglich"
usw. gestaltet werden müsse. Die Realität
der kapitalistischen Globalisierung hat diese
Versprechungen platzen lassen: noch nie gab
es soviel Armut, so viele Menschen, die in Elend
überleben müssen. Der imperialistische
Krieg wird nach dem Einmarch in Afghanistan
als "nicht beendet" deklariert. Zudem
haben diese "linken" Regierungskoalitionen
entscheidend dazu beigetragen, dass Privatisierungen,
Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen und
(auf europäischer Ebene) Einhaltung der
Maastricht-Kriterien durchgesetzt wurden. Sie
haben schliesslich den Aspekt der "Sicherheit"
des Staates, die Repression gegen potentielle
GegnerInnen des Systems, verstärkt.
Die brutale Repression gegen die Demonstration
des Global Forums in Neapel, die noch unter
der Regierung des "centrosinistra"
(Mitte-Links-Koalition) stattfand und fast so
massiv wie die in Genua war, ist ein Beispiel
dafür.
Du
hast die Bewegung gegen die kapitalistische
Globalisierung angesprochen. Die massiven Demonstrationen
anlässlich des G8-Gipfels in Genua im Juli
2001 haben eine Phase der sozialen Konfliktualität
eröffnet, obwohl sie brutal unterdrückt
wurden. Welche Rolle spielt diese Bewegung in
der Neuformierung einer radikalen Opposition
gegen die Regierung Berlusconi und gegen das
System, von dem diese Regierung ein Ausdruck
ist?
Genua
hat ein neues politisches Subjekt zum Vorschein
gebracht, die sogenannte No global-Bewegung,
die in Wirklichkeit eine "Bewegung der
Bewegungen" ist und die in Italien mehrere
Monate lang den Kern einer sozialen Opposition
darstellte. Die Erfahrungen, die im Genoa Social
Forum schon in der Vorbereitungsphase der Demonstrationen
gemacht wurden, haben zu einer ersten Akkumulation
von Kräften einer antikapitalistischen
Strömung geführt. Während den
Diskussionen und den Aktionen ist eine Radikalisierung
eingetreten, die die Inhalte nicht weniger als
die symbolischen Formen der Bewegung betraf.
Kräfte wie das christlich-pazifistische
Netzwerk Rete di Lilliput, die ursprünglich
den Mächtigen im G8-Gipfel eine Reihe von
Forderungen unterbreiten wollten (mehr Geld
für Entwicklungshilfe, usw.), haben sich
im Laufe dieses Prozesses einer radikaleren
Position angeschlossen, die den G8-Gipfel delegitimierte
und deshalb auch die "rote" Sperrzone
im Stadtzentrum von Genua nicht anerkannte.
Eine
gemeinsame Front von verschiedenen sozialen
Kräften hat sich gebildet. Die Demonstrationen
des GSF haben es einer neuen, jungen Generation
erlaubt, politisch aktiv zu werden. (Die Erfahrungen
im Stadio Carlini haben im Übrigen diese
neue Radikalisierung und Aktivierung zum Ausdruck
gebracht: von dort ist ein Demonstrationszug
losgegangen, der dann von den Repressionskräften
massiv angegriffen wurde). Auf der anderen Seite
haben sich Kräfte der "traditionelleren"
ArbeiterInnenbewegung sehr stark an der Mobilisierung
nach Genua beteiligt: denken wir an die FIOM
(Branchengewerkschaft der MetallarbeiterInnen
innerhalb des Gewerkschaftsverbandes CGIL),
in der die Gewerkschaftslinke einen starken
Einfluss ausübt; oder an die Basisgewerkschaften
COBAS. Genua war kein Strohfeuer, denn die Leute,
die an den Demonstrationen teilgenommen haben,
haben sich später in lokalen Sozialforen
organisiert, die während Monaten einen
Keim der sozialen Opposition gegen die Regierung
Berlusconi bildeten. Die Bewegung hat den sozialen
Konflikt aktualisiert, die soziale Opposition
gegen die Regierung Berlusconi stark genährt.
Die
globalisierungskritische Bewegung stellt eine
reelle Opposition in der Gesellschaft dar, im
Unterschied zur parlamentarischen Opposition
der ehemaligen Regierungsparteien der linken
Mitte, die demokratische Fragen wie den Interessenkonflikt
aufgreifen, aber dies notwendigerweise völlig
losgelöst von den sozialen Fragen angehen,
weil sie bezüglich dem wirtschaftlichen
und sozialen Programm in den wesentlichen Punkten
keine Differenzen mit den Rechten haben. Ohne
diese radikalisierte, antikapitalistische "Stimmung"
in Teilen der Gesellschaft wäre es fraglich
gewesen, ob die späteren Mobilisierungen
sich so schnell und so eindeutig hätten
entwickeln können, insbesondere was den
Handlungsdruck auf einige Gewerkschaften betrifft.
Was
hat zum neuen Aufschwung eben dieser Mobilisierungen
geführt, bei denen diesmal die Lohnabhängigen
an vorderster Front standen, und die sich durch
lokale Streiks und Mobilisierungen im öffentlichen
Dienst im Dezember 2001 ankündigten?
Die
früheren Regierungen haben bei der Durchführung
ihrer Gegenreformen darauf geachtet, dass die
Mechanismen der "concertazione", der
Sozialpartnerschaft zwischen Regierung, Unternehmer
und Gewerkschaftsapparaten gewahrt blieben.
Das hat den Regierungen erlaubt, mit ein paar
"Konzessionen" die Gewerkschaften
in die Massnahmen einzubinden und den Widerstand
der Lohnabhängigen zu schwächen. Seit
Ende 2001 ist die Regierung Berlusconi aggressiver
und offensiver geworden. Sie hat unter anderem
die Änderung von Artikel 18 des Arbeitsstatuts
beschlossen, das Entlassungen "ohne triftigen
Grund" verbietet. Die Abschaffung dieses
relativen Kündigungsschutzes würde
zuerst gewerkschaftlich organisierte und aktive
ArbeiterInnen treffen. Obwohl die Gewerkschaftszentralen
bis zuletzt an der Konzertation festhalten wollten
und sie grundsätzlich weiterhin suchen,
musste die grösste unter ihnen, die CGIL,
wegen der Unnachgiebigkeit von Berlusconi und
wegen dem Druck in den eigenen Reihen, unter
anderem der FIOM, schliesslich um die Frage
von Artikel 18 den Bruch mit der Regierung vollziehen.
Die CGIL hat zu einer Demonstration am 23. März
aufgerufen, an der mindestens 1,5 Millionen
Menschen teilgenommen haben (einige Quellen
sprechen von bis zu 3 Millionen) und schliesslich
zu einem Generalstreik am 16. April.
Dieser
Generalstreik war ein Riesenerfolg. Nicht nur
"traditionelle" Sektoren der Industriearbeiterschaft
haben sich mobilisiert, sondern auch die Beschäftigten
des öffentlichen Dienstes, des Transportwesens
und des Verteilungssektors. In allen Städten
haben grosse Demonstrationen stattgefunden.
Frauen und Jugendliche, junge Arbeiterinnen
und Arbeiter, haben sich besonders stark beteiligt.
Die
Offensive der Regierung und der Patrons gegen
die Lohnabhängigen ist viel umfassender
als die Frage von Artikel 18 auf den ersten
Blick erscheinen lässt; sie betrifft die
Renten, das Gesundheitswesen, das Bildungswesen
usw. Auf allen Fronten behält Berlusconi
die Offensive. Die Gewerkschaftsführungen
konzentrieren sich dagegen auf die Beibehaltung
von Artikel 18. Vorläufig bleibt die Regierung
Berlusconi auf dieser symbolischen Frage unnachgiebig.
Sie könnte künftig ihre Linie ändern
im Rahmen eines Gesamtpakets, bei dem sie weiterhin
Fortschritte bei den Gegenreformen erzielt,
weil den Unternehmern die Beruhigung der sozialen
Konfliktualität ein Anliegen ist und weil
die Restrukturierungen trotz Artikel 18 durchgeführt
werden konnten. Auf eine solche Lösung
zielt die Strategie der Gewerkschaftsführungen
ab. Der Generalstreik wurde auch nicht in der
Perspektive einer Infragestellung der Regierung
Berlusconi geführt.
Um
aus dieser Sackgasse heraus zu kommen, haben
verschiedene Kräfte (Rifondazione Comunista,
die Gewerkschaftslinke, die Sozialforen) eine
Reihe von Referenden lanciert. Eines dieser
Referenden fordert die Ausweitung von Artikel
18 auf die kleinen Betriebe. Dadurch würden
9 Millionen Lohnabhängige zum ersten Mal
durch diese Kündigungsbestimmung geschützt.
Die Referenden dienen also dazu, offensiv zu
werden und die Einheit aller Lohnabhängigen
zu suchen. Nur so kann die Perspektive einer
sozialen und politischen Konfrontation mit der
Regierung Berlusconi eröffnet werden, die
schliesslich zum Sturz dieser Regierung führen
muss. Denn sollte das nicht passieren, wird
sich die Lage von Millionen von Lohnabhängigen
weiterhin verschlechtern. Die Unterschriftensammlung
für die Referenden läuft sehr gut,
obwohl sich die Gewerkschaftszentralen vehement
gegen sie ausgesprochen haben.
Für
die Referenden haben sich übrigens die
Sozialforen stark gemacht, die schon während
der Grossdemonstration am 23. März die
Losung "Artikel 18 für alle"
mitgetragen haben. Dass in diesem Prozess eine
gegenseitige Befruchtung von Lohnabhängigen-
und Antiglobalisierungs-Bewegung stattfindet,
ist klar: Genua hat die Revolte und die Opposition
gegen Neoliberalismus, Imperialismus und Kapitalismus
neu legitimiert und die Streiks und Demonstrationen
der Lohnabhängigen erlauben es, die antikapitalistische
Bewegung mit konkreten, sozialen Fragen zu verknüpfen
und gesellschaftlich zu verankern.
Im
April hat der Kongress der Rifondazione Comunista
stattgefunden. Welche Debatten haben dort stattgefunden,
zu welchen Resultaten haben sie geführt?
Welche Rolle spielt die PRC in den sozialen
Auseinandersetzungen?
Rifondazione
Comunista (PRC) ist aktiv an diesen Auseinandersetzungen
beteiligt, sie versucht, sie zu beeinflussen
und steht ihrerseits unter dem Einfluss der
sozialen Kräfte, die in den Auseinandersetzungen
aktiv werden. Rifondazione entstand 1991 aus
einem Teil der ehemaligen KPI, der die beschleunigte
"Sozialdemokratisierung" der Partei
nicht hinnehmen wollte, und aus Teilen der "nach
68er" extremen Linken (Democrazia Proletaria
u. a.). Die "bewahrenden" Kräfte
waren und sind zum Teil heute noch in dieser
Partei sehr stark, was sich 1998 zeigte. In
diesem Jahr führte der Beschluss des PRC,
die Regierung der linken Mitte, die von Romano
Prodi angeführt wurde und einen klaren
"neoliberalen" Kurs verfolgte, parlamentarisch
zu stürzen, zur Spaltung durch den damaligen
Parteipräsidenten: er gründete mit
Gefolgsleuten eine neue Partei (Comunisti Italiani),
die in der Regierungskoalition blieb.
Nach
Genua richtete sich die PRC stärker auf
die neue globalisierungskritische Bewegung aus.
Der Kongress der PRC vom 4. bis zum 7. April
2002 hat eine gewisse Wende nach links gebracht.
Sicher wird diese Orientierung in ihrer praktischen
Umsetzung auf Trägheit und auch auf Widerstände
stossen, aber dass sie angenommen wurde, ist
schon ein Schritt in die richtige Richtung.
Die Mehrheit der Partei hat sich auf den Aufbau
einer "alternativen" Linken geeinigt,
bei der politische Organisationen, Bewegungen
und Netzwerke wie die Social Forum koexistieren.
Die Partei will nicht die politische Vertretung
der sozialen Bewegung beanspruchen, wie es bei
der alten KPI unter Togliatti und seinen Nachfolgern
der Fall war, die sich als Vermittler zwischen
den Institutionen und (vor allem) der ArbeiterInnenbewegung
verstanden und die Bewegungen kanalisierten
und oftmals auch massiv bremsten.
Rifondazione
Comunista will dagegen die Bewegungen, die latent
oder offensichtlich antikapitalistisch sind,
aufbauen und stärken und die soziale Konfliktualität
fördern. Sie geht von einem irreversiblen
Scheitern der Politik der Parteien der linken
Mitte in Italien und in Europa aus. Wir haben
eine einheitliche Front gegen Berlusconi vorgeschlagen,
was die Verteidigung der konstitutionellen demokratischen
Garantien und die Abwehr der Angriffe des Regierungschefs
auf die RichterInnen betrifft. Das ist kein
strategisches Bündnis mit Kräften
wie den Linksdemokraten (DS): eine Regierungsbeteiligung
ist ausgeschlossen. Wir wollen uns am Aufbau
einer antikapitalistischen, sozialistischen
Linken in Europa beteiligen. Deshalb möchten
wir die Beziehungen, die die PRC auf internationaler
Ebene unterhält, nicht nach "ideologischen"
Kriterien gestalten und keinen Zusammenschluss
der Parteien, die sich kommunistisch nennen,
anstreben, sondern eben mit Kräften in
anderen Ländern zusammenarbeiten, die in
der oben genannten Perspektive arbeiten und
die in ihrer alltäglichen Politik die Grundpositionen
zum Beispiel vom Europäischen Sozialforum
in die Tat umsetzen: Nein zum Krieg und Nein
zum Neoliberalismus. Was die Jugendarbeit betrifft,
in der ich besonders stark involviert bin, bedeutet
dies, auf die Aktion ausgerichtete Netzwerke
aufzubauen, zum Beispiel zur Prekarität,
zu den studentischen Protesten, usw. Eine wichtige
Etappe in diesem Neuformierungsprozess der antikapitalistischen,
revolutionären Kräfte auf europäischer
Ebene wird das Europäische Sozialforum
in Florenz im kommenden November sein. (25.
Juni)
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