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Italien nach den Parlamentswahlen

von Salvatore Cannavò aus Inprekorr 440/441 Juli/August 2008


Die Wahlen vom 13. und 14. April in Italien kommen einem politischen Erdbeben gleich. Mit diesem politischen Rechtsruck geht ein Zyklus großer politischer Umwälzungen, der 1991 begonnen hat, zu Ende: die Auflösung der PCI, das Ende der Dominanz von DC und PSI im Zuge der Korruptionsverfahren (mani pulite, „saubere Hände“), die Neupositionierung des italienischen Kapitalismus in einer Weltlage, die durch das Ende der Sowjetunion und den Neoimperialismus der USA gekennzeichnet ist, und die Entstehung der PRC. Am Ende dieser Periode steht das Wiedererstarken der konservativen und rassistischen Rechten, der politische Niedergang der Nachfolgeorganisationen der PCI: DS, später PD und die Zersetzung der klassenkämpferischen antikapitalistischen Linken, der Verlust ihrer Parlamentssitze und ihre grundlegende Neuzusammensetzung.

DAS WIEDERERSTARKEN DER RECHTEN

Berlusconis Rückkehr an die Regierung war begleitet von einer recht inhaltsleeren Wahlkampagne, die v. a. auf die Unglaubwürdigkeit und das Scheitern der Regierung Prodi und seiner Bündnispartner abzielte. Seinen Wahlsieg verdankt er überwiegend der politischen Dürftigkeit von Unione und PD-Führung, den politischen Abwegen von Bertinotti und der PRCLeitung und der relativen Schwäche der Massenbewegungen.

Zum Teil jedoch verdankt sich der Wahlsieg Berlusconis eigener Stärke und insofern – und weil sich die Rechte dessen durchaus bewusst ist – steht uns voraussichtlich eine lange Regentschaft der Rechten ins Haus, die so stabil ist wie weiland unter der alten DC. Das ungewohnte Auftreten von Berlusconi – gemäßigt und dialogbereit gegenüber der Opposition: gleich nach der Vertrauensabstimmung im Parlament traf sich Berlusconi mit Veltroni, dem Führer der PD – erklärt sich auch aus dieser Position der Stärke. Immerhin hat die Rechte insgesamt eine Million Stimmen gegenüber 2006 hinzugewonnen. Diese Position nutzt Berlusconi, um die ohnehin äußerst kooperative Opposition ruhig zu stellen. Zudem geriert sich der Regierungschef nicht mehr ausschließlich als Haudrauf-Politiker, sondern versucht sich als Staatsmann zu profilieren, der in die Geschichte des Landes eingehen will.

Berlusconis Stärke und Verdienst liegen darin, dass er durch die Neubegründung des Mitte-Rechts-Bündnisses eine neue und enge Beziehung zu einer sozialen Basis geschaffen hat, die er noch weiter festigen will. Die Allianz besteht aus Popolo della Libertà (PdL) – einer neuen Partei aus dem Zusammenschluss von Forza Italia und Alleanza Nazionale (Ex-Faschisten) –, der Lega Bossis im Norden (8,3 % der Stimmen) und Movimento per l’autonomia im Süden, einer regionalen Formation, die in Sizilien an der Regierung ist. Deren politische Ziele sind eher diffus, zum Teil durchaus populär und in der Abeiterschaft präsent, jedoch mit einer reaktionären kulturellen und mitunter fremdenfeindlichen Orientierung durchsetzt.

GEGEN DIE GLOBALISIERUNG

Die italienische Rechte profiliert sich in eine Richtung, die man mit einem eher beunruhigenden Wortspiel als „national-sozial“ bezeichnen könnte. Das Wirtschaftsprogramm, das v. a. vom neuen Finanzminister Giulio Tremonti ausgearbeitet wurde – dessen jüngstes Buch: „Furcht und Hoffnung“ zum Beststeller avanciert –, hat zur zentralen Achse die Kritik an der „Kommerzialisierung“, d. h. an dem unkontrollierten und gnadenlosen Marktgeschehen. Dagegen setzt er auf staatliche Intervention zur Verteidigung der einheimischen Wirtschaft und Wahrung des Lebensstandards für die Schwächsten. Tremontis Credo lautet: „Es lebe der Markt, aber wenn es keinen Markt gibt, muss der Staat einschreiten.“ Und daraus leitet er eine neue Rolle der Nationalstaaten im Zeitalter der durchgängigen Globalisierung ab. Diese Politik, die mitunter als neomerkantilistisch gilt, appelliert ganz offen an die Ängste, die die internationale Konkurrenz unter den einzelnen Arbeitern und Kleinunternehmern hervorruft, die durch die Flut billiger Importe aus China in Schrecken versetzt werden und allmählich die EU für Schwindel halten. Es war kein Zufall, dass zur Präsentation des Wirtschaftsprogramms während der Wahlkampagne die Alitalia-Affäre in den Mittelpunkt gestellt wurde. Auf der einen Seite war da Prodi, der die EU-Auflagen befolgen und das Unternehmen an Air France verkaufen wollte; auf der anderen Seite Berlusconi, gewillt, die EU-Normen zu umgehen und die Luftfahrtgesellschaft als „italienisches“ Erbe zu behaupten. Zur Zeit ist das Ende noch offen, aber sicherlich ist es kein Zufall, dass der von Berlusconi designierte EU-Kommissar Antonio Tajani vom Justiz- ins Transportwesen versetzt worden ist. Alles in Allem haben wir es mit einem gemäßigten Neonationalismus zu tun, der einerseits den Erfordernissen der EU Rechnung tragen will – denn niemand aus der rechten Mitte will ernsthaft mit Europa brechen – und der andererseits an der Rolle der Nationalstaaten festhält und daher auch von vielen ArbeiterInnen als Schutzschild empfunden wird. Wohlgemerkt bestanden die ersten Maßnahmen der neuen Regierung darin, die Steuer auf den einfachen Immobilienbesitz abzuschaffen, Überstunden nicht mehr zu besteuern – was die Bedingungen für die ArbeiterInnen verschlechtert, aber aktuell als Mittel zur Mehrung der Kaufkraft wahrgenommen wird – und zugleich zu verkünden, dass dieSteuern für die „vergoldeten“ Bezüge der Spitzenmanager, die Banken und die Erdölindustrie erhöht würden. Ein wohlkalkulierter populistischer Schachzug, der sich trefflich fügt in das zweite und wichtigere Abliegen, das die Rechte umtreibt: den Kampf gegen illegale Einwanderung und die zentrale Rolle der inneren Sicherheit.

In den vergangenen Tagen haben wir unvorstellbare Bilder gesehen: italienische Bürger, die Roma-Lager überfallen, Barrikaden anzünden und Frauen und Kinder jagen. Diese Vorfälle haben sich in Neapel ereignet und wurden großen Teils von der Camorra angeheizt. Sie fanden aber die schweigende Zustimmung der BürgerInnen, und noch nicht einmal seitens der Regierung kam ein Wort der Verurteilung. Auch die „demokratische“ Opposition hüllte sich in Schweigen, ebenso der Vatikan. Dies wirft ein Schlaglicht auf das herrschende Klima, das auf der Klaviatur der durch die Wirtschaftskrise entfachten Ängste spielt und den Identitätsverlust und die innere Schwäche der Arbeiterbewegung ausnutzt, welche wiederum sich einmal mehr von dem wohl unausrottbaren Instinkt zum „Krieg unter den Armen“ leiten lässt.

Auf diese Art umgibt sich die Rechte mit einer breiten Front, die von den Lohnabhängigen über die KleinunternehmerInnen, die RentnerInnen, die mittleren Angestellten – denen die Furcht vor Kriminalität und Einwanderung im Nacken sitzt, obwohl Italien eine konstante Abnahme zu verzeichnen hat und die Städte, namentlich Rom, im europäischen Vergleich ausgesprochen sicher sind – bis hin zu weiten Teilen der Jugend reicht, die die Nase voll von der Linken jedweder Couleur haben.

DAS DEBAKEL DER LINKEN

Es gibt einen zweiten Faktor, der ebenso ausschlaggebend für das Wahlergebnis war wie Berlusconis Fähigkeit, die gesellschaftliche Dynamik in Italien korrekt zu erfassen. Die italienische Linke, zu der wir der Einfachheit halber auch den Teil der ehemaligen PCI, der heute als PD firmiert, mit der Linken aber nichts mehr gemein hat, hinzurechnen, hat sich selbst auf dem Gewissen. Fünfzehn Jahre nach der Auflösung der PCI und zweimaliger zwischenzeitlicher Regierungsbeteiligung ist es ihr nicht gelungen, ihre Strategie umzusetzen. Sie hat sich politisch isoliert und ihren Einfluss auf wesentliche Teile der Arbeiterbewegung verloren, die durch die jahrzehntelange Politik zugunsten der UnternehmerInnen und des herrschenden Kapitals verraten und verkauft worden sind.

Die strategische Öffnung gegenüber der „Mitte“ und die neoliberale Wende, die die italienische DS unter Umgehung der sozialdemokratischen Zwischenphase in direkte Richtung auf den „Dritten Weg“ nach dem Vorbild von Blair und Clinton vollzogen hat, mündete schlussendlich in eine Partei – die PD – die nur noch 33 % der Wähler hinter sich bringt, obwohl sie das Gros der ehemaligen PCI und DC mitgenommen haben. Allen glaubwürdigen Untersuchungen zufolge ist die Anhängerschaft der „Mitte“ noch weiter nach rechts gerückt – direkt zu Berlusconis PdL oder Casinis UDC, der mit Berlusconi ehemals verbündeten und mit 5,9 % aktuell zweitstärksten Oppositionspartei, während von links gerade 2–3 % zur PD gewandert sind. Mit der Entscheidung, den krisengeschüttelten italienischen Kapitalismus, der sich auf die traditionell eher rechten Mittel- und Kleinunternehmer stützt, direkt umhegen und repräsentieren zu wollen, hat sie den Rechten Vorschub geleistet, die ja letztlich die Interessen der italienischen Bourgeoisie glaubwürdiger vertreten. Die PD hat sich dadurch gegenüber potentiellen Verbündeten isoliert und um jede Chance bei der Wahl gebracht. Wieder einmal steht den Nachfolgern der PCI eine Durststrecke bevor, obwohl ein Teil der italienischen Bourgeoisie ihnen massive Schützenhilfe geleistet hat.

Die strategische Hinwendung der PD zum Neoliberalismus hat mehr der Rechten geholfen, indem diese sich zum Vertreter von Volkes Stimme aufschwingen und dessen – sicherlich auch rückschrittliche – Interessen artikulieren konnte, während der PD die undankbare Rolle zukam, die Bankenkrise auszubaden (alle italienischen Banker von Rang sind in irgendeiner Weise mit der PD verbandelt), sich offen für Fiat und den Unternehmerverband stark zu machen und die Öffentlichen Dienste abzubauen. Diese Politik und die Verflechtung mit den italienischen Konzernen führen zwangsläufig dazu, dass das einfache Volk bei den Wahlen nach rechts rückt, wie die Erfolge der Lega zeigen, zumal die Mitte-Links-Regierung davor keinerlei taktische Fehltritte ausgelassen hat. Von ihr ging keine Maßnahme oder auch nur symbolische Reform zur Sanierung der prekären sozialen Verhältnisse aus; Veltroni leistete Berlusconi noch Schützenhilfe, als dieser politisch in der Bredouille steckte; interne Grabenkämpfe ohne Rücksicht auf Verluste; Ignoranz gegenüber brisanten Themen von großem öffentlichen Interesse: Privilegien der Parlamentarier, „vergoldete“ Bezüge und Verschwendung öffentlicher Gelder.

Die linke Mitte hat lediglich versucht, sich als Bollwerk gegen die Rechte zu profilieren, ohne dabei sozialen Rückhalt zu suchen oder Ideale zu vermitteln. Damit hat sie letztlich der Rechten den Boden bereitet.

In diesem Zusammenhang erwiesen sich die Entscheidungen der klassenkämpferischen Linken, namentlich Rifondazione, als desaströs. Die Wahlen bedeuten für die PRC das unmissverständliche Aus, das wir von Sinistra Critica übrigens bereits im Vorjahr prognostiziert haben, als wir unseren Austritt aus der Partei und die Gründung unserer eigenen politischen Bewegung erklärten. Verschiedene Umstände sind für dieses Scheitern bezeichnend: das Unvermögen, die historische Aufgabe der PRC, nämlich eine kommunistische und klassenkämpferische Alternative zur PD zu begründen, konsequent zu betreiben; eine verkrustete und auf die Teilhabe an politischen Ämtern fixierte Führungsschicht, was zu Karrierismus und Machtstreben geführt hat; Arroganz und Narzissmus der Leitungsriege mit Bertinotti an der Spitze, die nur noch nach der Macht schielt. Letztlich war aber auch hier ein strategischer Irrtum ausschlaggebend, nämlich die Idee, dass man eine kommunistische und klassenkämpferische Kraft im Bündnis mit dem italienischen Kapitalismus aufbauen könne. Bertinotti nannte diese Option „Dynamischen Kompromiss“, eine pittoreske Variante des „historischen Kompromisses“, der ebenfalls à la longue an der Zersetzung der involvierten Parteien zugrunde gegangen ist.

Rifondazione hat während ihrer Regierungsbeteiligung alles falsch gemacht: für den Krieg votiert; erst eine Großkundgebung gegen Prekarität organisiert, um dann eine Regierungsmaßnahme abzusegnen, gegen die sie gerade auf die Straße gegangen war; Turigliatto ausgeschlossen, um zu beweisen, dass sie noch päpstlicher als der Papst ist; den Parlamentsvorsitz übernommen, um staatsmännische Verantwortung zu zeigen und mehr Verantwortung auf sich zu nehmen – Dinge also, die eine linke Wählerschaft mit einem Klassenstandpunkt ihr nicht nachsehen kann. Vor allem aber hat sie irrigerweise geglaubt, dass die Regierungsbeteiligung eine ernsthafte Strategie wäre, dass die linke Mitte Italiens empfänglich für die Anliegen der sozialen Bewegungen wäre und dass sie strukturell zu einer „Gesamtreform“ in der Lage wäre. Wer, wie wir, die Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen richtig interpretiert und verstanden hat, dass das Abflauen der Kämpfe in den Betrieben die Realität hinlänglich widerspiegelt – wie die Tarifabschlüsse gezeigt haben –, der konnte rechtzeitig auf diese Fehler aufmerksam werden.

Rifondaziones Abgesang wurde von der Illusion begleitet, zwei Gegensätze – Regierung und Opposition – auf einen Nenner bringen zu können. Es war illusorisch oder gar demagogisch, in dieser Frage einen Kompromiss finden und den Wiederaufbau einer kommunistischen Organisation im Gewand der Sozialdemokratie angehen zu wollen. Wahlerfolge mussten als Ersatz für fehlende soziale Verankerung herhalten, die in den vergangenen 15 Jahren von der Partei hinten angestellt worden war zugunsten irgendwelcher Wahlpöstchen.

Insofern stehen wir heute vor einer Situation, die von allgemeiner Demoralisierung und erheblich geschwundenem Engagement der Aktiven gekennzeichnet ist. Bezeichnend sind auch die unmittelbaren Reaktionen der Hauptverantwortlichen für diese Misere. Für den kommenden Parteikongress steht Rifondazione ein Kräftemessen ins Haus zwischen den Anhängern Bertinottis, die Rifondazione ad acta legen wollen und eine „Regenbogenlinke“ als potentiellen Bündnispartner für die PD anstreben, und den aus der früheren Democrazia Proletaria und dem Lager Cossuttas stammenden Mitgliedern, die die PRC als Organisation beibehalten wollen, ohne freilich über eine strategische Perspektive zu verfügen. Folgerichtig geht es in dem Rechenschafts-bericht der Parteiführung auch um Emblem und Kasse der Partei.

Gleichzeitig kommt aus den Reihen der PDCI, der von Cossutta nach Bertinottis Ausstieg aus der ersten Regierung gegründeten und inzwischen von Diliberto geführten Formation, der gleichlautende Vorschlag: „Einheit aller Kommunisten!“. Auch hier beschränkt sich die politische Strategie auf das Schwenken der Roten Fahne und das Hochhalten der Embleme. Und immer wieder tritt die gleiche alte Riege auf, die die Parteigeschichte der vergangenen 15 Jahre und das heutige Schlamassel zu verantworten haben. Die parteiinterne Opposition gegen Bertinotti wird ausgerechnet vom einzigen Regierungsminister von Rifondazione geführt, der sich jetzt zum Widersacher Bertinottis aufschwingt.

Mitverantwortlich für den Niedergang ist auch das Abflauen der sozialen Kämpfe – mit Ausnahme der Umweltbewegung – und das rasche Einschwenken der großen Gewerkschaften (CGIL, CISL und UIL) auf den Sozialpartnerschaftskurs der PD. Die Gewerkschaften haben den sozialen Kompromiss derart verinnerlicht, dass sie auch vor der neuen Regierung nicht haltmachen und jedem Konflikt aus dem Weg gehen. Damit zeichnet sich erneut eine konzertierte Aktion zwischen Regierung, Gewerkschaften und Unternehmerverband zu Lasten eines Flächentarifvertrags und zugunsten einzelbetrieblicher Vereinbarungen ab, was eine Ankoppelung der Lohnerhöhungen an die Produktivitätssteigerung zur Folge hat. Durch diese bisher den Mitte-Links-Regierungen vorbehaltene Herangehensweise wird die Regierung Berlusconi dauerhaft aufgewertet – waren ihr in der Vergangenheit doch immer harte Auseinandersetzungen mit der Arbeiterschaft beschieden.

Allerdings lehnt sich die wichtigste Einzelgewerkschaft – der Metallerverband FIOM – gegen diesen Kurs auf. Zugleich streben die Basisgewerkschaften erstmals in ihrer Geschichte eine Einheitsplattform und ein gemeinsames Vorgehen an.

DIE ALTERNATIVE LINKE

Auf derlei Ansätze zur Gegenwehr stützt sich die klassenkämpferische und antikapitalistische Linke.

Sinistra Critica ist zu den Wahlen angetreten, obwohl sie erst seit drei Monaten als selbstständige Formation existiert. Der Austritt aus Rifondazione war das Ergebnis einer einjährigen Grundsatzdiskussion auf breiter Ebene. Die Entscheidung zur Kandidatur fiel erst 50 Tage vor den Wahlen, und zwei Tage danach wurde am 19. Februar das Wahlprogramm vorgestellt. Dieses zügige Vorgehen war nurmöglich, weil der breite Führungskader der Organisation untereinander einig war und alle Mitglieder an einem Strang zogen. Das vorrangige Ziel war nicht, aus dem Stegreif eine Alternative zu der für uns schon vor den Wahlen erkennbaren Krise von Rifondazione und der Regierungslinken aus dem Hut zu zaubern, als vielmehr zu zeigen, dass es eine lebensfähige Alternative gibt, die über feste Prinzipien und einen aufgeschlossenen Führungskader verfügt. Unsere Mitglieder sind in diversen Städten und den wichtigsten Konfliktschauplätzen aktiv, und unter allen Organisationen der italienischen radikalen Linken verfügen wir über das größte Potential in der Jugend. Unser Wahlziel haben wir erreicht und können daher mit den 0,5 %, d. h. 170 000 Wählern zufrieden sein. Sicherlich repräsentieren wir damit keine ausreichende Alternative zur PRC, aber es verleiht uns eine Existenzberechtigung und trägt zur Stärkung und zum Aufbau einer neuen klassenkämpferischen und antikapitalistischen Linken bei.1 Während des Wahlkampfs konnten wir die Zahl unserer aktiven Ortsgruppen fast verdoppeln, und die Wahlanalyse zeigt, dass überall, wo Sinistra Critica mit einer organisierten Aktivität vor Ort vertreten ist, mehr als 1 % (und bis zu 3 %) erzielt werden konnten.

Das Gesamtergebnis der antikapitalistischen und klassenkämpferischen Linken liegt noch höher, wenn man die Stimmen der PCL von Marco Ferrando dazu zählt. Die heutige PCL zählte schon in der PRC zur Opposition, bis sie sich dann ein Jahr vor Sinistra Critica als Partei gründete. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Propagandaarbeit, v. a. im Fernsehen, und ihr Wahlergebnis (0,6 % oder 200 000 Stimmen) verdankt sich auch dem ausdrücklichen Bezug auf den „Kommunismus“. Dieser Anspruch spiegelt sowohl ihre Stärken als auch ihre Grenzen wider. Sie verfügt über eine sehr geschlossene Struktur, neigt zur Selbstdarstellung und hält sich faktisch von den Alltagskonflikten fern. Es ist auch kein Zufall, dass sie den Vorschlag von Sinistra Critica für ein Wahlabkommen abgelehnt und es statt dessen vorgezogen hat, sich als unabhängige Kraft 1 Siehe hierzu auch den Beitrag „Elf Punkte für eine neue antikapitalistische Klassenlinke „ in dieser Ausgabe der Inprekorr aufzubauen und im Wahlkampf eine „männliche, erwachsene Arbeiterklientel“ zu bedienen, die von den historischen Parteien der Linken frustriert ist und ihren Protest in irgendeiner – auch symbolischen oder ohnmächtigen – Weise zum Ausdruck bringen will. Bezeichnend ist daher auch der relative Wahlerfolg in einstigen PCIund später PRC- oder PDCI-Hochburgen. La Repubblica hat in einer Wahlanalyse die Wählerwanderungen von Sinistra Critica und PCL aufgeschlüsselt. Danach kommen die Stimmen der PCL vorwiegend von ehemaligen PDCI-Wählern und nur zum geringen Teil von der PRC oder den Grünen. Die Stimmen von Sinistra Critica hingegen stammen v. a. von ehemaligen Wähler der PRC, aber auch der PDCI und der Grünen. Das Gros ihrer Wähler ist weiblich und jung und ist an exponierter Stelle in den Gewerkschaften oder Bewegungen aktiv. Es sind AktivistInnen, die – statt zu resignieren – demonstrativ an ihrem Engagement auf Seiten der Linken festhalten und gegen den Anpassungskurs der beiden an der Regierung beteiligten kommunistischen Organisationen protestieren wollen.

DIE OPPOSITIONELLEN SOZIAL FOREN

Woran können wir also anknüpfen, wenn wir eine neue Organisation aufbauen wollen? Starre Organisationsschemata helfen dabei nicht weiter, die erlittene Niederlage zu überwinden. Der Aufbau einer neuen klassenkämpferischen Linken muss von Grund auf und ohne die alten Führungscliquen erfolgen. Wir brauchen eine konkrete Praxis, um eine breite und wirkliche soziale Opposition aufbauen zu können, die sich nicht auf oberflächliche Propaganda beschränkt, sondern langfristig und tiefenwirksam angelegt ist. Natürlich sind dabei auch Protestkundgebungen gegen die in Italien aufkommenden obskurantistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen nützlich. Aber in erster Linie müssen wir eine solide gesellschaftliche Verankerung herstellen und ein politisches Programm entwickeln, das auf die umfassende Krise der westlichen kapitalistischen Gesellschaften eine angemessene Antwort liefert.

Die Lösung des Problems kann nicht nach einem altbekannten politischen Muster oder durch übereilte organisatorische Zusammen-schlüsse erfolgen. Die von uns als Sinistra Critica vorgeschlagene Vorgehensweise richtet sich an zwei Koordinaten aus. Einerseits wollen wir an der Umsetzung unserer politischen Vorstellungen und somit am Aufbau unserer Organisation festhalten, ohne uns deswegen als die Partei schlechthin auszurufen oder einen weiteren konstituierenden Prozess zu propagieren. Wir müssen uns eine Zentrale zulegen und ein angemessenes Leitungsbüro, das nicht von Berufsfunktionären, sondern von wechselnden Teilzeitkräften geleitet wird. Für Anfang Juli ist unser erstes landesweites Fest in Rom geplant. Zugleich wollen wir eine Vorkonferenzdebatte eröffnen, um Anfang 2009 unseren ersten ordentlichen Kongress durchzuführen, der auch Auftakt für die Europa-wahlkampagne sein soll. Insofern stehen wir zu unserem Engagement in der EAL und wollen zu ihrer organisatorischen Stärkung beitragen.

Die zweite Achse ist sogar noch wichtiger. Es geht um den Aufbau einer „Einheitsfront“ gegenüber dem Vormarsch der Rechten. Damit soll eine angemessene soziale Opposition geschaffen und die soziale Verankerung v. a. in den Betrieben erzielt werden, um Stützpunkte für den sozialen Widerstand zu schaffen. Insofern ist eine neue klassen-kämpferische Gewerkschaft von entscheidender Bedeutung. Daher müssen wir an die Kräfte anknüpfen, die in den letzten Jahren als entschiedene Opposition auch während der Mitte-Links-Regierung aufgetreten sind – wie etwa die OrganisatorInnen der Anti-Bush-Demo am 9. Juni 2007 – und sich entschlossen auf die Seite des modernen Proletariats und dessen Bedürfnisse und Anliegen gestellt haben. Die Inhalte werden hierbei von der kapitalistischen Offensive in Europa vorgegeben: Widerstand der ArbeiterInnen, Verteidigung der Öffentlichen Dienstleistungen, Antirassismus, Ökologie. Diese Themen müssen europaweit angegangen werden, und vielleicht wird dann zu einer Zeit, in der die soziale Lage in Italien düster und bedrohlich erscheint, auch manchen EuroskeptikerInnen klar, dass eine klassenkämpferische Bewegung nur über die Landesgrenzen hinaus wirksam sein kann.

Daher treten wir für die Bildung von oppositionellen Sozialforen ein, die sich untereinander über Inhalte und Strategie einer antikapitalistischen Linken verständigen, wobei es einen gemeinsamen Eckpfeiler geben muss: keine Beteiligung an einer kapitalistischen Regierung, sondern Sturz des Kapitalismus. Dafür steht uns eine langwierige und geduldige, aber hartnäckige und entschlossene Arbeit bevor. Die Gründung von Sinistra Critica erfolgt zum Zeitpunkt einer historischen Niederlage und kann sich anrechnen, die Energien einiger Tausend AktivistInnen aufgefangen und für die vor uns liegende Zeit nutzbar gemacht zu haben. Die Umstände unserer Entstehung haben wir uns nicht ausgesucht. Aber jetzt, wo wir da sind, stellen wir uns entschlossen den anstehenden Aufgaben.

Übersetzung aus dem Italienischen: MiWe