Die
Sozialausgaben werden um insgesamt 20,3 Milliarden
Euro zusammengestrichen, wenn man die Kürzungen
hinzurechnet, die schon im Laufe des Jahres
beschlossen wurden.
Das
Militär muss acht Prozent weniger ausgeben.
Bedeutende Programme müssen entsprechend
der Strategischen Überprüfung der
Verteidigungspolitik abgespeckt oder verschoben
werden.
Die
Kürzungen sind zusätzlich zu denen
zu verstehen, die von der Vorgängerregierung
geerbt wurden. Schon vor der Wahl hatte Labour
dem Nationalen Gesundheitsdienst Kürzungen
von 22,5 Milliarden Euro verordnet.
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In
Großbritannien wächst jedes dritte
Kind jetzt schon in Armut auf. |
Die
Koalitionsregierung will das Haushaltsdefizit
Großbritanniens von 122,8 Milliarden Euro
in den nächsten vier Jahren dramatisch
verringern. Das Defizit in Höhe von elf
Prozent des Bruttoinlands-produkts (BIP) ist
eins der höchsten aller OECD-Länder
und das zweithöchste in Europa nach Irland.
Großbritanniens gesamte Staatsverschuldung
erreich-te im September 64,6 Prozent des BIP,
oder 1,073 Billionen Euro. Allein im vergangenen
Monat lieh sich die Regierung achtzehn Milliarden
Euro. Das ist die höchste jemals erreichte
Summe in einem September.
Diese
Rekordverschuldung hat die Regierung dem Druck
von „Wächtern der Staatspapiere“
ausgesetzt, wie die Financial Times sie nennt.
Das sind Großinvestoren, die Staatsanleihen
verkaufen, um Regierungen zu zwingen, die Staatsausgaben
zu senken. Griechenland, Irland, Portugal und
Spanien haben diesen Druck schon zu spüren
bekommen und mit harten Kürzungsprogrammen
reagiert. Das britische Sparpaket ist vergleichsweise
härter als alle anderen, aber die Anleihemärkte
und das Pfund konnten ihre Position am Mittwoch
trotzdem nur knapp behaupten.
Schon
vorher waren so viele Bestandteile der Sparpläne
durchgesickert, dass die Maßnahmen keine
Überraschung mehr für die Märkte
waren und diese das Kürzungsniveau schon
eingepreist hatten. Die Händler sind jetzt
eher besorgt, dass das Tempo der von Schatzkanzler
George Osborne angekündigten Kürzungen
Großbritannien in eine weitere Rezession
stürzen könnten.
Durchschnittlich
werden in allen Ministerien neunzehn Prozent
der Ausgaben gestrichen. Aber einige Ministerien
müssen wesentlich höhere Kürzungen
verkraften.
Das
Innenministerium muss 23 Prozent einsparen,
und das Außenministerium 24 Prozent. Die
Kommunen müssen mit Überweisungen
der Zentralregierung auskommen, die um 28 Prozent
geringer als bisher ausfallen. Universitäten
drohen Kürzungen von vierzig Prozent. Die
Regierung will die Ausgaben pro Student um 9.000
Pfund senken. Das Ministerium für Kultur,
Medien und Sport muss 41 Prozent einsparen.
Das Budget für Sozialwohnungsbau wird gar
um sechzig Prozent gekürzt.
Der
Wohnungsbau ist besonders stark betroffen. Neue
Sozialwohnungsmieter werden wesentlich höhere
Mieten zahlen müssen, die auf achtzig Prozent
des Marktniveaus steigen werden. Diese Mieter
werden nur kurzfristige Mietverträge bekommen
und nicht die langfristige Sicherheit wie die
Altmieter haben. Einkommensschwache Menschen,
die eine Wohnung brauchen, werden auf den privaten
Wohnungsmarkt gedrängt oder laufen Gefahr,
obdachlos zu werden. Kürzungen beim Wohnungsgeld
für Niedrigverdiener werden dazu führen,
dass zahlreiche Mieter Räumungsklagen zum
Opfer fallen.
Den
Behinderten drohen brutale Kürzungen. Der
Beschäftigungs- und Unterstützungszuschuss,
der physisch oder psychisch Arbeitsunfähigen
Hilfe leistet, wird auf ein Jahr begrenzt. Danach
muss der Behinderte die gleichen Beschäftigungsbedingungen
akzeptieren wie alle anderen auch. Behinderte,
die im Moment Mobilitätsbeihilfen bekommen,
werden diese Leistung verlieren, wenn sie in
einer Betreuungseinrichtung leben. Viele werden
in Zukunft praktisch im Zimmer eingesperrt sein.
Die
Änderungen bei den Leistungen für
Behinderte und die Anhebung des Rentenalters
von 65 auf 66 Jahre bis 2020 wird die Senioren
hart treffen. Kürzungen bei den kommunalen
Ausgaben werden alle behinderten und älteren
Bürger treffen, die auf Leistungen der
Kommunen wie Transportdienste, Tageszentren
und ambulante und stationäre Pflege angewiesen
sind.
Die
Regierung behauptet, ihr Kürzungspaket
sei “fair”, und die Lasten würden
auf alle Teile der Gesellschaft aufgeteilt.
Vorläufige Berechnungen auf Grundlage von
Zahlen des Finanzministeriums weisen allerdings
darauf hin, dass die ärmsten zehn Prozent
der Bevölkerung am härtesten getroffen
werden. Der größte Teil der Kürzungen
wird Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen
treffen. Das Institut für Haushaltsstudien
bezeichnete das Ergebnis der Ausgabenprüfung
als „regressiv“, weil die ärmere
Hälfte der Gesellschaft die größten
Lasten zu tragen hätte.
Schulen
wurde 0,1 Prozent mehr Geld versprochen. Aber
dieser Zuwachs wird nur einigen Schulen helfen
und wird durch höhere Schülerzahlen
aufgefressen. Das meiste des sogenannten zusätzlichen
Geldes wird anderswo im Bildungsetat eingespart
werden müssen.
Etwa
40.000 Lehrer werden nach offiziellen Angaben
ihren Arbeitsplatz verlieren. Die Finanzierung
für 16- bis 19-Jährige wird gekürzt.
Sie werden den Bildungszuschuss verlieren, der
als Anreiz gedacht war, weiter die Schule zu
besuchen oder eine berufliche Ausbildung zu
machen. Jugendliche und Kinder werden unter
den Kürzungen für kommunale Jugendeinrichtungen
und psychologische und soziale Betreuung leiden.
Journalisten
vergleichen die Politik der Regierung mit den
1920er-Jahren, und andere erinnern an die Sparmaßnahmen
der Nachkriegs-Labour-Regierung, als der Staat
darum kämpfte, die Schulden abzutragen,
die im Zweiten Weltkrieg aufgehäuft worden
waren. Beide Vergleiche sind jedoch unpassend.
Die Labour-Regierung von 1945 baute gleichzeitig
den Sozialstaat auf, während sie den Haushalt
zu konsolidieren versuchte. Und in der Zeit
vor dem Zweiten Weltkrieg existierte überhaupt
noch kein moderner Sozialstaat.
Schatzkanzler
Osbornes Haushaltsrevision ist der Versuch,
soziale Errungenschaften zurückzudrängen,
die in Großbritannien im ganzen zwanzigsten
Jahrhundert geschaffen wurden. Seine Maßnahmen
senken nicht nur die Staatsausgaben, sondern
demontieren den Sozialstaat.
Die
Regierung nutzt die Finanzkrise als Chance,
um die gesellschaftliche Uhr im großen
Stil zurückzudrehen. Ihr Kassensturz hat
zum Ziel, die gewaltige Ungleichheit, die sich
in den letzten dreißig Jahren entwickelt
hat, festzuschreiben und zur Regel zu machen.
Darin drücken sich die wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Interessen der Finanzaristokratie
aus, die heute in Großbritannien und weltweit
das Sagen hat.
Nicht
nur das Ausmaß der geplanten Kürzungen
ist beispiellos in der Geschichte, das gleiche
gilt auch für die Reaktion der Labour Party
und der Gewerkschaften. An einer gewerkschaftlichen
Demonstration vor dem Unterhaus beteiligten
sich am Dienstag gerade mal 500 bis 2.000 Menschen.
Für die kommenden Wochen sind hier und
da im Land ähnlich zurückhaltende
Kundgebungen geplant.
Ed
Miliband, Führer der Labour Party, nahm
nicht einmal an der Demonstration teil, obwohl
er das versprochen hatte. Mehrere Labour-Sprecher
gaben zu, die Opposition unterstütze das
Ziel, den Sozialstaat zu beschneiden: Zum Beispiel
sagte Schattenkanzler Alan Johnson, er akzeptiere
die Notwendigkeit, Leistungen für Behinderte
zu beschneiden, wie im Disability Living Allowance
Plan vorgesehen. Er unterstützt auch die
Abschaffung der Kinderfreibeträge für
bedürftige Familien in Höhe von 2,4
Milliarden Pfund.
Der
ehemalige Labour-Schatzkanzler Alistair Darling
hat sich bereits für Haushaltskürzungen
ausge-sprochen, die noch weiter gehen als in
den 1980er Jahren unter Margaret Thatcher. Hätte
Labour die Wahlen gewonnen, hätten sie
jedem Ministerium mindestens zwanzig Prozent
der Ausgaben gekürzt.
In
den 1920er Jahren haben die Sparmaßnahmen
letztlich zum Generalstreik von 1926 und einer
Herrschaftskrise in Großbritannien geführt.
Heute tun die Gewerkschaften alles, um vergleichbare
Reaktionen auf die Angriffe der Koalitionsregierung
auf Arbeitsplätze und Existenzbedingungen
zu verhindern.
Lord
Fowler, der unter Margaret Thatcher erst Staatssekretär
für Gesundheit und Soziales und später
Arbeitsminister war, hat vor sozialen Unruhen
gewarnt: „Wir stehen vor einer turbulenten
Zeit von Demonstrationen, Protesten und Arbeitskämpfen“,
sagte er. Dabei haben die Gewerkschaften bisher
nichts dergleichen angedroht.
Die
Gewerkschaftsführer haben nie bestritten,
dass das durch die Bankenrettung entstandene
Haushaltsdefizit wieder abgebaut werden müsse,
noch haben sie Einwände gegen den Kriegseinsatz
im Irak und in Afghanistan, der nun schon fast
zehn Jahre dauert. Sie befürchten nur,
dass zu rasch durchgesetzte Kürzungen eine
Rezession auslösen könnten.
Weder
die Labour Party, noch die Gewerkschaften werden
die radikalen Sparpläne verhindern. Widerstand
zu leisten, ist nur möglich, wenn sich
eine Rebellion gegen die Organisationen entwickelt,
die sich der Unterdrückung des Klassenkampfs
verschrieben haben.
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