Der
Prozess der Privatisierungen im Gesundheitsbereich
nahm bisher aufgrund der politischen Hindernisse
jedoch einen speziellen Verlauf. Denn die Regierungen,
die die Gesundheitssysteme, die bisher für
eine nahezu universelle Gesundheitsversorgung
– im Allgemeinen mit niedriger Kostenbeteiligung
der PatientInnen – aufkamen, zerschlagen
und privatisieren wollen, werden schnell unpopulär.
Der Prozess der Privatisierung der Gesundheitssysteme
in Großbritannien und in anderen Ländern,
wo in den 1980er Jahren ganze Bereiche, wie
die Gasversorgung und das Fernmeldewesen an
Aktionäre verkauft und in profitorientierte
Unternehmen verwandelt wurden, macht diese Widersprüche
deutlich.
Und
dies aus drei Gründen: Der erste liegt
in der Tatsache, dass sich politische Parteien,
die sich von den neoliberalen Parteien à
la Thatcherismus der 1980er Jahre abheben wollen,
auf diesem heiklen Thema nicht zu weit exponieren
dürfen. Dies vor allem in einem politischen
Klima, in dem es wenige Sympathien für
die Privatwirtschaft und die Privatisierung
gibt.
Zweitens
hat die Privatwirtschaft selbst nur ein beschränktes
Interesse daran, den gesamten Gesundheitssektor
zu übernehmen: Sie konzentriert sich in
ihrer Rosinenpickerei auf die Übernahme
von profitträchtigen Bereichen, insbesondere
auf die unkomplizierte elektive1 Chirurgie
– den Hauptpfeiler der privaten Medizin
weltweit. In Großbritannien zeigten die
privaten Firmen wenig Interesse, die Bereiche
der Unfall- und Notfallmedizin, komplexe und
risikobehaftete Operationen oder die Pflege
von chronisch kranken Betagten und die gemeinnützige
Arbeit irgendwelcher Art zu übernehmen.
Und
schlussendlich sind die Leistungsmöglichkeiten
des privaten Sektors beschränkt. Die Gesundheitssysteme
sind heute viel umfangreicher als in den 1980er
Jahren. Die private Gesundheitsindustrie konzentriert
sich jedoch auf kleine Krankenhäuser und
die Bedienung einer kleinen, wohlhabenden Minderheit.
Sie verfügt bei weitem nicht über
die finanziellen und organisatorischen Mittel,
um an eine Übernahme des gesamten Gesundheitssektors
denken zu können.
Die
Privatisierung unter Thatcher
In
England begann der Prozess der Privatisierung
Mitte der 1980er Jahre unter der Regierung von
M. Thatcher, mit der Veräußerung
von außerklinischen Teilen des Krankenhausbereiches
wie der Reinigung, der Anlieferung von Speisen
und Getränken und den Pförtnerdiensten
an den meistbietenden Anbieter. Mit dem Ergebnis,
dass eine ganze Reihe von kleineren, unerfahrenen
privaten Firmen aufgetreten sind. In einem Umfeld
von arbeitsintensiver und im Allgemeinen schlecht
bezahlter Arbeit versuchten diese Firmen, die
existierenden Kosten zu unterbieten, um Verträge
an Land zu ziehen und gleichzeitig Profit zu
machen, indem sie weniger Personal einstellten,
dieses härter arbeiten ließen und
den Lohnabhängigen schlechtere Bezahlung
und Arbeitsbedingungen anboten. Dies führte
wiederum in einem Großteil Großbritanniens
zu einer praktischen Prekarisierung bei den
Reinigungsdiensten und untergrub die Personalausstattungen
und die Standards in der Reinigung und in der
Hygiene. Dies galt sogar für diejenigen
Krankenhäuser, die die Reinigung nicht
an auswärtige Firmen vergaben; denn deren
Manager waren verpflichtet worden, mit den niedrigen
Standards und den niedrigen Löhnen des
privaten Sektors zu konkurrieren.
Noch
eine Generation später wird das Nationale
Gesundheitssystem (National Health Service,
NHS) in weiten Teilen Großbritanniens,
vor allem Englands, wo die wenigsten dieser
Privatisierungen rückgängig gemacht
wurden, von den Folgen dieser Privatisierung
heimgesucht. Die im Krankenhaus zugezogenen
Infektionen, schlechte Standards, schlechte
Arbeitsmoral und Lücken im Personalbestand
schaffen weiterhin Probleme und belasten das
Pflegepersonal und andere Angestellte, die eigentlich
andere Aufgaben hätten, mit zusätzlicher
Arbeit, die eigentlich durch die Privatfirmen
erledigt werden müssten.
Die
Privatisierungen im Bereich der außerklinischen
Dienstleistungen waren in Großbritannien
verbunden mit massiven Ausgabenkürzungen
im öffentlichen Sektor. Dies trieb die
Wartelisten und -zeiten in die Höhe. Die
Absicht der Thatcher-Regierung war, damit mehr
Leute dazu zu bringen, für private Krankenversicherungen
zu bezahlen. Trotz dieses Druckes decken die
privaten Krankenversicherungen nur eine kleine
Minderheit – weniger als ein Achtel –
der Bevölkerung Großbritanniens ab.
In Wales, Schottland und Nordirland liegt dieser
Wert noch viel niedriger.
1989
veröffentlichte die Thatcher- Regierung
ein Weißbuch unter dem Titel „Working
for Patients“ (Im Dienste der Patienten),
das das Programm für die Schaffung eines
internen Marktes und die Einführung des
Wettbewerbs zwischen NHS-Anbietern um einen
Vertrag mit dem NHS festlegte. Dieser Markt
brachte eine Spaltung zwischen den „Käufern“
und den „Anbietern“ von NHS-Dienstleistungen
und auch eine Spaltung unter den AllgemeinmedizinerInnen
(AGM): Zwischen einerseits den VertragspartnerInnen
mit einem entsprechenden Zugriff auf die vertraglichen
Mittel, um sich für das günstigste
Angebot für ihre PatientInnen umschauen
zu können und, andererseits, den anderen
AGMs, deren PatientInnen an Mengenverträge
gebunden sind, die durch die lokalen Gesundheitsbehörden
ausgehandelt wurden. Diese Spaltung brachte
ihrerseits einen sehr großen Zuwachs an
Verwaltung und an bürokratischen Kosten
mit sich und lenkte so die Mittel weg von der
eigentlichen Patientenbetreuung. Aber durch
sie lebte auch die Vorstellung neu auf, dass
das Gesundheitswesen eher eine Form von Geldübertragung
als eine öffentliche Dienstleistung sei.
Es war der erste Schritt, das Gesundheitswesen
erneut der Warenform zu unterwerfen, nachdem
es in den umfassenden Reformen von 1948 als
NHS, weitgehend aus dem Marktzusammenhang herausgelöst
worden war.
Das
Weißbuch von 1989 leitete gleichzeitig
die Privatisierung eines wachsenden Teils der
durch die lokalen Regierungen erbrachten sozialen
Dienstleistung ein. Der Grund für dieses
zunehmende Engagement der lokalen Regierungen
liegt darin, dass die durch das NHS erbrachten
Leistungen seit 1948 mit Steuern finanziert
wurden und für alle PatientInnen kostenlos
waren, während die durch die Kommunen geführten
sozialen Dienste den BenutzerInnen immer bedarfsabhängig
belastet wurden. Diese Privatisierung öffnete
der Schließung von Zehntausenden von Betten
für die Spezialpflege in NHS-Krankenhäusern
Tür und Tor: Diese waren von der Öffentlichkeit
für ältere Menschen zur Verfügung
gestellt worden. Ebenfalls wurden Zehntausende
von Plätzen in gemeindeeigenen Pflegeheimen
geschlossen, da die Gemeindebehörden gezwungen
waren, über 70 % des zur Verfügung
stehenden Geldes für die Pflegefinanzierung
im privaten Sektor zu verwenden. In der Folge
dehnte sich der von profitorientierten Firmen
geführte private Heimpflegedienst schnell
aus. Diese Entwicklung wurde mehrfach begünstigt:
Erstens durch Verträge mit lokalen Behörden,
zweitens durch eine Finanzierung mit öffentlichen
Geldern und drittens durch die Abwälzung
der Kosten auf die einzelnen PatientInnen. Diese
Änderungen wurden 1993, nach allgemeinen
Wahlen, eingeleitet. Im ersten Jahr waren nach
einer Schätzung der Financial Times über
40 000 Leute gezwungen, ihr Eigenheim zu verkaufen,
um für die Pflegekosten unter diesem neuen
System aufkommen zu können.
Die
verdeckte Privatisierung unter New Labour
1997
errang Tony Blair seinen berühmten Wahlsieg
über die Konservativen. Er versprach, das
NHS zu retten und den „kostspieligen und
bürokratischen internen Markt“ im
Gesundheitswesen „wegzufegen“. Aber
während es zu einer gewissen Neustrukturierung
und zu der Abschaffung des Vertragssystems für
AGMs gekommen war, behielt New Labour diese
Spaltung zwischen Käufern und Anbietern
bei. Damit wurden die Grundlagen für ein
neues, sogar noch stärker wettbewerborientiertes
Gesundheitssystem beibehalten und die NHS-Krankenhäuser
wurden in einen einseitigen Wettbewerb mit den
privaten Krankenhäusern gezwungen –
etwas, das die Thatcher-Regierung nie gewagt
hatte.
2000,
nachdem die Regierung unter Tony Blair die Austeritätspolitik
der Konservativen weitergeführt hatte,
trat sie mit einem neuen NHS-Plan hervor, in
dem über zehn Jahre hinweg die Ausgaben
kontinuierlich erhöht werden sollten; davon
sollte ein wachsender Anteil den privaten Anbietern
zugutekommen. Die Regierung hatte bereits damit
begonnen, Abkommen für die Finanzierung
des Baus von Krankenhäusern mittels der
„Private Finance Initiative“ (Initiative
zur privaten Finanzierung, PFI) zu unterzeichnen.
Dies ist eine äußerst teure Finanzierungsart
für neue Gebäude, mit hohen Zinsen
und Profiten für den privaten Sektor für
die nächsten 25, 30 oder mehr Jahre. Im
Jahre 2011 gibt es einige PFI-Krankenhäuser
aus der ersten Welle, die bereits zwei- bis
dreimal die Kapitalkosten für deren neuen
Gebäude bezahlt haben und noch weitere
20 bis 30 Jahre bezahlen müssen.2
Und dies, während die Kosten der sogenannten
„unitary charge“ (Einheits- Gebühr)
im PFI-Vertrag sie dazu zwingt, Ausgabenkürzungen
vorzunehmen, Betten und Abteilungen zu schließen
und Pflegepersonal zu entlassen. Gegenwärtig
wurden bis jetzt für ca. 11 Mrd. £
(ungefähr 12,5 Mrd. Euro) neue Krankenhäuser
gebaut oder neue PFI-Verträge unterzeichnet.
Dies bedeutet für das NHS bis 2045 insgesamt
Nettokosten von 64 Mrd. £ (ungefähr
73 Mrd. Euro).
Im
Jahre 2000 wurde durch den Gesundheitsminister
Alan Milburn das erste Konkordat mit den privaten
Krankenhäusern unterzeichnet: Aufgrund
dieser Vereinbarung sollen NHSKrankenhäuser
für die Behandlung ihrer PatientInnen in
privaten Krankenhäusern bezahlen, angeblich
um die Wartelisten in Zeiten hohen Andrangs,
z. B. zur Winterszeit, zu entlasten. Das Ergebnis
dieser Maßnahme ist, dass die Kosten für
diese hauptsächlich risikoarmen und routinemäßigen
Behandlungen viel höher ausgefallen sind,
als wenn sie in NHS-Krankenhäusern ausgeführt
worden wären.
2003
wurde durch die Regierung von New Labour ein
Gesetz durchgepeitscht, um unter dem Namen „NHSFoundation
Trusts“ (Treuhänderische autonomen
Krankenhausorganisationen zu schaffen. Diese
sollen außerhalb der Verwaltungs- und
Verantwortungsstrukturen des NHS angesiedelt
sein. Lokale Abgeordnete konnten fortan im Parlament
keine Fragen mehr zu den lokalen Krankenhäusern
stellen, sofern diese in Stiftungen umgewandelt
worden waren. Diese Stiftungen sind die am besten
ausgestatteten und leistungsfähigsten Krankenhäuser
und sie konnten fortan über die Profite
aus ihrer Tätigkeit frei verfügen,
ungeachtet der finanziellen Probleme, denen
andere Anbieter und Dienstleistungen im Gesundheitswesen
der betreffenden Gemeinden gegenüberstehen.
Diese umstrittene Politik kam im Unterhaus nur
sehr knapp mit einer Mehrheit von gerade mal
17 Stimmen durch. Eines der Eingeständnisse,
die die Regierung machen musste, um der Vorlage
genügend Stimmen zu sichern war, dass diesen
Stiftungen strenge Grenzen hinsichtlich der
erlaubten Profite aus der privaten medizinischen
Versorgung und der Behandlung von PrivatpatientInnen
auferlegt wurde. Bezeichnenderweise besteht
einer der umstrittenen Punkte der von der gegenwärtigen
konservativen Regierung vorgeschlagenen „Reform“
darin, diese Höchstgrenze der Profite zu
beseitigen, die diese Stiftungen aus der privaten
medizinischen Versorgung ziehen können.
Dies spornt tatsächlich die Schaffung von
Elite- NHS-Stiftungen in London und in anderen
großen Städten an, nicht um sich
um die öffentlich finanzierten NHSPatientInnen
zu kümmern, sondern um aus Großbritannien
und der ganzen Welt vermögende und zahlende
Kunden anzulocken.
Sehr
wichtig für den NHS-Plan war ebenfalls
die Hinzuziehung von ausländischen, profitorientierten
privaten Krankenhausketten, um neue unabhängige
und spezialisierte Behandlungszentren (independent
sector treatment centres, ISTCs) zu schaffen,
die einfache elektive Eingriffe, fast ausschließlich
auf der Basis von Tagespflege, vornehmen. Diese
Verträge sahen von der Regierung Vorauszahlungen
für den Anreiz vor, um diese Firmen zu
einer Beteiligung und zu Investitionen in Großbritannien
zu ermutigen. Diese Verträge sahen ebenfalls
um durchschnittlich 11 % über dem NHS-Standard
liegende Tarife für alle durch die ISTCs
durchgeführten Eingriffe vor, obwohl alle
ernsthaften und komplizierten Fälle weiterhin
durch das NHS und nur die geringfügigen
Fälle durch Privatklinken behandelt wurden.
Diese durch die BürokratInnen des Department
of Health (Gesundheitsministerium) zentral ausgehandelten
Verträge waren auch diesbezüglich
bemerkenswert, als dass sie zum Vorneherein
die Bezahlung für eine feste Anzahl von
PatientInnen garantierten, und zwar unabhängig
von der Anzahl PatientInnen, die sich überzeugen
ließen, sich in einem ISTC statt in einem
ihrer lokalen NHS-Krankenhäuser behandeln
zu lassen. In vielen Fällen erwies es sich
als schwierig, genügend PatientInnen zu
überzeugen, diese neuen Zentren zu benutzen.
Im Ergebnis wurden unter diesem Vertrag für
viele Tausende von Operationen Dutzende Millionen
Pfund bezahlt, ohne dass sie jedoch durchgeführt
worden wären.
In
einer zweiten Welle dieser Verträge wurde
die Behauptung, dass sie Zusatzkapazitäten
für den Abbau der Wartezeiten bereitstellen
würden, denn auch fallengelassen. Die Minister
begannen vielmehr offen zu erklären, dass
sie dazu dienten, für den Wettbewerb unter
den NHS-Anbietern zu sorgen; einige Minister
behaupteten sogar, dass sie die NHS-Anbieter
destabilisieren wollten, damit sie ihre Dienstleistungen
verbesserten. Der Wettbewerb war jedoch sehr
einseitig, da die Verträge für ISTCs
nicht für alle NHS-Anbieter offen waren.
Vielmehr wurde der Wettbewerb nur einigen privaten
Anbietern überlassen, die sich so über
eine fünfjährige Vertragsperiode die
garantierten Profite sichern konnten. Anders
ausgedrückt wurde mit diesen Maßnahmen
dafür gesorgt, dass von den existierenden
NHS-Anbietern Geld genommen wurde, um damit
den Aufbau eines neuen privaten Sektors zu subventionieren,
für den es weder einen Markt noch eine
Existenzberechtigung gab, abgesehen von der
Unterstützung durch die Regierung.
Jedes Mal, wenn die Regierung von New Labour
kritisiert wurde, dass sie durch die Hinzuziehung
von privaten Anbietern eine allmähliche
Privatisierung der öffentlichen Dienste
betreibe, antworteten die Minister, dass es
gar keine Privatisierung gebe, da die NHSDienstleistungen
weiterhin frei zugänglich bleiben würden.
Interessanterweise wird neuerdings von der von
den Konservativen angeführten Koalitionsregierung
genau dasselbe Argument vorgebracht, um ihre
noch weiter gehende Privatisierung der Gesundheitsversorgung
zu verteidigen.
Im
Jahre 2005 erließ der Leiter des NHS eine
Direktive mit dem Titel „Commissioning
a Patient led NHS“ (Auftrag für ein
NHS unter der Leitung der PatientInnen), ein
weiterer Schritt in der beabsichtigten Zerschlagung
der Strukturen des NHS. Der zentrale Begriff
hier ist „Leitung”: Der ganze Vorschlag
zielt auf die Schaffung eines neuen wettbewerbsorientierten
Marktes ab, insbesondere auf die Durchtrennung
der organischen Verbindungen zwischen den Gesundheitsdiensten
auf Gemeindeebene und den nationalen Diensten
hinsichtlich der medizinischen Grundversorgung.
Damit sollten diese Dienste dem Wettbewerb geöffnet
und deren möglicher Übernahme durch
„soziale Unternehmen“ der Weg bereitet
werden. Dabei muss betont werden, dass die sozialen
Unternehmen außerhalb des NHS angesiedelt
sind. Es ging also darum, die lokalen Gesundheitsdienste
mit einem jährlichen Budget von insgesamt
über 10 Mrd. £ (etwas über 11
Mrd. Euro) für den Wettbewerb zu öffnen
und so deren Privatisierung voranzutreiben und
die allein in England bis zu 250 000 Lohnabhängigen
in diesem Sektor zu gefährden. Diese Vorschläge
waren 2005 heftig umstritten und lösten
einen politischen Streit und mehrere Rücktritte
von Ministern aus. 2006 konzentrierte man sich
eher auf Ausgabenkürzungen, die die lokalen
Gesundheitsverantwortlichen in ganz England
verschiedenen Gesundheitsdiensten aufgezwungen
hatten, um die Defizite auszugleichen. In vielen
Fällen konnten angedrohte Krankenhausschließungen
durch lautstarke Kampagnen des „traditionellen
Englands“ erfolgreich abgewehrt werden.
Aber
die Regierung beharrte auf ihrer Absicht, das
NHS zu restrukturieren und immer mehr private
Anbieter beizuziehen, die mit NHS-Mitteln bezahlt
werden sollten. 2009 wurde ein weiterer Versuch
unternommen, bestimmte Gemeindedienste für,
wie es hieß, „jeden willigen Anbieter“
zu öffnen, seien dies nun nicht-profitorientierte
„soziale Unternehmen“ oder multinationale
Firmen. Gleichzeitig wurden die Verträge
für AGMs veröffentlicht und für
private Firmen ausgeschrieben; mittlerweile
sind Dutzende von solchen Verträgen im
Besitz von multinationalen Firmen und von mittleren
Unternehmen. Es wurde auch immer klarer, dass
sich hinter den Kulissen der private Sektor
in der Bereitstellung von Psychiatriepflegeplätzen
breit machte und so eine Lücke in der Versorgung
durch das NHS zu viel höheren Kosten füllt:
Um 2009 kosteten die Psychiatriepflegeplätze
das NHS jährlich über 800 Mio. £
(etwas über 900 Mio. Euro)
Der
Versuch, die privaten Anbieter durch Übernahmen
an den lokalen Gesundheitsdiensten zu beteiligen,
einem Bereich an dem sie vorher kaum Interesse
gezeigt hatten, war an die Einrichtung eines
neuen „Gremiums für Zusammenarbeit
und Wettbewerb“ (Cooperation and Competition
Panel) gekoppelt. Dieses sollte als Beschwerdeinstanz
fungieren, die durch die geschädigten privaten
Anbieter angerufen werden konnte, sofern sie
sich unberechtigterweise aus dem Angebotswettbewerb
in einem bestimmten Sektor ausgeschlossen fühlten.
Ebenso wurde hinter den Kulissen durch die mit
der Labour Partei verbundenen großen Gewerkschaften
starker Druck in die andere Richtung ausgeübt.
Diese machten klar, dass sie nicht bereit wären,
diese Politik mitzutragen und dass die Verbindung
zu den Gewerkschaften gefährdet sei, sofern
das NHS nicht bevorzugt behandelt würde.
Gegen
Ende von 2009 kündigte der Gesundheitsminister
Andy Burnham einen Rückzug aus der Politik
des „jeder willige Anbieter“ an
und unterwies die Beauftragten in den lokalen
Gesundheitsdiensten, dass das öffentliche
NHS als bevorzugter Anbieter von Gesundheitsdiensten
zu behandeln sei, außer im Falle von erdrückenden
Gegenargumenten. Die Unternehmer des Privatsektors
waren aufgebracht. Anfang 2010 wurde das „Gremium
für Zusammenarbeit und Wettbewerb“
durch die Vertretung von freiwilligen Organisationen,
die sich mit anderen privaten Anbietern zusammengetan
hatten, angegangen. Sie beklagten sich, dass
einige Dienstleitungen in Ostengland bevorzugt
an NHS-Anbieter anstatt an „jeden willigen
Anbieter“ vergeben würden. Sie verlangten,
dass die Politik von Andy Burnham fallengelassen
würde. Überraschenderweise stellte
sich Gordon Brown auf die Seite von Burnham,
und die Politik wurde bis zu den allgemeinen
Wahlen vom Mai 2010 unverändert weitergeführt.
Die
Konservativen gehen zum offenen Angriff über
…
Die
neue konservative Koalitionsregierung veröffentlichte
im Juli 2010 ein neues Weißbuch, welches
auf die Zerschlagung des NHS und auf dessen
Ersetzung durch einen Fonds aus Steuergeldern
abzielte, mit dem die Dienstleistungen von einem
weiten Spektrum von weitgehend privatisierten
Anbietern eingekauft werden sollten. Mit der
allerersten sich aus dem Weißbuch ergebenden
Bestimmung im Gesetzesentwurf wird der Auftrag
des Staatssekretärs abgeschafft, den kostenlosen
Zugang zu einer umfassenden und universellen
Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Er wird
fortan nicht mehr gegenüber dem Parlament
verantwortlich sein; ein neuer Aufsichtsrat
ohne öffentliche Rechenschaftspflicht wird
die Aufträge überwachen. Wenn der
Gesetzesentwurf angenommen wird, werden alle
lokalen Verwaltungsstrukturen des NHS abgeschafft:
Gegenwärtig wird das NHS durch 150 Gesundheitsverwaltungen
(Primary Care Trusts, PCTs) geführt, die
über ein Auftragsbudget von 80 Mrd. £
(etwas über 90 Mrd. Euro) verfügen,
um die Gesundheitsleistungen für ihre lokale
Bevölkerung einzukaufen. Die PCTs werden
ihrerseits von 10 strategischen Gesundheitsbehörden
(Strategic Health Authorities) geführt.
Diese sind ebenfalls für die Ausbildung
des medizinischen Personals und der Pflegekräfte
verantwortlich. Diese Strukturen sollen beseitigt
werden.
Der Gesetzesentwurf schlägt vor, dass ein
Auftragsbudget von 80 Mrd. £ den lokalen
Arbeitsgemeinschaften von AGMs überlassen
wird, die eigenständig über die Verwendung
des Geldes entscheiden. Im Gesetzesentwurf sind
keine bestimmten Anforderungen hinsichtlich
der Abdeckung der Bevölkerung durch die
Arbeitsgemeinschaften und von deren organisatorischer
Struktur enthalten, wie auch jede Vorschrift
bezüglich der öffentlichen Beteiligung
oder derjenigen von Nicht-MedizinerInnen fehlt.
Vielmehr schließt der Gesetzesentwurf
ausdrücklich KrankenhausärztInnen
und –pflegepersonal gleich welcher Stufe
und alle Fachpersonen des Gesundheitswesens
von jeder spezifischen Rolle in dieser neuen
Managementstruktur aus.
AGMs
haben über die vergangenen Jahre in der
Verwaltung von Budgets, wie auch in der Erzielung
der von den Konservativen gerade durch diese
Reformen erhofften Vorteile für die PatientInnen
eher schlecht abgeschnitten. So waren in den
1990er Jahren, als die AGMs über Millionen-Budgets
verfügten, die lokalen Krankenhäuser,
Psychiatrien und andere Gesundheitseinrichtungen
mit größeren finanziellen Problemen
konfrontiert. Neuerdings haben die Experimente
mit der „praxisbasierten Auftragsvergabe“
gezeigt, dass beinahe alle allgemeinmedizinischen
Praxen Mühe hatten, mit ihren Budgets zurecht
zu kommen und diese oft überschritten haben;
und dies selbst in Bereichen, wo diese Experimente
als Beispiele des Erfolges hochgepriesen wurden.
Ferner sind die AGMs typischerweise nicht als
Manager ausgebildet. Nur in wenigen Fällen
haben sie die Zeit, den Willen oder die Energie,
sich selbst um diese Auftragsvergabe zu kümmern.
Stattdessen werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit
diese Aufgabe an spezialisierte Teams delegieren,
die sie entweder einstellen oder die dann extern
als private Berater arbeiten; viele von diesen
bringen sich bereits in Position, um von den
AGMs fette Verträge für die Verwaltung
von Auftragsbudgets zu ergattern.
Ein
anderer wichtiger Teil des Weißbuches
und des Gesetzesvorschlags ist der Antrag, alle
klinischen Leistungen – nicht nur die
gemeindebasierten Gesundheitsdienste, und nicht
nur die elektiven Eingriffe wie in den ISTCs
– für alle „willigen Anbieter“
zu öffnen, seien diese nun profitorientiert
oder nicht. Die Liste der willigen Anbieter
darf fortan nicht mehr durch die AGMs und ihre
Arbeitsgemeinschaften geführt werden, sondern
soll im nationalen Rahmen durch Monitor geführt
werden, den gegenwärtigen Regulator der
öffentlichen Stiftungen, der als Regulator
aller finanziellen Angelegenheiten des NHS vorgesehen
ist. Alle NHS-Krankenhäuser, die –
hauptsächlich als Folge von finanziellen
Problemen – momentan nicht öffentliche
Stiftungen sind, müssen gemäß
Gesetzesvorschlag bis 2014 öffentliche
Stiftungen werden, aufgeteilt oder dann durch
öffentliche Stiftungen übernommen
werden.
Der
Gesundheitsminister Andrew Lansley machte sein
persönliches Ziel klar: Er will noch weiter
gehen und alle öffentlichen Stiftungen
sobald wie möglich aus der Bilanz des NHS
entfernen – und sie in soziale Unternehmen
überführen. Das bedeutet, dass die
Angestellten von öffentlichen Stiftungen,
die vorderhand noch bei dem NHS angestellt sind,
ihre NHS-spezifischen Arbeitsbedingungen, Lohnskalen,
Ausbildungsmöglichkeiten, Pensionen und
Rechte verlieren werden. Die ungefähr 1
Million NHS –Angestellten in England werden
auf ungefähr eine Hand voll reduziert werden
und die Gesundheitsversorgung wird nicht mehr
durch NHS-Institutionen, sondern durch öffentliche
Stiftungen, andere soziale Unternehmen oder
durch profitorientierte Unternehmen erbracht
werden. Dabei muss betont werden, dass diese
Veränderungen im Zusammenhang eines Effizienzsteigerungsprogrammes
mit geschätzten Einsparungen von 20 Mio.
£ (gegen 23 Mio. Euro) bis 2014 steht:
Dieses Vorhaben steht so im ersten Abschnitt
des Weißbuches von Andrew Lansley vom
Juli 2010 und führte mittlerweile im ganzen
Land zu einem Prozess von Stellenabbau, Sparmaßnahmen
und Schließungen.
Dies
lässt es umso weniger einleuchtend erscheinen,
dass die Überantwortung des 80 Milliarden
Budgets an die Arbeitsgemeinschaften der AGMs
diese zu nichts anderem als zu Rationierungs-Behörden
werden lässt, die darüber entscheiden,
welche Leistungen gekürzt oder den lokalen
PatientInnen vorenthalten werden, um ausgeglichene
Budgets zu haben. Monitor gab neulich eine Warnung
heraus, dass in Tat und Wahrheit ein größeres
Sparpotential vorhanden sei, und dass das Ziel
für Einsparungen bis 2014 sogar bei 30
Mrd. £ liegen könne.
….
und zögern
Der
Gesetzesentwurf wurde immer umstrittener, weil
seine Hintergründe und der Inhalt auch
denjenigen klar wurde, die anfänglich durch
seine trügerische Rhetorik oder durch seine
Komplexität verwirrt wurden; er umfasst
immerhin 360 Seiten, viel mehr als die Gesetze,
die 1948 zur Einrichtung des NHS führten,
und mehr als alle bisherigen Gesetze zum Gesundheitswesen.
In
ihrer Konferenz vom Frühjahr hat die Liberaldemokratische
Partei, die den Gesetzesvorschlag durch alle
Stadien im Unterhaus unterstützte, plötzlich
grundsätzliche Mängel festgestellt
und forderte eine Reihe weitreichender Korrekturen.
Die Partei und ihr Führer, Nick Clegg,
haben in den lokalen Wahlen vom 5. Mai 2011
eine schmerzliche Niederlage erlitten und haben
ihre Rhetorik in der Folge verschärft.
Sie wollten sich mit ihrer NHS-Politik als unabhängige
und standfeste Kraft innerhalb der Koalition
profilieren.
All
dies darf nicht auf die Goldwaage gelegt werden,
aber es deutet doch auf das wachsende Unbehagen
hin, das sich in allen Berufsvereinigungen im
Umfeld der Gesundheitsversorgung breitmacht,
allen voran dem Royal College of General Practitioners
(Königliches Kollegium der AGMs: www.rcgp.org.uk/),
die British Medical Association (Britische medizinische
Vereinigung: www.bma.org. uk/), viele hochrangige,
auch rechtsstehende, Denkfabriken, Parlamentsausschüsse,
die Gewerkschaften und die breitere Öffentlichkeit.
Es ist sehr wohl möglich, dass David Cameron
eher seinen Gesundheitsminister aus der Regierung
entlassen wird, als dass er die Aussicht auf
einen größeren politischen Schaden
für das durch ihn aufpolierte Image der
Konservativen in Kauf nimmt. Unglücklicherweise
ist diese Regierungskrise nicht das Ergebnis
des Druckes der Gewerkschaften oder der Labour-Opposition
oder irgendwelcher erhöhter politischer
Aktivität. Vielmehr spiegelt sie die politischen
Schwierigkeiten der rechten Regierungsparteien
in Europa wider, sobald sie die umfassende und
universelle Gesundheitsversorgung zerschlagen
und die Einfallstore für den privaten Profit
öffnen wollen.
Die
Aufgabe der AktivistInnen besteht darin, den
Druck bis zum vollständigen Rückzug
des Gesetzesentwurfs aufrechtzuerhalten und
die Kampagne gegen die Abbaumaßnahmen
weiterzuführen; diese haben dem Gesundheitswesen
großen Schaden beigefügt und führen
in vielen Bereichen zu einer wachsenden Liste
von Behandlungen, die durch das NHS nicht mehr
abgedeckt werden.
Organisationen
wie Keep Our NHS Public (www.keepournhspublic.com/
index.php) werden weiterhin versuchen, eine
wichtige Rolle zu spielen bei der Aufrechterhaltung
und Weiterentwicklung des ideologischen Kampfes
gegen diejenigen, die behaupten, dass es ganz
und gar unwichtig wäre, ob die Leistungen
öffentlich oder privat erbracht würden.
John
Lister ist Medizinjournalist und leitet die
Vereinigung Health Emergency (Notfall Gesundheitswesen:
www.healthemergency.org. uk). Er ist einer der
Gründer der Kampagne Keep Our NHS Public
(Für die Aufrechterhaltung eines öffentlichen
NHS: www.keepournhspublic. com). Er hat diverse
Bücher zu diesem Thema verfasst, darunter
Health Policy Reform (2011). Der Artikel wurde
aus dem Englischen übersetzt; die Zwischentitel
und die Fußnote wurden der französischen
Version entnommen, die in inprecor Nr. 573/574,
Mai/ Juni 2011 erschienen ist.
Übersetzung:
Willi Eberle |