|
"Zornige
Gymnasiasten" demonstrieren in Paris
gegen die geplante Rentenreform der Regierung
von Nicolas Sarkozy. Hunderte Schulen
wurden zeitweise blockiert, außerdem
beteiligen sich sechs Universitäten
an den Protesten |
Bislang
hatte der französische Präsident
noch angenommen, er werde beim Streit um die
französische Renten„reform“
in einer strategisch vorteilhaften Position
gegenüber den Gewerkschaften und den
Demonstrierenden bleiben - auch wenn sich
ein Teil der Protestbewegung radikalisiere.
Noch den ganzen September 2010 hindurch hatte
er angenommen, es werde bei einigen (wenngleich
relativ großen) Protestzügen bleiben,
und danach „schon wieder einrenken“.
Deswegen, so flüsterten es ihm einige
seiner Berater ein - beispielsweise der wirtschaftsliberale
„Intellektuelle“ Alain Minc -,
sei eine gewisse Dosis Radikalisierung in
einem Teil der Protestbewegung (d.h. Rangeleien
mit den Ordnungskräften, einzelne Besetzungsaktionen,
notfalls ein paar kleine Feuerchen hie und
da) durchaus gar nicht so schlecht.
Von
der generellen Annahme ausgehend, dass das Regierungslager
das Kräftemessen gewinnen werde, glaubten
sie nämlich, dies werde die zögernde
bürgerliche Mitte in der Arme der Hardliner
des rechten Regierungslagers treiben. Im Sinne
einer Polarisierung, die aber aus Sicht der
Staatsspitze nur dann „sinnvoll“
ist, wenn sie aus einer Position der Stärke
heraus agiert. Dass diese Situation gegeben
sei, flüstert etwa auch sein „Berater
für Tendenzen in der öffentlichen
Meinung“, Patrick Buisson, dem französischen
Staatsoberhaupt ein (so deutet es jedenfalls
,Le Monde' vom 12. Oktober 10 explizit an).
Buisson war in den 1980er Jahren Chefredakteur
der rechtsextremen Wochenzeitung ,Minute' (ungefähr
vergleichbar mit einem Zwischending aus „Deutsche
National-Zeitung“ und „Junge Freiheit“)
und schwankte lange Jahre hindurch zwischen
den Neofaschisten unter Jean-Marie Le Pen und
den Bürgerlich-Konservativen. Er ist auf
jeden Fall Anhänger einer autoritären
Politik, die es aber - so seine Zielsetzung
- zugleich schafft, durch nationalistische oder
rassistische Einsprengsel die niedrigsten Instinkte
in der Gesellschaft zu schüren, zu kanalisieren
und politisch zu nutzen.
|
Schüler
protestierten am Freitag vor dem Pariser
Élysée-Palast gegen die Abbaupläne |
Unter
diesem Einfluss stehend, rief Präsident
Sarkozy vor Untergebenen aus: „Wir sind
bereit, den Dingen ins Auge zu sehen. Bei der
Hauptsache (Anm.: der Anhebung des Renteneintrittsalters
für die breite Mehrheit der Lohnabhängigen)
nachzugeben, ist keine tragbare Annahme - da
könnten wir auch gleich auf die Macht verzichten.
Zurückweichen, wie Dominique de Villepin
(Anm.: im April 2006 beim Kündigungsschutz
und dem ,Ersteinstellungsvertrag' CPE) oder
Jacques Chirac (Anm.: im Dezember 1995 bei den
Renten in den öffentlichen Diensten) taten,
ist keine Option für uns. Wenn wir einem
langen Streik entgegen müssen, werden wir
es tun. Ein Teil des Landes wird uns dafür
dankbar sein, dass wir die Extremisten in die
Knie gezwungen haben. Wir können noch den
Kampf um die öffentliche Meinung gewinnen.“
(Zitiert n. ,Le Canard enchaîné'
vom heutigen 14. Oktober 10.) Ähnlich sieht
auch der oben zitierte Alain Minc die Chance
für Sarkozy, in einem Szenario à
la Thachter - gegenüber dem britischen
Bergarbeiterstreik im Jahr 1985, der den Gewerkschaften
eine satte Niederlage beibrachte - zu gewinnen.
Im
Sinne eines solchen Vorgehens hat Sarkozy die
Kontakte und „Kompromiss“kanäle
zu den Gewerkschaften, die er in den letzten
Jahren offen zu halten verstanden hatte, faktisch
geschlossen. Sein Berater für Sozialpolitik,
Raymond Soubie, der normalerweise keine 48 Stunden
in seinem Büro verbrachte, ohne irgendeinen
leitenden Gewerkschaftsfunktionär zu treffen,
ist seit mindestens einer Woche abgetaucht,
und nichts ist von ihm vernommen worden. Außer,
dass er demnächst seinen Dienst an den
Nagel hängen wird und in der Privatwirtschaft
Geld verdienen gehen wird… (Laut ,Canard
enchaîné', a.a.O.) Raymond Soubie
war der Mann, der darauf gedrungen und es seit
2008 erfolgreich vermocht hatte, auch die Führungsspitze
der - bei den Bürgerlichen einstmals als
„kommunistisch“ verhassten - CGT
in einen „modernen sozialen Dialog“
einzubinden. Heute kann die Regierung nicht
mehr nur nicht auf Drähte zur CGT bauen,
sondern selbst die rechtssozialdemokratisch
geführte und ausgesprochen „moderat“
auftretende CFDT bietet ihr im Augenblick keine
Stütze. Wird ihr doch schlichtweg nichts
angeboten.
|
Streikende
Raffinerie-Arbeiter am Eingang eines Benzindepots
in Berre l'Etang. |
„Keine
weitere Zugeständnisse mehr - Ende der
Fahnenstange“
Am
Mittwoch, den 07. Oktober hatte Nicolas Sarkozy
persönlich die letzten „Zugeständnisse“
an die Opponenten und Kritiker/innen der Renten„reform“
verkündet. Dabei handelte es sich freilich
um „Konzessionen“, die zu dem Zeitpunkt
längst - seit Wochen - durch die Presse
verkündet, und im Vorgeld von Sarkozys
Ankündigung sogar noch eingedampft worden
waren. So soll das Alter der „vollen Rente“
(ab dem keine Abzüge wg. fehlender Beitragsjahre
mehr vorgenommen werden) zwar auf 67 angehoben
werden - die entsprechende Bestimmung ist inzwischen
durch beide Parlamentskammern verab-schiedet
worden -, aber es soll eine Ausnahmeregelung
für Müttern von mindestens drei Kindern
geben. Letztere sollen auch weiterhin ab 65
zum vollen Rentenbezug in Ruhestand gehen können,
sofern sie nachweisen können, dass sie
aufgrund ihrer Kinder mindestens ein Jahr zu
arbeiten aufgehört hatten. (Die Rente bemisst
sich dann, wie für alle anderen Lohnabhängigen,
nach den „25 besten Berufsjahren“.
Vor einer „Reform“ unter der Rechts-regierung
Edouard Balladurs im Jahr 1993 waren es die
zehn besten Verdienstjahre gewesen. Der Unterschied
zwischen beiden Regelungen macht für viele
Lohnabhängige mehrere hundert Euro Rente
pro Monat aus.)
Diese
Ausnahmeregelung hatte sich seit längerem
abgezeichnet. Nur ist nun noch eingeschränkt
worden, und gilt nur für mindestens dreifache
Mütter, die in den Jahren 1955 bis 1959
geboren wurden: Für die Jahrgänge
davor wird die „Reform“ noch nicht
greifen, wenn sie in Rente gehen, und für
die Jahrgänge ab 1960 wird dann doch das
Rentenalter „67“ (bzw. 62 bei vorhandenen
vollen Beitragsjahren) gelten. Eine zweite,
erwartete, Ausnahmeregelung betrifft Körperbehinderte:
Wenn sie lohnabhängig arbeiten, müssen
diese mindestens zu 50 Prozent - bislang 80
Prozent - als behindert eingestuft sein, um
früher (mit 25 Beitragsjahren oder im Alter
von 55) in Rente gehen zu können.
Seitdem
haben Sarkozy und das Regierungslager jedoch
unmissverständlich klargestellt, dass es
nunmehr keine weiteren Zugeständnisse mehr
geben wird, und dass „der Kern der Reform“
- das höhere Renteneintrittsalter 62 (mit
vollen Beitragsjahren respektive unter Inkaufnahme
von Abschlägen) oder 67 (ohne Abzüge)
- auf keinen Fall zur Disposition steht.
Drei
Sektoren mit „Motor“rolle schälen
sich heraus: Raffinerien, Häfen und die
Jugend
Als
Nicolas Sarkozy sich „eine Dosis von Radikalisierung“
wünschte, dachte er jedoch nicht daran,
dass die Dinge sich eindeutig zu seinen Ungunsten
zuspitzen könnten. Aus dem Sommerurlaub
war er mit der Zuversicht zurückgekehrt,
dass die Gewerkschaften ein Kräftemessen
entweder zu vermeiden suchen oder nicht gewinnen
könnten. Doch dabei hatte er einen wichtigen
Punkt übersehen.
Sein
früherer Arbeits- & Sozialminister
Xavier Bertrand, der im März 2010 aufgrund
seines zu niedrigen Wahlergebnisses bei den
Regionalparlamentswahlen aus der Regierung geschasst
worden war, brachte es in diesen Tagen auf den
Punkt: „Im Sommer hat die Bettencourt-Affäre
die Lage (grundlegend) verändert.“
Also die nicht aufhörenden Enthüllungen
über die Praktiken des korrupten Schweins,
pardon, seit März d.J. amtierenden Arbeits-
& Sozialministers Eric Woerth und seine
Beziehungen zu schwerreichen (und das Finanzamt
betrügenden) Damen und Herren wie Liliale
Bettencourt oder der Familie Wildenstein. Just
am heutigen Tag kam übrigens heraus, dass
Eric Woerth sich selbst eine stattliche Zusatzrente
als früherer Regionalparlamentarier der
Picardie gesichert hat, nachdem diese wegen
leerer Kassen beinahe gedeckelt worden wäre…
Die Tatsache, dass es just Eric Woerth ist,
der für die Renten„reform“
verantwortlich zeichnet (und für seinen
Herrn & Meister Nicolas Sarkozy in der ersten
Reihe steht), trug dazu bei, die Wut zu steigern
- und den Gewerkschaften den „Respekt“
vor ihm zu nehmen.
Nur
könnte Nicolas Sarkozy also auf Dauer die
Rechnung, die er zuvor aufmachte, ohne den Wirt
durchkalkuliert haben. Die letzten Wochen haben
jedenfalls gezeigt, dass die Bewegung ein außerordentlich
starkes Mobilisierungspotenzial und eine ungewöhnliche
Lebens-dauer besitzt. Nach zwei „Aktionstagen“
mit Streiks und Demonstrationen vor den Sommerferien
(am 27. Mai und 24. Juni), von denen zumindest
der zweite gelungen war, hat am Dienstag dieser
Woche nun bereits der vierte Aktionstag in Folge
seit dem Ende der Sommer-urlaubsperiode stattgefunden.
07. September, 23. September, 02. Oktober und
nun der zwölfte Oktober… Und die
Bewegung wurde noch stärker, statt schwächer!
Üblicherweise müssten die zum Protest
Mobilisierten in einer solchen Phase gewisse
Ermüdungserscheinungen aufzeigen. Doch
das Gegenteil scheint der Fall: Noch im September
schienen Teile der Demonstrationszüge eher
von Resignation (gepaart mit dem Wunsch, zumindest
noch mal zu mobilisieren, um das Gesicht zu
wahren und um es jedenfalls versucht zu haben)
geprägt. Heute hingegen wächst die
Wut. Dies hängt auch damit zusammen, dass
die Protestzüge sich in ihrer Alterszusammensetzung
deutlich verjüngt haben - und am Dienstag
dieser Woche mit einem fast sommerlich schönen
Wetter.
Am
Dienstgag, den 12. Oktober demonstrierten laut
Angaben des französischen Innenministeriums
1,23 Millionen Menschen in ganz Frankreich (nach,
derselben Quelle zufolge, „997.000“
am 23 September und „899.000“ am
02. Oktober). Nur wurden ihre Zahlen erstmals
öffentlich durch eine Polizeigewerkschaft
- UNSA Police - angegriffen, die ihren Polizeikollegen
bzw. deren Vorgesetzten eine systematische Untertreibung
der Teilnehmerzahlen vorwarf. Diese seien nach
unten korrigiert bzw. frisiert worden. Laut
gewerkschaftlichen Angaben demonstrierten 3,5
Millionen Menschen - so die Zahl der CFDT, die
bei den letzten Malen von 2,9 Millionen bzw.
drei Millionen gesprochen hatte. In Paris sprachen
die Gewerkschaften von 330.000 Demonstrierenden
(gegenüber „270.000“, „300.000“
und „310.000“ bei den letzten drei
Aktionstagen im September und Anfang Oktober).
Nur haben sie dieses Mal weniger aufgeschnitten
als bei den Malen zuvor. Real dürfte der
Pariser Protestzug um ein Viertel bis ein Drittel
größer gewesen sein, als noch am
23. September.
Zu
den führenden Sektoren, die eine „Lokomotiven“funktion
einnahmen, zählen derzeit die Raffinerien,
die Häfen und die Oberschülerschaft
- 90 Oberstufenschulen waren am Dienstag (parallel
zu den Demonstrationen) völlig blockiert
und an bis zu 400 waren „Störungen“
zu verzeichnen, am Mittwoch waren 135 ganz oder
teilweise blockiert und am heutigen Donnerstag
rund 500 - sowie ein Teil der Studierendenschaft.
Just
vor diesem Szenario, dass sich also die protestierende
Jugend und bestimmte Sektoren der Lohnabhängigen
zusammenschließen könnten, hatte
der Elysée-Palast gewarnt. Dies ist Nicolas
Sarkozys Horrorszenario, eingedenk der Erfahrungen
mit Jugend- und Studierendenprotest 1986 (Rückzug
des Gesetzes zur verschärften Auslese an
Hochschulen im Dezember 86 unter Premierminister
Chirac), 1994 (Rückzug des Protests einer
Absenkung des Mindestlohns für junge Beschäftigte
im März 94 unter Premierminister Balladur)
und im März/April 2006 (CPE). Deswegen
hatte Sarkozy auch Ende August einen Wutanfall
auf Mitglieder seines Regierungskabinetts bekommen
und dafür gesorgt, dass eilends eine frisch
verabschiedete Verordnung vom Tisch genommen
wurde: Aufgrund ihrer hätten Studierende,
die durch ihre Eltern finanziell unterstützt
worden, kein Wohngeld (dank dessen sie etwa
400 statt 600 Euro für ein Zimmer bezahlen)
mehr erhalten dürfen. Oder aber den Eltern,
die aufgrund ihrer nachweisbaren finanziellen
Unterstützung für studierende Zöglinge
einen gewissen Steuernachlass bekommen, hätten
ihre steuerlichen Vergünstigungen verloren
- deshalb dann wohl auch ihre Unterstützung
reduziert. Sarkozy zeterte jedoch, seine Mitarbeiter
hätten wohl aus den Augen verloren, dass
die Vermischung von Jugend- und Gewerkschaftsprotest
brandgefährlich sei.
Dies
könnte nun aber passieren… Am heutigen
Donnerstag kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen
zwischen Schüler/inne/n und Polizei vor
Oberschulen in den Pariser Vorstädten Saint-Denis
und Montreuil. Der Vater eines Heranwachsenden,
der am Dienstag im normannischen Caen durch
prügelnde Polizisten verletzt worden war,
erstattete heute Strafanzeige. Am gestrigen
Tage wurde zudem bekannt, am Rande der Demonstrationen
vom Dienstag habe es insgesamt 61 Festnahmen
gegeben, und es würden 45 Strafverfahren
eingeleitet.
Ein
näherer Überblick zu den einzelnen
Sektoren folgt am morgigen Freitag. Übermorgen
wird es zu den nächsten, voraussichtlich
massiven, Demonstrationen in ganz Frankreich
kommen. |