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Streik in Frankreich gegen die Renten„reform“

von Bernard Schmid - 14.10.2010 - labournet.de


Der entscheidende Sektor ist derzeit der Raffineriebetrieb, der kurz vor dem Stillstand steht und Frankreich einen Treibstoffmangel in Aussicht stellt. Auch die lernende oder studierende Jugend ist nun in erheblichen Teilen in die Bewegung gekommen. Am Dienstag dieser Woche wurde ein neuer Rekord bei der Teilnahme an den Demonstrationen aufgestellt - zu neuen Demonstrationen kommt es übermorgen, am Samstag. Nicolas Sarkozy wünschte sich « eine Dosis Radikalisierung », und er wird sie wohl bekommen. Aber vielleicht unter anderen Vorzeichen, als ihm lieb sein dürfte.

"Zornige Gymnasiasten" demonstrieren in Paris gegen die geplante Rentenreform der Regierung von Nicolas Sarkozy. Hunderte Schulen wurden zeitweise blockiert, außerdem beteiligen sich sechs Universitäten an den Protesten

Bislang hatte der französische Präsident noch angenommen, er werde beim Streit um die französische Renten„reform“ in einer strategisch vorteilhaften Position gegenüber den Gewerkschaften und den Demonstrierenden bleiben - auch wenn sich ein Teil der Protestbewegung radikalisiere. Noch den ganzen September 2010 hindurch hatte er angenommen, es werde bei einigen (wenngleich relativ großen) Protestzügen bleiben, und danach „schon wieder einrenken“. Deswegen, so flüsterten es ihm einige seiner Berater ein - beispielsweise der wirtschaftsliberale „Intellektuelle“ Alain Minc -, sei eine gewisse Dosis Radikalisierung in einem Teil der Protestbewegung (d.h. Rangeleien mit den Ordnungskräften, einzelne Besetzungsaktionen, notfalls ein paar kleine Feuerchen hie und da) durchaus gar nicht so schlecht.

Von der generellen Annahme ausgehend, dass das Regierungslager das Kräftemessen gewinnen werde, glaubten sie nämlich, dies werde die zögernde bürgerliche Mitte in der Arme der Hardliner des rechten Regierungslagers treiben. Im Sinne einer Polarisierung, die aber aus Sicht der Staatsspitze nur dann „sinnvoll“ ist, wenn sie aus einer Position der Stärke heraus agiert. Dass diese Situation gegeben sei, flüstert etwa auch sein „Berater für Tendenzen in der öffentlichen Meinung“, Patrick Buisson, dem französischen Staatsoberhaupt ein (so deutet es jedenfalls ,Le Monde' vom 12. Oktober 10 explizit an). Buisson war in den 1980er Jahren Chefredakteur der rechtsextremen Wochenzeitung ,Minute' (ungefähr vergleichbar mit einem Zwischending aus „Deutsche National-Zeitung“ und „Junge Freiheit“) und schwankte lange Jahre hindurch zwischen den Neofaschisten unter Jean-Marie Le Pen und den Bürgerlich-Konservativen. Er ist auf jeden Fall Anhänger einer autoritären Politik, die es aber - so seine Zielsetzung - zugleich schafft, durch nationalistische oder rassistische Einsprengsel die niedrigsten Instinkte in der Gesellschaft zu schüren, zu kanalisieren und politisch zu nutzen.

Schüler protestierten am Freitag vor dem Pariser Élysée-Palast gegen die Abbaupläne

Unter diesem Einfluss stehend, rief Präsident Sarkozy vor Untergebenen aus: „Wir sind bereit, den Dingen ins Auge zu sehen. Bei der Hauptsache (Anm.: der Anhebung des Renteneintrittsalters für die breite Mehrheit der Lohnabhängigen) nachzugeben, ist keine tragbare Annahme - da könnten wir auch gleich auf die Macht verzichten. Zurückweichen, wie Dominique de Villepin (Anm.: im April 2006 beim Kündigungsschutz und dem ,Ersteinstellungsvertrag' CPE) oder Jacques Chirac (Anm.: im Dezember 1995 bei den Renten in den öffentlichen Diensten) taten, ist keine Option für uns. Wenn wir einem langen Streik entgegen müssen, werden wir es tun. Ein Teil des Landes wird uns dafür dankbar sein, dass wir die Extremisten in die Knie gezwungen haben. Wir können noch den Kampf um die öffentliche Meinung gewinnen.“ (Zitiert n. ,Le Canard enchaîné' vom heutigen 14. Oktober 10.) Ähnlich sieht auch der oben zitierte Alain Minc die Chance für Sarkozy, in einem Szenario à la Thachter - gegenüber dem britischen Bergarbeiterstreik im Jahr 1985, der den Gewerkschaften eine satte Niederlage beibrachte - zu gewinnen.

Im Sinne eines solchen Vorgehens hat Sarkozy die Kontakte und „Kompromiss“kanäle zu den Gewerkschaften, die er in den letzten Jahren offen zu halten verstanden hatte, faktisch geschlossen. Sein Berater für Sozialpolitik, Raymond Soubie, der normalerweise keine 48 Stunden in seinem Büro verbrachte, ohne irgendeinen leitenden Gewerkschaftsfunktionär zu treffen, ist seit mindestens einer Woche abgetaucht, und nichts ist von ihm vernommen worden. Außer, dass er demnächst seinen Dienst an den Nagel hängen wird und in der Privatwirtschaft Geld verdienen gehen wird… (Laut ,Canard enchaîné', a.a.O.) Raymond Soubie war der Mann, der darauf gedrungen und es seit 2008 erfolgreich vermocht hatte, auch die Führungsspitze der - bei den Bürgerlichen einstmals als „kommunistisch“ verhassten - CGT in einen „modernen sozialen Dialog“ einzubinden. Heute kann die Regierung nicht mehr nur nicht auf Drähte zur CGT bauen, sondern selbst die rechtssozialdemokratisch geführte und ausgesprochen „moderat“ auftretende CFDT bietet ihr im Augenblick keine Stütze. Wird ihr doch schlichtweg nichts angeboten.

Streikende Raffinerie-Arbeiter am Eingang eines Benzindepots in Berre l'Etang.

„Keine weitere Zugeständnisse mehr - Ende der Fahnenstange“

Am Mittwoch, den 07. Oktober hatte Nicolas Sarkozy persönlich die letzten „Zugeständnisse“ an die Opponenten und Kritiker/innen der Renten„reform“ verkündet. Dabei handelte es sich freilich um „Konzessionen“, die zu dem Zeitpunkt längst - seit Wochen - durch die Presse verkündet, und im Vorgeld von Sarkozys Ankündigung sogar noch eingedampft worden waren. So soll das Alter der „vollen Rente“ (ab dem keine Abzüge wg. fehlender Beitragsjahre mehr vorgenommen werden) zwar auf 67 angehoben werden - die entsprechende Bestimmung ist inzwischen durch beide Parlamentskammern verab-schiedet worden -, aber es soll eine Ausnahmeregelung für Müttern von mindestens drei Kindern geben. Letztere sollen auch weiterhin ab 65 zum vollen Rentenbezug in Ruhestand gehen können, sofern sie nachweisen können, dass sie aufgrund ihrer Kinder mindestens ein Jahr zu arbeiten aufgehört hatten. (Die Rente bemisst sich dann, wie für alle anderen Lohnabhängigen, nach den „25 besten Berufsjahren“. Vor einer „Reform“ unter der Rechts-regierung Edouard Balladurs im Jahr 1993 waren es die zehn besten Verdienstjahre gewesen. Der Unterschied zwischen beiden Regelungen macht für viele Lohnabhängige mehrere hundert Euro Rente pro Monat aus.)

Diese Ausnahmeregelung hatte sich seit längerem abgezeichnet. Nur ist nun noch eingeschränkt worden, und gilt nur für mindestens dreifache Mütter, die in den Jahren 1955 bis 1959 geboren wurden: Für die Jahrgänge davor wird die „Reform“ noch nicht greifen, wenn sie in Rente gehen, und für die Jahrgänge ab 1960 wird dann doch das Rentenalter „67“ (bzw. 62 bei vorhandenen vollen Beitragsjahren) gelten. Eine zweite, erwartete, Ausnahmeregelung betrifft Körperbehinderte: Wenn sie lohnabhängig arbeiten, müssen diese mindestens zu 50 Prozent - bislang 80 Prozent - als behindert eingestuft sein, um früher (mit 25 Beitragsjahren oder im Alter von 55) in Rente gehen zu können.

Seitdem haben Sarkozy und das Regierungslager jedoch unmissverständlich klargestellt, dass es nunmehr keine weiteren Zugeständnisse mehr geben wird, und dass „der Kern der Reform“ - das höhere Renteneintrittsalter 62 (mit vollen Beitragsjahren respektive unter Inkaufnahme von Abschlägen) oder 67 (ohne Abzüge) - auf keinen Fall zur Disposition steht.

Drei Sektoren mit „Motor“rolle schälen sich heraus: Raffinerien, Häfen und die Jugend

Als Nicolas Sarkozy sich „eine Dosis von Radikalisierung“ wünschte, dachte er jedoch nicht daran, dass die Dinge sich eindeutig zu seinen Ungunsten zuspitzen könnten. Aus dem Sommerurlaub war er mit der Zuversicht zurückgekehrt, dass die Gewerkschaften ein Kräftemessen entweder zu vermeiden suchen oder nicht gewinnen könnten. Doch dabei hatte er einen wichtigen Punkt übersehen.

Sein früherer Arbeits- & Sozialminister Xavier Bertrand, der im März 2010 aufgrund seines zu niedrigen Wahlergebnisses bei den Regionalparlamentswahlen aus der Regierung geschasst worden war, brachte es in diesen Tagen auf den Punkt: „Im Sommer hat die Bettencourt-Affäre die Lage (grundlegend) verändert.“ Also die nicht aufhörenden Enthüllungen über die Praktiken des korrupten Schweins, pardon, seit März d.J. amtierenden Arbeits- & Sozialministers Eric Woerth und seine Beziehungen zu schwerreichen (und das Finanzamt betrügenden) Damen und Herren wie Liliale Bettencourt oder der Familie Wildenstein. Just am heutigen Tag kam übrigens heraus, dass Eric Woerth sich selbst eine stattliche Zusatzrente als früherer Regionalparlamentarier der Picardie gesichert hat, nachdem diese wegen leerer Kassen beinahe gedeckelt worden wäre… Die Tatsache, dass es just Eric Woerth ist, der für die Renten„reform“ verantwortlich zeichnet (und für seinen Herrn & Meister Nicolas Sarkozy in der ersten Reihe steht), trug dazu bei, die Wut zu steigern - und den Gewerkschaften den „Respekt“ vor ihm zu nehmen.

Nur könnte Nicolas Sarkozy also auf Dauer die Rechnung, die er zuvor aufmachte, ohne den Wirt durchkalkuliert haben. Die letzten Wochen haben jedenfalls gezeigt, dass die Bewegung ein außerordentlich starkes Mobilisierungspotenzial und eine ungewöhnliche Lebens-dauer besitzt. Nach zwei „Aktionstagen“ mit Streiks und Demonstrationen vor den Sommerferien (am 27. Mai und 24. Juni), von denen zumindest der zweite gelungen war, hat am Dienstag dieser Woche nun bereits der vierte Aktionstag in Folge seit dem Ende der Sommer-urlaubsperiode stattgefunden. 07. September, 23. September, 02. Oktober und nun der zwölfte Oktober… Und die Bewegung wurde noch stärker, statt schwächer! Üblicherweise müssten die zum Protest Mobilisierten in einer solchen Phase gewisse Ermüdungserscheinungen aufzeigen. Doch das Gegenteil scheint der Fall: Noch im September schienen Teile der Demonstrationszüge eher von Resignation (gepaart mit dem Wunsch, zumindest noch mal zu mobilisieren, um das Gesicht zu wahren und um es jedenfalls versucht zu haben) geprägt. Heute hingegen wächst die Wut. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Protestzüge sich in ihrer Alterszusammensetzung deutlich verjüngt haben - und am Dienstag dieser Woche mit einem fast sommerlich schönen Wetter.

Am Dienstgag, den 12. Oktober demonstrierten laut Angaben des französischen Innenministeriums 1,23 Millionen Menschen in ganz Frankreich (nach, derselben Quelle zufolge, „997.000“ am 23 September und „899.000“ am 02. Oktober). Nur wurden ihre Zahlen erstmals öffentlich durch eine Polizeigewerkschaft - UNSA Police - angegriffen, die ihren Polizeikollegen bzw. deren Vorgesetzten eine systematische Untertreibung der Teilnehmerzahlen vorwarf. Diese seien nach unten korrigiert bzw. frisiert worden. Laut gewerkschaftlichen Angaben demonstrierten 3,5 Millionen Menschen - so die Zahl der CFDT, die bei den letzten Malen von 2,9 Millionen bzw. drei Millionen gesprochen hatte. In Paris sprachen die Gewerkschaften von 330.000 Demonstrierenden (gegenüber „270.000“, „300.000“ und „310.000“ bei den letzten drei Aktionstagen im September und Anfang Oktober). Nur haben sie dieses Mal weniger aufgeschnitten als bei den Malen zuvor. Real dürfte der Pariser Protestzug um ein Viertel bis ein Drittel größer gewesen sein, als noch am 23. September.

Zu den führenden Sektoren, die eine „Lokomotiven“funktion einnahmen, zählen derzeit die Raffinerien, die Häfen und die Oberschülerschaft - 90 Oberstufenschulen waren am Dienstag (parallel zu den Demonstrationen) völlig blockiert und an bis zu 400 waren „Störungen“ zu verzeichnen, am Mittwoch waren 135 ganz oder teilweise blockiert und am heutigen Donnerstag rund 500 - sowie ein Teil der Studierendenschaft.

Just vor diesem Szenario, dass sich also die protestierende Jugend und bestimmte Sektoren der Lohnabhängigen zusammenschließen könnten, hatte der Elysée-Palast gewarnt. Dies ist Nicolas Sarkozys Horrorszenario, eingedenk der Erfahrungen mit Jugend- und Studierendenprotest 1986 (Rückzug des Gesetzes zur verschärften Auslese an Hochschulen im Dezember 86 unter Premierminister Chirac), 1994 (Rückzug des Protests einer Absenkung des Mindestlohns für junge Beschäftigte im März 94 unter Premierminister Balladur) und im März/April 2006 (CPE). Deswegen hatte Sarkozy auch Ende August einen Wutanfall auf Mitglieder seines Regierungskabinetts bekommen und dafür gesorgt, dass eilends eine frisch verabschiedete Verordnung vom Tisch genommen wurde: Aufgrund ihrer hätten Studierende, die durch ihre Eltern finanziell unterstützt worden, kein Wohngeld (dank dessen sie etwa 400 statt 600 Euro für ein Zimmer bezahlen) mehr erhalten dürfen. Oder aber den Eltern, die aufgrund ihrer nachweisbaren finanziellen Unterstützung für studierende Zöglinge einen gewissen Steuernachlass bekommen, hätten ihre steuerlichen Vergünstigungen verloren - deshalb dann wohl auch ihre Unterstützung reduziert. Sarkozy zeterte jedoch, seine Mitarbeiter hätten wohl aus den Augen verloren, dass die Vermischung von Jugend- und Gewerkschaftsprotest brandgefährlich sei.

Dies könnte nun aber passieren… Am heutigen Donnerstag kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Schüler/inne/n und Polizei vor Oberschulen in den Pariser Vorstädten Saint-Denis und Montreuil. Der Vater eines Heranwachsenden, der am Dienstag im normannischen Caen durch prügelnde Polizisten verletzt worden war, erstattete heute Strafanzeige. Am gestrigen Tage wurde zudem bekannt, am Rande der Demonstrationen vom Dienstag habe es insgesamt 61 Festnahmen gegeben, und es würden 45 Strafverfahren eingeleitet.

Ein näherer Überblick zu den einzelnen Sektoren folgt am morgigen Freitag. Übermorgen wird es zu den nächsten, voraussichtlich massiven, Demonstrationen in ganz Frankreich kommen.