Seit
nunmehr elf Nächten toben in den nördlichen
und nordöstlichen Pariser Vororten Kämpfe
zwischen Jugendlichen und der Polizei. Der Anlass
war der Tod zweier von der Polizei verfolgter
Jugendlicher, doch die Gründe sind soziale
Missstände schlimmster Art.
Mehr
als eine Woche ist es nun her, dass drei junge
ImmigrantInnen im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois
vor der Polizei flohen und sich in einem Transformationshäuschen
versteckten. Dabei erhielten sie einen Stromschlag,
so das zwei von ihnen – der 15-jährige
Traore Bouna und der 17-jährige Zyed Benna
– verstarben und ein dritter – der
17-jährige Muttin Altun – mit schweren
Verbrennungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde.
Der Tod der beiden Jugendlichen wurde nur dadurch
bekannt, dass in der Vorstadt der Strom ausfiel.
Ob die Polizei die zwei in den Tod getrieben
hat oder nicht bleibt auch nach der Vorlage
eines Berichtes am Donnerstag dem 3. November
weiter umstritten. Auch Amor Benna, Vater eines
der Opfer, schenkt den Unschuldsbeteuerungen
der Polizei keinen Glauben. Zu viele der Personenkontrollen,
Schikanen aller Art und rassistischen Machtspielchen
brachte die Null-Toleranz-Politik der konservativen
Regierung de Villepin in die immigrantisch geprägten
Vororte der französischen Industriestädte.
Wie
viel Vertrauen die Bewohner der Pariser Vororte
den Versicherungen des Innenministers Sarkozy
schenken den Fall wahrheitsgetreu zu untersuchen,
zeigen sie sehr eindrucksvoll jede Nacht aufs
Neue. Diese Verbitterung war es wohl auch, die
die Stimmung kippen ließ.
Schon
am Tage nach dem Tode der zwei Jugendlichen
versammelten sich Hunderte zu einem friedlichen
Trauermarsch. Doch noch in der selben Nacht
brannten Mülltonnen und Autos, griffen
Jugendliche, vor allem ImmigrantInnen, die Polizei
mit Flaschen und Steinen an.
Die
Gründe liegen tiefer
Diesen
Jugendlichen geht es nicht um Gewaltorgien,
nicht einfach um Rache oder zweifelhafte mediale
Präsenz. Hier rennen keine überdrehten
Middle-Class-Crashkids mit Molotowcocktails
zum Zeitvertreib umher, weil, wie es die „FAZ“
vom 3. November formulierte, ihre Eltern „keine
Zeit für sie haben“. Ebenso wenig
waren und sind die beiden Toten der Grund für
all den Hass, der der Staatsgewalt jede Nacht
entgegenschlägt. Sie waren nur der letzte
Tropfen, der das Fass der tiefen Verbitterung
zum Überlaufen brachte.
Zukunftsangst,
Kriminalität, Dauerarbeitslosigkeit, Drogensucht,
Bildungsnotstand, Polizeiterror – all
diese Begriffe sind in den Pariser Vororten
des beginnenden 21. Jahrhunderts nicht nur Worte,
sondern täglich zu beobachtende Begleiterscheinungen
einer kapitalistischen Gesellschaft.
Jeder
zehnte Franzose ist arbeitslos. Die Arbeitslosigkeit
junger Männer bis 25 liegt bei 22% bis
25%. Arbeit zu finden ist noch schwerer, wenn
man nicht aussieht oder spricht wie ein Mitteleuropäer,
wie selbst die „Financial Times Deutschland“
vom 3. November zu berichten weiß: „So
haben es Träger eines arabischen Namens
auch bei ausreichender Qualifizierung schwerer
eine angemessene Arbeit zu finden.“
Die
letzten 10 Jahre der neoliberalen Konterreformen,
in denen alle Errungenschaften der Arbeiterbewegung
angegriffen wurden und werden, gingen gerade
an den Vororten der französischen Großstädte
nicht spurlos vorbei. Staatliche Programme,
die wenigstens die Hoffnung auf Verbesserung
keimen ließen, wenn sie auch meist nur
Kosmetik waren, wurden eingestellt oder zusammengestrichen.
In
den 80er Jahren versuchten linke Regierungen
vor dem Hintergrund öffentlichen Drucks,
multikulturelle Bildungspolitik in den Vororten
umzusetzen und förderten entsprechende
Ansätze. So schuf man sogenannte ZEPs,
Zonen, in denen die Bildungspolitik speziell
gefördert wurde. Die Konservativen strichen
das Geld hierfür zusammen. LehrerInnen,
PädagogInnen und SozialarbeiterInnen wurden
allein gelassen. Kapitalistische Politik ist
nicht an den Interessen der Menschen ausgerichtet!
Multikulturelle Bildung brauchte man nicht,
wenn die Bewohner der Vororte genug wussten
um für das Kapital verwertbar zu sein,
reichte das.
Statt
dessen setzten die Konservativen auf verstärkte
Ausbeutung: Unternehmen, die sich in den Problemgebieten
ansiedelten erhielten Steuer- und andere Vergünstigungen.
Gleichzeitig steckten sie Geld in die Sanierung
der Häuserfassaden, statt in soziale Projekte.
Sie entschärften das Problem somit selbstverständlich
nicht – sie verschlimmerten es! Steigende
Mietpreise übten Druck auf die Ärmsten
der französischen Bevölkerung aus.
Wer
sich gegen Arbeitslosigkeit, Niedriglohnsektor,
Bildungsnotstand, falsche Wohnungspolitik…
wehrte, der bekam den Knüppel zu spüren.
Niclas
Sarkozy
Mit
Niclas Sarkozy steht ein ambitionierter Mann
an der Spitze des Innenministeriums. Sein Ziel
ist sicher: 2007 will er Staatspräsident
Frankreichs werden. Die Themen anhand derer
er sich profiliert stehen ebenfalls fest: Keine
Ausweitung des Ausländerwahlrechts und
innere Sicherheit, innere Sicherheit, innere
Sicherheit – natürlich vorrangig
für das Kapital. Er setzte als Innenminister
zahlreiche Gesetze in Kraft, die staatliche
Repressionen verschärfen.
Er
schickte verstärkte Streifen in die armen
Stadtteile und erklärte, er wolle sie mit
einem Hochdruckreiniger säubern –
so als wolle er Unrat von der Straße spülen.
Rassistische Übergriffe von Polizeibeamte
auf Jugendliche waren an der Tagesordnung.
Sarkozy
setzte dem unbestimmt wirkenden Druck aus den
Problemzonen seine Polizei entgegen. Erleichterungen
für die Bewohner der Armenviertel standen
nicht auf der Tagesordnung der Regierung. Der
Hauptteil der in Frankreich lebenden ImmigrantInnen
kommen aus den ehemaligen Kolonien. Dort hatten
ihre Großeltern unter den Kolonialbehörden
gelitten. Heute leiden sie unter Frankreichs
Polizei, werden von ihr schikaniert und gejagt
– manchmal auch in den Tod!
Antirassismusdemo in Paris
Bourgeoise
Albträume
In
der Nacht vom 3. zum 4.11. erreichten die Proteste
Dijon und Marseille. Schon wird darüber
gemutmaßt, ob die Ausschreitungen miteinander
abgestimmt, also letztlich doch geplant sind.
Die französische Regierung und Bourgeoisie
stellen sich die Frage, ob ihre Polizei wieder
Herr der Lage werden wird oder ob die Proteste
vielleicht doch von selbst verebben.
Am
Donnerstag dem 3.11. fielen die Kabinettsmitglieder
von einer Krisensitzung in die nächste:
Schuldzuweisungen, Bauernopfer werden gesucht.
Sozialminister Sean Borloo gestand Fehler in
der Sozialpolitik der letzten Jahre ein. Die
„hohe Politik“ ist erschüttert
über die Ausdauer der Randalierer und nervös
fragt sie sich, was wäre wenn all das weitergeht?
Wenn die Jugendliche weitermachen? Wenn weitere
soziale Brennpunkte ergriffen werden? Kurz:
Wie weit werden die Jugendlichen gehen?
Inzwischen
mehrt sich innerhalb der Pariser Bourgeoisie
und des Kleinbürgertums die Angst, die
Jugendlichen könnten ihr nächtliches
Treiben in die Innenstadt verlagern. Nicht zuletzt
deshalb befasst sich auch das französische
Parlament mit den Straßenkämpfen.
Solange
die Jugendlichen in ihren Stadtteilen Teppichhäuser
und Autos anzünden ist dies eine Sache.
Wenn sie trotz all ihrer ausgelebten Wut letzten
Endes doch als riesiges Heer der Arbeitslosen,
als Lohndrücker, als „industrielle
Reservearmee“ (K. Marx) dem Kapital zur
Verfügung stehen, mögen Bilder wie
der vorigen Woche unschön sein, aber eine
wirkliche Gefahr ist das Geschehen nicht. Beunruhigt
reagieren die Herren Banker und Unternehmer
allerdings, wenn die Jugendlichen mit ihren
Brandsätzen und Steinen aus den Vororten
in die Innenstädte ziehen.
Nicht
das das System damit allein schon in Gefahr
wäre. Wegen einiger klirrender Fensterscheiben
und brennender LkWs ist der Kapitalismus nicht
bedroht. Aber es ist ein Unterschied, ob man
den „Mob“ vor dem Grundstück
oder im Vorgarten hat.
Es
ist ein Unterschied, ob die rebellierenden Jugendlichen
in ihren Vierteln und Vororten nur die Auswüchse
des Kapitalismus ein Opfer der Flammen werden
lassen und damit im Grunde nichts verändern,
oder ob sie dorthin gehen wo jene sitzen, die
ihr Elend entstehen lassen. Auch dadurch würden
die Jugendlichen ihre Lebensverhältnisse
nicht wesentlich verbessern. Dazu müssten
sie den Kapitalismus als System angreifen und
das werden sie nicht tun, indem sie einigen
Unternehmern Steine auf den Kopf werfen.
Wer
kämpft gegen wen - Krieg in der Regierung
Innenminister
Sarkozy steht für einen Teil der französischen
Bourgeoisie, deren einzige Antwort auf soziale
Probleme die relativ kreativlose Verschärfung
der Repressalien ist. Diese Fraktion ist zu
keinen Zugeständnissen an die Protestierer
bereit. Diese Fraktion ist nicht wirklich verhandlungsbereit,
was nicht heißt, dass sie nicht auch aus
rein taktischen Gründen mit einigen Jugendlichen
das Gespräch suchen wird – schon
um ihr eigenes Image aufzuwerten.
Dies
hat dieser Flügel dringend nötig,
denn er gerät mit jeder Nacht, die länger
randaliert wird, mehr unter Druck. Sarkozys
Null-Toleranz-Strategie, so reizvoll sie für
die Bourgeoisie sein mag, die mit ihren Angriffe
auf die Arbeiterklasse härtesten Widerstand
provoziert, erweist sich seit elf Nächten
als ungeeignet die Lage unter Kontrolle zu kriegen.
In
ihrer Angst vor dem „Mob“ sind sich
die Kapitalisten Frankreichs einig – nicht
aber darin wie sie die Situation wieder unter
Kontrollen bekommen sollen. Monsieur Sarkozy
ist gründlich überfordert. Er versucht
einen Dampfkessel vor der Explosion zu retten
indem er den Druck anschwellen lässt.
Daher
hält die französische Bourgeoisie
nach einem Mann Ausschau, der ihr Interesse
nach Ruhe und Ordnung besser vertreten kann.
Sie findet ihn in der Person des konservativen
Gleichstellungsministers Azouz Begag, der seinen
Partei-„Freund“ Sarkozy für
dessen Politik in den Vorstädten angreift.
Mit den Worten „Jugendliche in Problemvierteln
muss man besänftigen“, zitiert ihn
die „Netzzeitung“ vom 3.November.
Dabei hat Begag das gleiche Ziel wie Sarkozy,
es den Herren in den Banken und Konzernen recht
machen. Es soll wieder Ruhe herrschen in Frankreichs
Vorstädten. Von einer wirklichen Analyse
der Ursachen der Gewalt, oder gar einer Klärung
der sozialen Probleme ist Begag ebenso weit
entfernt wie der Innenminister. Die Jugendlichen
sollen eben „besänftigt“ werden.
Was diese davon haben, wenn sie erst einmal
„sanft“ sind, bleibt Begags Geheimnis.
Sarkozy und Begag sind zwei Seiten einer Medaille.
Ihr Streit ist ein Konflikt um die Taktik bei
der Durchsetzung der kapitalistischen Gesetze
in den Vorstädten. Es geht darum wie man
es den Kapitalisten am ehesten recht macht und
Ruhe und Ordnung wieder herstellt, nicht ob
man es tut. Sarkozys und Begags Ziel ist dasselbe,
die kapitalistische Ausbeutung ermöglichen.
Doch
genau darin liegt das eigentliche Problem, das
ist das eigentliche Verbrechen und nicht die
Unterdrückung der Proteste an sich, auch
wenn dies gewalttätig und rücksichtslos
erfolgen sollte. Das eigentliche Verbrechen
ist es, die Situation in den Vororten soweit
eskalieren zu lassen, dass derart gewalttätige
Proteste entstehen. Menschen so verarmen zu
lassen, dass sie kaum noch etwas zu verlieren
haben. Das Problem sind nicht die Gummigeschosse
der französischen Polizei, sondern die
Senkung tariflicher Löhne. Nicht die Tränengasgranaten
der Staatsmacht, sondern die riesige Arbeitslosigkeit
ist die größere Bedrohung für
die Bewohner der Vororte. Das eine bildet nur
die zeitweilige Umrahmung des anderen. Ob mit
Sarkozy oder Begag, das ursächliche Problem
ist der Kapitalismus, nicht die Polizei!
Dennoch
ist der Flügelkampf in der Regierung und
der konservativen Partei von Bedeutung. Schließlich
stellt Begag den Strohmann des Premierministers
de Villepin dar, der sich ebenso wie sein Parteikollege
Sarkozy 2007 um das Amt des Staatspräsidenten
bewerben will. Aus dem Streit der Flügel
Sarkozy – Begag kann de Villepin als lachender
Sieger hervorgehen. Sollte Sarkozy Erfolg haben
und die Proteste ersticken, wäre Begag
der glücklose Kritiker und nicht de Villepin.
Wird Sarkozy scheitern, kann sich de Villepin
von dessen Vorgehen distanzieren. De Villepin
kann es also gelingen sich unabhängig vom
Ausgang der Kämpfe als der Vertreter der
Bourgeoisie zu profilieren. Gleichzeitig übt
er sich darin nicht zu sehr in die Nähe
Sarkozys gerückt zu werden. Im Unterschied
zu diesem empfing er Jugendliche aus den Vororten
– freilich eine handverlesene Auswahl,
deren Einfluss auf seine Politik noch dazu gering
sein dürfte, aber er bezeichnete sie, anders
als der Innenminister, nicht als „Gesindel“.
Natürlich versichert auch er dem Kapital,
dass ihm dessen Interessen am Herzen liegen.
Laut N24.de steckte er das Ziel sehr klar: „Ordnung
und Gerechtigkeit werden das letzte Wort in
unserem Land haben.“ Der Flügelkampf
kommt ihm wie gerufen, so kann er sich als Vertreter
des sanfteren Flügels etablieren und Sarkozy
die Drecksarbeit machen lassen.
Es
beschleicht einen das Gefühl mit jedem
Knüppeleinsatz der Polizei und jeder abgefeuerten
Gasgranate einen vorgezogenen blutigen Wahlkampf
zwischen Sarkozy und de Villepin zu erleben.
Einen Wahlkampf in dem es nicht darum geht Stimmvolk
hinter sich zu scharen, als mehr darum der Bourgeoisie
sehr plastisch vorzuführen, welche Taktik
am besten ihre Interessen vertritt: Nulltoleranz
oder „Besänftigung“, Sarkozy
oder Begag – de Villepin.
Sicher
ist, sollten Sarkozys Prügeltruppen nicht
die Randale beenden, wird die Randale Sarkozys
politische Karriere beenden. Denn nur wer sich
als fähig erweist Ruhe und Ordnung herzustellen,
auf den wird die Bourgeoisie letztlich setzen.
Nur dann wird Sarkozy auch eine Chance haben
Präsidentschaftskandidat der Konservativen
zu werden. In einer solchen Konstellation laufen
die Jugendlichen zwangsläufig Gefahr zum
Faustpfand einer der beiden Fraktionen der Konservativen
zu werden. Wie viele Teppichbodenhäuser,
Schulen und Mülltonnen auch brennen mögen,
wie viele zweifelhafte Siege die Jugendlichen
auch in Zusammenstößen mit der Polizei
erringen werden, dass auf ihrem Rücken
ein Flügelkampf der Bourgeoisie ausgetragen
wird, werden sie so nicht verhindern! Geben
sie auf, siegt Sarkozy, kämpfen sie weiter,
gewinnen Begag und de Villepin – und immer
triumphiert das Kapital!
Wer
führt hier Bürgerkrieg?
Nach
Nächten unkontrollierter Gewalt heißt
es inzwischen in den Vororten tobe ein Bürgerkrieg.
Solche Äußerungen machte auch Michel
Thooris von der Polizeigewerkschaft CFTC. Die
USA haben an ihre Bürger eine Reisewarnung
für Frankreich herausgegeben. Ob man die
Aufstände in Frankreich als Bürgerkrieg
bezeichnen kann oder nicht ist ein Thema für
bürgerliche Krisenforscher. Viel interessanter
sind Antworten darauf, wer den Bürgerkrieg
in die Vorstädte getragen hat.
Für
Leute wie Sarkozy ist die Schuldfrage im Wesentlichen
geklärt. In einem Interview mit dem „Le
Parisien“ sagte er auf die Frage nach
den Schüssen auf die Polizeibeamten: „Wer
mit echten Kugeln auf Polizeibeamte schießt,
ist kein Jugendlicher, sondern ein Schurke.“
Der Mann, der, vor die Tatsache gestellt, dass
seine Beamten Tränengasgranaten in eine
Moschee gefeuert hatten, erklärte, ob diese
Geschosse von der Polizei stammten müsse
erst eine Untersuchung ergeben, weiß natürlich
wer auf die Polizisten gefeuert hat und wie
mit diesen Jugendlichen umzugehen sei.
Aber
wer zuerst zur Gewalt gegriffen hat und wer
wen mit welcher Munition beschossen hat ist
nicht von Bedeutung. Die BewohnerInnen in den
Ghettos um die Industriestädte sind jeder
Hoffnung auf eine bessere Zukunft, eine gut
bezahlte und menschenwürdige Arbeit beraubt.
Viele von ihnen haben nicht einmal das Wahlrecht
und werden so nicht einmal alle vier Jahre gehört.
Diesen „sozialen Bürgerkrieg“
haben die Kapitalisten in die Vororte getragen,
in dieser Auseinandersetzung haben sie den ersten
und unzählige weitere Schüsse abgefeuert.
In
den letzten elf Nächten ist die Saat der
kapitalistischen Zustände aufgegangen.
Wenn Sarkozy erklärt, die Proteste seien
„perfekt inszeniert“, so zeigt das
nur wie wenig er davon versteht bzw. verstehen
will. Diese Krawalle musste niemand inszenieren.
Es reichte Menschen ins Elend hinabzustoßen.
Dies ist dem französischen Kapitalismus
- und nicht nur ihm - allerdings gelungen.
Wer
führt hier also gegen wen Bürgerkrieg?
Findet
einen anderen Weg!
Nacht
auf Nacht eskaliert nun die Gewalt. Mit jedem
Auto, das in Flammen aufgeht, jeder Schaufensterscheibe,
die eingeschlagen wird und jedem brennenden
Polizeirevier artikulieren die rebellierenden
Jugendlichen den Hass unzähliger Menschen
auf ein System, in dem sie zu kurz kommen, einem
System dessen einziger Sinn die Maximierung
von Profiten für eine kleine Minderheit
von Unternehmern und Bankiers ist. Sie zeigen
die Unmöglichkeit eines sozial gerechten
Kapitalismus und die Hilflosigkeit desselben
angesichts sozialer Probleme. Ziel ihrer Attacken
sind all die Institutionen des kapitalistischen
Staates, die ihnen das Leben so unerträglich
machen: Die Polizei, die sie schikaniert; das
Rathaus von Aulny-sous-Bois, in dem rassistische
Gesetze erlassen werden, in dem Unternehmerpolitik
gemacht wird, in dem die Steuern für die
Reichen gesenkt werden; Schulen, in denen ihnen
keine Antworten auf ihre Fragen gegeben werden;
Supermärkte mit ihren unverschämten
Lebensmittelpreisen… Die Jugendlichen
kämpfen gegen all die Äußerungen
des kapitalistischen Systems, die ihnen zusammengenommen
wie eine Schlinge um den Hals liegen. Doch das
System als solches bekämpfen sie damit
nicht.
Konkrete
politische Forderungen vernimmt man kaum. Maximal
wird gefordert der Innenminister solle zurücktreten.
Andere Jugendliche fordern nur eine Abordnung
des Innenministeriums, die sich in den Vorroten
für die Worte Sarkozys entschuldigen soll.
Nicht einmal der Rücktritt des gesamten
Kabinetts de Villepin wird verlangt. Schon dies
zeigt die politische Begrenztheit der Proteste,
denn Personen sind in diesem System beinahe
beliebig austauschbar, ohne das eine spürbare
Änderung der Politik dem folgen würde.
Das ist auch wenig überraschend bedenkt
man, dass man es nicht mit einer einheitlichen
?ewegung, sondern unkoordinierten Protesten
aus Verzweiflung zu tun hat. Die Gewalt der
Jugendlichen läuft auf einen Angriff auf
den gesellschaftlichen Überbau, nicht die
ökonomische Basis des Kapitalismus hinaus.
Genau
deshalb wird die wütende Entschlossenheit
der Jugendlichen ins Leere laufen. Ihr Vorgehen
wird ihre soziale Lage nicht verbessern. Eigentlich
müssten sie beginnen ihre Aktionen zu koordinieren,
wirklich politisch miteinander zu diskutieren
und nach Lösungen jenseits von Profitlogik,
Ausbeutung und Unterdrückung suchen. Unerlässlich
für die Jugendlichen wäre der Kontakt
zur französischen Arbeiterklasse, um Streiks
zu organisieren. Statt dessen steht diese vielfach
mit einem Kopfschütteln neben den Protesten.
Ebenso wichtig ist eine Annäherung an die
BewohnerInnen der Vororte, die sich nicht an
den Protesten beteiligen. Zurzeit ist die Entwicklung
der Beziehung zwischen den jugendlichen Protestlern
und den durchschnittlichen BewohnerInnen der
Vororte beinahe ambivalent. Zwar weiten sich
die Proteste noch immer aus, es werden also
immer größer Schichten französischer
und nicht-französischer Jugendlicher in
die Krawalle miteinbezogen. Hingegen schwindet
die Toleranz für deren Vorgehen bei breiten
Kreisen der Bevölkerung immer schneller.
Eine
entsprechende Kampagne der bürgerlichen
Medien zur Diskreditierung der Jugendlichen
tut ihr Übriges. Die von ihnen begangenen
Sachbeschädigungen werden als Gefahr der
lokalen Wirtschaft und damit der Arbeitsplätze
der VorortbewohnerInnen dargestellt. Das harte
Eingreifen der Polizei wird angesichts der Ausschreitungen
als alternativlos bezeichnet. Mit anderen Worten
werden die Jugendlichen nun für die Erscheinungen
gegen die sie kämpfen verantwortlich gemacht.
Es wird ein Keil zwischen sie und die älteren
Vorortbewohner und die französische Arbeiterklasse
getrieben.
Als
am Samstag dem 5.November eine Demonstration
gegen die Krawalle stattfand, war dies ein erster
deutlicher Vorbote dieser Entwicklung. Denn
sie richtete sich nicht gegen soziale Missstände,
sondern rief einzig zu Ruhe und Ordnung auf.
Sie war also nicht gegen die Politik der Regierung,
sondern gegen die Jugendlichen gerichtet.
Das
kann kaum verwundern. Mit ihrem Vorgehen sorgen
die Jugendlichen auch selbst für ihre Isolierung.
Denn die Art ihres Kampfes, der wesentlich auf
Militanz und Zerstörungswut aufgebaut ist,
ist weder geeignet die Mehrheit der VorortbewohnerInnen,
noch die französische Arbeiterklasse mitzunehmen.
Somit werden jene, die eigentlich die Verbündeten
der Jugendlichen sein sollten zu deren Gegnern.
Neben
ihrer politischen Orientierungslosigkeit ist
dies der entscheidende Grund für das sichere
Scheitern dieser Bewegung. Noch weit verhängnisvoller
ist jedoch, dass es den Jugendlichen bei ihrem
Vorgehen nicht gelingen kann Stützpunkte
zu schaffen, die den Ausgangspunkt für
weitere Kämpfe verbessern und das Vorgehen
zwischen den Phasen des offenen Kampfes leiten
werden. Die Bildung politischer Organisationen
und die Schaffung von Komitees in Schulen, Betrieben
und Wohnvierteln, die diese Aufgabe übernehmen,
politische Inhalte in die Auseinandersetzung
tragen und Alternativen zum Kapitalismus aufzeigen
können, müsste Ergebnis solcher Kämpfen
sein. Doch die Art des Kampfes ist nicht geeignet
denselben auf eine höhere Stufe zu heben.
Er wird ausgefochten mit dem Mut der Verzweifelten,
ohne konkrete Ziele und ohne klare Taktik.
Wenn
die Jugendlichen diese Stufe nicht überwinden,
werden sie immer wieder scheitern! Sie müssen
einen anderen Weg finden. Ihnen diesen aufzuzeigen
ist die Aufgabe der organisierten Arbeiterbewegung
und somit auch unsere. Sonst werden nicht nur
die Jugendlichen vor einem Scherbenhaufen stehen.
Schon bald werden sie erkennen, dass die Art
ihres Widerstandes nicht geeignet ist ihre soziale
Lage zu verbessern. Sollte das ihre einzige
Lehre sein, wird die Wut, die ihre Verzweiflung
ersetzt hat, in Fatalismus umschlagen.
„Die
einzige Alternative ist die sozialistische Revolution.“
(Ernesto Ché Guevara)
Dennoch
ist es nicht so, als hätten die Jugendlichen
nichts erreicht. Die Regierung als Ganzes gerät
unter Druck, sie berät soziale Maßnahmen
wie Arbeitsbeschaffungsprogramme. Seien diese
auch noch so klein, sie sind Ausdruck des wachsenden
Drucks. Gemeinsam haben es die Jugendlichen
geschafft sich der bislang als unantastbar erscheinenden
Staatsmacht entgegenzustellen. Wenn jetzt offen
über den Einsatz der Armee diskutiert wird,
zeigt das nur die Hilflosigkeit des kapitalistischen
Staates gegenüber entschlossenen Protesten.
Sie haben wenigstens für eine kurze Zeit
den Fokus der offiziellen Berichterstattung
auf einen von unzähligen sozialen Brennpunkten
gelegt. Sie haben die Frage von Arm und Reich
aufs Schärfste zugespitzt. Das sind Erfolge
denen sich viele von ihnen bewusst sind und
die sie nicht so schnell vergessen werden. Möge
der Kampf auch niedergeschlagen werden, daran
werden sie anknüpfen, sei die Form der
Proteste auch noch so unzureichend.
So
zwangsläufig wie diese Proteste einmal
ausbrechen mussten, in einem System, das Profite
für die Reichen sichert und die Ausgebeuteten
mit Armut, Arbeitslosigkeit und Rassismus überzieht,
so zwangsläufig ist ihr unausgegorener
Charakter und so zwangsläufig ist ihre
Niederlage. Danach wird die Antwort der Herrschenden
kommen: Zuckerbrot und Peitsche. Einige soziale
Pflästerchen hier und da und rassistische
Gesetze gegen die „Randalierer“.
Doch
so zwangsläufig, ja gesetzmäßig
dieser Verlauf ist, genauso zwangsläufig
ist, dass eben diese Jugendlichen sich schon
bald wieder erheben werden. Jedoch nicht mehr
als isolierte, orientierungslose Masse! Sie
werden nicht mehr allein, sondern Teil einer
breiten Bewegung sein, die nicht mehr niedergeknüppelt
werden kann und die all die Begags, de Villepins
und Sarkozys mitsamt ihrer Polizei, ihren Herren
Unternehmern und Bankern überwinden wird.
Mit Sicherheit werden jene diesmal ihre „Ordnung“
wiederherstellen, doch wie schrieb Rosa Luxemburg
in ihrem letzten Artikel: „Ihr stumpfen
Schergen! Eure Ordnung ist auf Sand gebaut.“
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