Seit
2002 hagelt es „Reformen“, die Renten,
Krankenversicherung und Krankenhäuser betreffen,
und in diesem Jahr steht zusätzlich die
Pflegeversicherung auf der Agenda der französischen
Regierung.
Der
Online-Informationsdienst Mediapart veröffentlichte
ein internes Papier des französischen Unternehmerverbandes
MEDEF, der auf „tiefgreifende Strukturreformen“
bei der Pflegeversorgung dringt. „Die
Alterung der Gesellschaft darf nicht länger
ignoriert werden“, schreiben die Autoren
und legen eine detaillierte Agenda vor.
Was
sind die Ziele dieser Reformen und was wollen
wir dagegen setzen?
I.
Die Ziele der Gegenreform
Nach
dem II. Weltkrieg wurde in Frankreich aufgrund
der Kräfteverhältnisse zugunsten der
Lohnabhängigen ein Versorgungssystem errichtet,
das im Grundsatz allen den Zugang zu qualifizierter
Hilfe ermöglichte. Während des Wirtschaftsaufschwungs
in den 30 Folgejahren wurde das System weiter
ausgebaut. Die beiden tragenden Säulen
waren die Krankenversicherung als Teil der Sozialversicherung,
wodurch die Gesundheitsversorgung nach dem Solidarprinzip
durch Sozialbeiträge (sozialisierter Lohnanteil)
finanziert wurde, und die öffentlichen
Krankenhäuser, die eine qualifizierte Versorgung
für alle ermöglichten.
Damit
wurde das Prinzip der Fürsorge für
die Ärmsten – ergänzt um Versicherungen
für diejenigen, die sich dies leisten konnten
– durch ein System abgelöst, das
„allen den Zugang zur besten Versorgung“
gewährleistete.
Natürlich
wurde dieses Prinzip niemals uneingeschränkt
umgesetzt oder von der herrschenden Klasse akzeptiert,
die immer dagegen anlief, da es der Logik einer
auf den Gesetzen des Marktes und des Profits
gründenden Gesellschaft zuwiderlief. Denn:
- werden
die Sozialabgaben, die als indirekter Lohn
zum direkten hinzukommen, von den Unternehmern
als unerträgliche Last empfunden, da
es ihnen darum geht, den „Lohnanteil“
am geschaffenen Reichtum zu mindern, um
den Profit zu mehren. Und
- nimmt
der sozialisierte Lohn eine Gesellschaft
vorweg, in der die Bedürfnisse aus
dem geschaffenen Reichtum heraus befriedigt
werden und nicht entlang der individuellen
finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen
(Jedem nach seinen Bedürfnissen und
nicht nach seinen Mitteln).
Ursprünglich
wurde die Sozialversicherung mehrheitlich von
den gewählten Vertretern der Lohnabhängigen
verwaltet und nicht durch den Staat, was seit
jeher infrage gestellt wurde.
Seit
der neoliberalen Wende Ende der 70er Jahre haben
sich unter allen Regierungen die Vorstöße
zu einer Gegenreform verschärft. Seit 2002
wird das gesamte Gesundheitssystem zunehmend
unverhüllt infrage gestellt – angeblich
mit dem Ziel, es zu retten – und die Rückkehr
zum Prinzip der Fürsorge und komplementären
Versicherung angestrebt, mithin also zu einem
Mehrklassensystem, in dem die Versorgung entlang
der verfügbaren Mittel und nicht der Bedürfnisse
erfolgt. Dieser Rückschritt sorgt zudem
für zunehmende Kommerzialisierung und den
Vormarsch der privaten Versicherungen und Krankenhauskonzerne.
Das
Haupthindernis für diese Gegenreformen
liegt darin, dass der überwiegende Teil
der Bevölkerung hinter diesem Gesundheitssystem
steht und es trotz aller zwischenzeitlichen
Einschnitte und Verschlechterungen weiterhin
als verteidigenswerte Errungenschaft betrachtet.
Zwischen Unternehmern und neoliberalen Politikern
aller Couleur herrscht Konsens, wenn es um die
Rechtfertigung der Gegenreform geht. Das Credo
lautet, dass die Kosten für das Gesundheitswesen
in den Griff bekommen werden müssten, da
diese unaufhörlich steigen und ein immer
größeres „Loch“ in das
Sozialversicherungswesen reißen würden.
Am Ende wäre ansonsten „unser ganzes“
soziales Sicherungsmodell ruiniert.
Dieses
ideologische Konstrukt will glauben machen,
dass das sogenannte „Defizit“ eine
unumstößliche wirtschaftliche Realität
sei und nicht die Folge politischer Entscheidungen.
In Wahrheit liegt das Problem – wie auch
bei der Rente – in der Verteilung des
Reichtums. Das Ziel der Gegenreformen besteht
trotzdem nicht in der Senkung der Ausgaben im
Gesundheitswesen. Stattdessen geht es um die
weitere Öffnung für die Marktwirtschaft,
die Versicherungsgesellschaften und die privaten
Krankenhauskonzerne, was bis dato durch die
öffentliche und solidarische Finanzierung
(Krankenkassen) und den Bestand als öffentlicher
Dienst zum Betrieb der Gesundheitsversorgung
(öffentliche Krankenhäuser) begrenzt
worden ist. (…) Beim Abbau der gesamtgesellschaftlichen
Finanzierung sollen die Unternehmer nahezu komplett
entlastet und die Lohnabhängigen via Steuer
zur Kasse gebeten werden.
Der von den Sozialversicherungseinrichtungen
finanzierte Anteil der Gesundheitsversorgung
ist zwar rückläufig, lag aber 2009
noch immer bei 75,5 %, während die (privaten
oder genossenschaftlichen) Zusatzversorgungen
für 13,8 % – darunter die Privatversicherungen
gar nur für 3,6 % – aufkamen.
Gleichermaßen
soll der Stellenwert der öffentlichen Krankenhäuser,
die mit 60 Mrd. Umsatz gegenüber 18 Mrd.
bei den Privatkliniken noch deutlich überwiegen,
sinken, um den Privatbetreibern von Krankenhäusern
und Altenheimen („graues Gold“ in
der Aktionärssprache) den Weg zu ebnen.
Zusammengefasst
lauten die Ziele der Gegenreform:
- Der
Anteil der sozialisierten Ausgaben im Gesundheitswesen
(Krankenkassen) soll auf eine Minimalversorgung
„für die Bedürftigen“
und die Finanzierung „nicht versicherungsfähiger“
Risiken reduziert werden – somit auf
das, was vom kapitalistischen Standpunkt
aus unrentabel ist.
- Diese
Ausgaben sollen durch rigide Kontrollmechanismen
zu Lasten der Schwächsten begrenzt
werden.
- Die
Unternehmer sollen von der Finanzierung
des sozialisierten Lohnanteils ausgenommen
werden, indem die Sozialbeiträge drastisch
gesenkt und die Ausgaben via Steuer auf
die Lohnabhängigen überwälzt
werden.
- Die
Finanzierung nach dem Solidarprinzip soll
durch das Individualprinzip (Selbstbeteiligung)
oder durch eine (genossenschaftliche oder
private) Zusatzversicherung zulasten des
Versicherten ersetzt werden.
- Auf
diese Zusatzversicherungen sollen die „rentablen“
Segmente der Gesundheitsversorgung entfallen,
d. h. besonders die gängigen Leistungen
mit „geringem Risiko“, während
die „schweren Risiken“, die
aufwändigen Fälle und kostenintensiven
chronischen Erkrankungen weiterhin bei der
obligatorischen Versicherung verbleiben
sollen.
- Der
Stellenwert der öffentlichen Krankenhäuser
soll sinken, indem ihnen die unrentablen
Leistungen (aufwendige und komplizierte
Fälle, teure und riskante Eingriffe)
und die Versorgung der Minderbemittelten
aufgebürdet werden.
- Die
logistischen Tätigkeiten in den Krankenhäusern
sollen zugunsten privater Unternehmen outgesourct
werden.
- Die
„rentablen“ Leistungen der Krankenhäuser
sollen auf Privatkliniken übertragen
werden.
- Die
Bedeutung der öffentlichen Häuser
soll sinken, indem Teile der Primärversorgung
in den privatärztlichen Bereich verlagert
werden, andere Teile in den medizinisch-sozialen
Bereich.
II.
Welche politische Alternativen?
Der
Kampf gegen diese „Reformen“ darf
sich nicht darauf beschränken, einfach
das Bestehende zu verteidigen. Uns muss es im
Gegenteil darum gehen, eine Alternative zu propagieren,
die auf dem „Recht auf Gesundheit“
basiert. Unsere Vorstellungen lassen sich unter
die folgenden sechs Stichpunkte subsummieren:
- Prävention,
indem Bedingungen geschaffen, unter denen
Alle bei guter Gesundheit leben können;
- Gewährleistung
einer kostenlosen Gesundheitsversorgung
für Alle;
- Selbstverwaltete
Sozialversicherung;
- Erhalt
der öffentlichen Krankenhäuser
und Ausweitung zu einem richtiggehenden
öffentlichen Gesundheitsdienst;
- Neudefinition
der Tätigkeiten der niedergelassenen
Ärzte, besonders indem nicht mehr „Einzelleistungen“
vergütet werden;
- Sozialisierung
der Pharmaindustrie.
1.
Prävention durch Bekämpfung der krankmachenden
Gesellschafts- und Umwelteinflüsse
Für
das Recht auf Gesundheit bedarf es präventiver
Maßnahmen in allen Bereichen; bei der
Gesundheit am Arbeitsplatz geht es nicht nur
die Aufwertung der Arbeitsmediziner, sondern
um ein Vetorecht gegen gesundheitsschädliche
Arbeitsbedingungen für die Kommissionen,
die mit Hygiene, Sicherheit und Arbeitsbedingungen
der Arbeitsplätze betraut sind.
Politische
Entscheidungen bezüglich Umwelt, Landwirtschaft
und Raumordnung müssen gesundheitspolitische
Aspekte berücksichtigen.
2.
Gewährleistung einer kostenlosen Gesundheitsversorgung
für Alle
- Freier
Zugang zur medizinischen Versorgung für
alle setzt voraus, dass diese kostenlos
ist und zu 100 % erstattet wird von einer
Krankenkasse, die das Monopol innehat und
als Teil der solidarischen Sozialversicherung
ausschließlich durch Beiträge
der Arbeitgeber finanziert wird.
- Kosten
müssen generell mit der „Dritten
Seite“ abgerechnet wer den, um Vorleistungen
zu vermeiden, die zumeist abschreckend wirken.
- Alle
Formen der „Selbstbeteiligung“
und „Praxisgebühr“ müssen
abgeschafft werden.
- Erhöhte
Honorarsätze müssen verboten werden.
- Genossenschaftliche
Zusatzversicherungen sind nicht für
Kostenerstattung sondern ausschließlich
für vorbeugende Maßnahmen zuständig.
- Da
kein Profit aus dem Gesundheitswesen geschlagen
werden darf, müssen Privatversicherungen
ausgeschlossen werden.
3.
Selbstverwaltung der Sozialversicherung
- Rückkehr
zu den Gründungsprinzipien der Sozialversicherung.
Die Sozialbeiträge sind als sozialisierter,
„verallgemeinerter“ Teil der
Löhne zu sehen und müssen von
den Vertretern der Lohnabhängigen selbstverwaltet
werden, ohne dass die Unternehmer oder der
Staat intervenieren können.
- Die
Sozialversicherten wählen ihre Vertreter
in den Kassen.
-
Die Sozialversicherten werden bei allen
wichtigen Gesundheitsfragen hinzugezogen,
wobei die Diskussion öffentlich und
kontrovers unter Hinzuziehung von Expertenmeinungen
(Gesundheitsberufe, Wirtschaftswissenschaften,
Patientenverbände etc.) geführt
wird.
- Das
Gesetz zur Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen
(plan Juppé) muss abgeschafft werden.
4.
Erhalt der öffentlichen Krankenhäuser
und Ausweitung zu einem richtiggehenden öffentlichen
Gesundheitsdienst
In
erster Linie geht es um den Erhalt der bestehenden
Krankenhäuser:
- Alle
Streichungen von Betten, Angeboten und Häusern
müssen ausgesetzt werden und jede Entscheidung
über den Erhalt einer Versorgungseinrichtung
der Bevölkerung übertragen werden.
- Die
bisherigen „Reformen“ oder Reformpläne
müssen rückgängig gemacht
werden.
- Privatbetten
in öffentlichen Häusern müssen
abgeschafft werden.
- Den
Häusern müssen die notwendigen
Haushaltsmittel zugestanden werden (sofortige
8%ige Anpassung)
- Ein
Beschäftigungs- und Ausbildungsprogramm
muss auf den Weg gebracht werden, um 100
000 Stellen in den öffentlichen Krankenhäusern
zu schaffen.
- Der
Numerus clausus für das Medizinstudium
muss abgeschafft werden, um hinreichend
Ärzte für eine präventive
und kurative Medizin auszubilden.
- Enteignung
der nur zu Profitzwecken bestehenden Privatkliniken
und Überführung dieser Häuser
in öffentliches Eigentum.
- Übernahme
aller dortigen Beschäftigten in den
öffentlichen Dienst.
Unserer
Ansicht nach erstreckt sich die öffentliche
Gesundheitsfürsorge nicht allein auf die
Krankenhäuser. Daher fordern wir, dass
daneben auch öffentliche Gesundheitszentren
geschaffen werden müssen, die in den Städten
und Stadtteilen – angefangen bei den am
meisten unterversorgten Regionen – eine
kostenlose Versorgung anbieten müssen.
Diese Gesundheitszentren müssen mit den
öffentlichen Krankenhäusern verzahnt
werden, für die Prävention und Versorgung
zuständig sein und ggf. eine Krankenhauseinweisung
vornehmen.
Dort
muss eine fachübergreifende Versorgung
erfolgen, in der Allgemeinmediziner und Fachärzte,
medizinische Hilfsberufe und soziale Hilfeleistungen
zusammengefasst sind. In ständiger Kooperation
mit den niedergelassenen Fach- und Allgemeinärzten,
Sozialarbeitern, gewählten Vertretern etc.
müssen diese Teams sich um die Gesundheitsprobleme
in all ihrer (sozialen) Vielschichtigkeit kümmern
und eine Rund-um-die- Uhr-Versorgung sicherstellen.
Nur so können die gesundheitlichen Bedürfnisse
der Bevölkerung prophylaktisch und unmittelbar
sichergestellt und fällige Krankenhauseinweisungen
vorgenommen werden, ohne die Notfallambulanzen
zu überlasten. Freilich sollen sie nicht
an die Stelle der wohnortnahen Krankenhäuser
treten, in denen weiterhin Notarztversorgung,
Entbindungen und internistische wie chirurgische
Behandlung gewährleistet sein müssen.
5.
Neudefinition der Tätigkeit der Niedergelassenen
Wir
treten für eine Umorientierung der gegenwärtigen
medizinischen Versorgung durch die niedergelassenen
Ärzte ein:
- Die
Vergütung darf nicht mehr nach Einzelleistungen
erfolgen.
- Ein
neues Vergütungssystem muss die Gesundheitsvorsorge
und die aufgewendete Zeit pro Patient anstelle
ständig wachsender Einzeluntersuchungen
honorieren.
- Eine
kontinuierliche Weiterbildung durch unabhängige
Institute muss gewährleistet sein.
- Um
die Niederlassung von Allgemeinmedizinern
in aktuell unterversorgten Regionen attraktiv
zu machen und zugleich das Medizinstudium
demokratisch zu gestalten, sollen die Medizinstudenten
auf Wunsch ein Gehalt während ihres
Studiums beziehen als Entgelt für ein
künftiges Engagement bei Versorgungsengpässen.
6.
Sozialisierung der Pharmaindustrie
Da
wir Gesundheit nicht als Ware begreifen, kommen
wir nicht daran vorbei, für die Enteignung
der Pharmaindustrie, deren horrende Profite
von den Sozialbeiträgen finanziert werden,
einzutreten. Die pharmazeutische Forschung muss
öffentlich kontrolliert werden, da Medikamente
keine Waren sind. Entweder wirken sie und verfügen
über einen anerkannten therapeutischen
Nutzen und werden somit auch zu 100 % erstattet,
oder sie sind überflüssig oder gar
schädlich – dann dürfen sie
weder hergestellt noch verkauft werden.
Jean-Claude
Laumonier, Krankenpfleger in Rente, Gewerkschafter
in der CGT, ist Mitglied der Kommission „Gesundheit
und Sozialversicherung“ der Neuen antikapitalistischen
Partei (NPA, France) und der IV. Internationale.
Übersetzung: MiWe |