Das Herkunftslandprinzip besagt,
dass Dienstleistungsunternehmen in der EU -
zu denen die EU auch Handwerker oder produzierendes
Gewerbe zählt - nur dem Recht ihres Herkunftslands
unterliegen. Das Prinzip wurde auf Grund der
Proteste zwar etwas abgeschwächt, besteht
aber nach wie vor, das hat kürzlich der
Arbeitsrechtler Dr. Lorenz in einem für
die Hans-Böckler-Stiftung erstellten Gutachten
bestätigt.
Dienstleister dürfen die
in ihrem Herkunftsland üblichen Löhne
zahlen und auch nur von dort aus kontrolliert
werden. Die Regeln des Ziellands dürfen
bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen
aus dem EU-Ausland nur angewandt werden, «wenn
sie aus Gründen 1.der öffentlichen
Ordnung und/oder 2.der öffentlichen Sicherheit
und/oder 3.der öffentlichen Gesundheit
und/ oder 4.des Schutzes der Umwelt gerechtfertigt
sind» (aus dem Gutachten).
Das Herkunftslandprinzip gilt
sogar für das Strafrecht. Zwar gilt für
ausländische Unternehmer grundsätzlich
das deutsche Strafrecht, davon ausgenommen sind
jedoch ausgerechnet all die Gesetze, die speziell
mit einer Dienstleistung zu tun haben. Damit
ist «kriminelle Berufsausübung kaum
noch verfolgbar», kritisiert die IG BAU.
Nach den Erfahrungen der IG
BAU tendieren die meisten Anbieter aus mittel-
und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten
dazu, nicht nach legalen Regeln zu operieren,
sondern hiesige Mindeststandards systematisch
zu umgehen. In der Kombination dieser Vorgänge
sei ein ruinöser Preiswettbewerb zu erwarten,
der durch Mindestlöhne am Bau und in der
Gebäudereinigung nicht effektiv verhindert
werden könne. Die Folge, so befürchtet
die IG BAU, könne ein starker Rückgang
der Inlands-beschäftigung in den von ihr
organisierten Branchen sein.
Keine
Kontrolle
Aufgrund des Diskriminierungsverbots dürfen
die Zielländer keine Originaldokumente,
beglaubigte Kopien oder beglaubigte Übersetzungen
von Zeugnissen oder anderen Dokumenten verlangen,
die die Qualifikation eines Dienstleisters belegen.
Das gleiche Verbot gilt für den Nachweis
über die Staatsangehörigkeit und den
Wohnort der Dienstleistungserbringer, ihrer
Beschäftigten, Gesellschafter, Mitglieder
der Geschäftsführung oder Kontrollorgane.
Dieser Passus ermöglicht
es Dienstleistern, die billigsten Arbeitskräfte
in die EU einzuschleusen - dem Menschenhandel
wird Tor und Tür geöffnet. Auch Arbeitsunterlagen
wie Arbeitsverträge oder Abrechnungen müssen
nicht am Arbeitsort zur Verfügung stehen.
Eine effektive Kontrolle über Dienstleistungsanbieter
und ihre Beschäftigten sowie eine wirksame
Wirtschaftsaufsicht im Dienstleistungssektor
ist damit faktisch unmöglich.
Die EU-Mitgliedstaaten sind lediglich angehalten,
Informationen über bestimmte Gütesiegel
und sonstige Qualitätskennzeichen sowie
Verhaltenskodizes leicht zugänglich zu
machen. Gemeinsam mit der EU-Kommission müssen
sie «begleitende Maßnahmen»
ergreifen, um Dienstleister zu freiwilliger
Qualitätssicherung anzuhalten und die Entwicklung
von freiwilligen europäischen Standards
zu fördern. Von Verpflichtungen ist in
der Richtlinie keine Rede.
Insbesondere Ver.di hatte 2006
kritisiert, dass künftig «27 verschiedene
Rechtssysteme in 22 Sprachen nebeneinander gelten»,
was auf Kosten der Rechtssicherheit gehe. Der
DGB bezeichnete die Ausnahme bestimmter strafrechtlicher
Verfolgung als grundgesetzwidrig.
Mindestlohn
und Privatisierung
Der Wettlauf um die niedrigsten Steuern und
Sozialversicherungs-beiträge bekommt jetzt
einen zusätzlichen Schub, unabhängig
von den Auswirkungen der Krise. Das nun drohende
verstärkte Lohndumping ist nur durch einen
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn
zu verhindern. Einen solchen gibt es bereits
in 20 EU-Staaten, nirgendwo hat er zu mehr Arbeitslosigkeit
geführt.
Weite Bereiche der Daseinsvorsorge
wie Energie-, Wasser- und Abfallwirtschaft,
Bildung und Sozialdienstleistungen fallen in
den Anwendungsbereich der Richtlinie. In den
Jahren 2010 bis 2012 laufen bundesweit viele
Stromkonzessionen aus. Diese Dienstleistungen
müssen dann europaweit ausgeschrieben werden.
Für Kommunen, die sich
auf ÖPP-Modelle eingelassen haben, ist
wichtig, dass Mischmodelle nicht mit der Dienstleistungsrichtlinie
vereinbar sind; sie müssen ihre Dienstleistungen
dem freien Markt öffnen. Darüber hinaus
schreiben zahlreiche EU-Gebührenordnungen
vor, dass Gebühren künftig nur noch
kostendeckend sein dürfen. Die soziale
Staffelung von Gebühren nach Einkommen
zulasten der öffentlichen Haushalte wird
stark eingeschränkt.
Nationale Bildungssysteme unterliegen
hingegen nicht den Bestimmungen der Richtlinie,
sofern diese «noch überwiegend aus
öffentlichen Mitteln finanziert»
werden. Dies gilt jedoch nicht für überwiegend
privat finanzierte Bildungseinrichtungen im
Hochschulsektor, in der beruflichen Bildung
und der Weiterbildung.
Die Einführung von Studiengebühren
könnte bedeuten, dass der Europäische
Gerichtshof die Hochschulen als «privat»
einstuft, dann würden auch sie von der
Richtlinie erfasst.
Genauso verhält es sich
mit sozialen Dienstleistungen, die von privaten
Unternehmen, sozialen Initiativen oder öffentlich-privaten
Partnerschaften (ÖPP) erbracht werden.
Auch sie könnten unter die Richtlinie fallen.
Eine zentrale Rolle bei der DLR spielen die
sog. Einheitlichen Ansprechpartner, die es ab
dem 29.12.2009 geben muss und die als Kontaktstelle
zwischen einem Dienstleistungsanbieter aus einem
EU-Staat und den nationalen Behörden agieren.
eGovernment
Da die gesamte Verfahrensabwicklung in Zukunft
ausschließlich auf elektronischem Wege
erfolgen soll, treibt die Richtlinie faktisch
den Ausbau von eGovernment voran. Private Dienstleistungsunternehmen
wie Arvato (Bertelsmann) wittern ein Geschäft
und bieten Kommunalverwaltungen Unterstützung
bei der Umsetzung der Richtlinie an.
Arvato AG und Arvato Government
sind für den Bertelsmann-Konzern zur Erschließung
von Geschäftsfeldern in der öffentlichen
Verwaltung tätig. Hoheitliche Aufgaben
werden zunehmend an private Betreiber übergeben,
wodurch persönliche Daten der Bürger
über eGovernment gesammelt, ausgewertet
und evtl. auch weiter verkauft werden. Arvato
verwaltet Daten u.a. im Auftrag der Telekom,
der Bahn, der Schufa. Die Datenskandale bei
Telekom und Bahn lassen grüßen!
Die Bolksteinrichtlinie leistet
der Aushöhlung demokratischer Standards
Vorschub und erhöht den Wettbewerbsdruck
auf öffentliche Dienstleister. Ihr Ziel
der Richtlinie ist die Liberalisierung nahezu
des gesamten Dienstleistungssektors.
Die Autorin
ist Mitglied von Attac und MdB für DIE
LINKE. |