Seit
mehreren Monaten liegt die Inflationsrate nun
schon deutlich über 3 % (im Juli 3,3 %).
Im EU-Raum liegt sie bei 3,6%; in Spanien, das
gerade in eine Rezession eintritt, bei über
5%. Besonders stark wirkt sich der Anstieg der
Nahrungsmittelpreise aus. Im ersten Halbjahr
2008 ist der Kauf von Nahrungsmitteln um 4,2
% zurückgegangen, was besonders auf die
mangelnde Kaufkraft der Einkommensschwachen
zurückzuführen ist. Dazu gehören
in absehbarer Zeit auch vermehrt die RentnerInnen.
Seit 2002 sind die Renten real schon um 9% gesunken.
Und die großen Einschnitte kommen erst
noch.
Die
weiteren wirtschaftlichen Aussichten sind alles
andere als rosig: Im zweiten Quartal ist die
bundesdeutsche Wirtschaft um 0,5 % geschrumpft.
Die Angriffe auf Löhne und Transferzahlungen
werden also eher noch zunehmen, erst recht,
wenn die Auswirkungen der aktuellen Finanzkrise
auf die Realwirtschaft durchschlagen, wovon
spätestens seit Mitte September auszugehen
ist. Die Frage stellt sich somit: Können
wir dieser Entwicklung nur tatenlos zusehen
oder gibt es Handlungsmöglichkeiten für
die Betroffenen, die immerhin den überwältigenden
Teil der Bevölkerung ausmachen?
Eigentlich
müsste klar sein, dass die wichtigste Ebene
der Gegenwehr der Kampf um Reallohnsteigerungen
ist, weil sich letztlich daraus auch alles andere
direkt oder indirekt ableitet. Aber hier ist
nach wie vor Ebbe angesagt. Das liegt weniger
am Bewusstsein der KollegInnen oder an ihrer
Bereitschaft, notfalls auch zu streiken, sondern
an der Politik der Gewerkschaften. Zwar wurde
vom Vorstand der IG Metall eine höhere
Forderung als beim letzten Mal beschlossen,
doch von da bis zum entschlossenen Kampf für
eine deutliche Reallohnerhöhung bzw. einen
Ausgleich für die Verluste der vergangenen
Jahre ist es noch ein weiter Weg (siehe dazu
auch den Artikel zur Metall-Tarifrunde). Daneben
gibt es aber auch andere Ebenen, auf die wir
hier ein kurzes Schlaglicht werfen wollen: die
Situation der Erwerbslosen und die Zunahme prekärer
Beschäftigung (speziell zur Leiharbeit
verweisen wir auf die letzte Avanti).
Rückläufige Sozialtransfers
Selbst mitten im sogenannten Aufschwung ist
das Volumen der Transferzahlungen (ALG II, Bafög
usw.) um 6 % gesunken. Langzeiterwerbslose müssen
entweder im wahrsten Sinne des Wortes zunehmend
von der Substanz leben, also auf Kosten ihrer
Gesundheit, oder aber sie entschließen
sich, etwa im Zusammenhang mit außergewöhnlichen
Aufwendungen, vor das Sozialgericht zu ziehen.
Die Zahl der Klagen von Hartz-IV-EmpfängerInnen
auf höhere Leistungen steigt ständig.
Im ersten Halbjahr 2008 waren es 61.970 (ein
Anstieg um 36 %). 2007 waren es insgesamt 99.200;
dabei sind die Klagen in den 69 Optionskommunen
noch gar nicht berücksichtigt, denn die
werden nicht von der BA in Nürnberg erfasst.
In den Klagen geht es um Heizkosten, anrechenbares
Vermögen, Wohnungsgröße, Umzug
usw. Durchschnittlich ein Drittel der Klagen
ist erfolgreich. Laut Sozialrichter Kanert (Berlin)
endet fast jede zweite Klage mindestens mit
einem Teilerfolg. Des Weiteren gibt es laut
Kanert auch immer mehr Menschen, die sich aufgrund
von Sanktionen der Jobcenter an das Gericht
wenden. Auch Streitigkeiten über die Höhe
des anzurechnenden Einkommens aus Mini-Jobs
auf das Arbeitslosengeld-II seien immer häufiger,
so der Sprecher.
Das
liegt nicht nur an der „schlampigen Ausarbeitung
des Gesetzes“, wie inzwischen so oft dargestellt.
Es liegt vor allem an dem mit der Agenda 2010
eingeleitete Systemwechsel bei der Gewährung
von Transferzahlungen. Die dort begonnene Orientierung
am amerikanischen Rechtssystem der Beliebigkeit
und Willkürlichkeit von Transferzahlungen
beißt sich zurzeit noch zu sehr mit der
deutschen (europäischen) Vorstellung der
Bedarfsdeckung (was ist eine angemessene Wohnung?
usw.). Von daher ist der jüngste Beschluss
des hessischen Landessozialgerichts von großer
Bedeutung. Es lässt jetzt – aus Anlass
einer Klage, die von der Erwerbslosen-Initiative
ARCA Soziales Netzwerk e.V. aus Eschwege unterstützt
wird – durch Sachverständigengutachten
die Höhe der Regelleistungen überprüfen
(s. Kasten).
Mangelnde Strukturen
Die Erwerbslosen, die sich heute in zunehmendem
Maß wehren, tun dies allerdings noch vorwiegend
individuell mithilfe eines Rechtsanwalts und
bestenfalls gestützt auf lokale oder regionale
Selbsthilfegruppen. Real vernetzt sind diese
Initiativen praktisch nur über das Internet.
Einen politischen Austausch und eine gemeinsame
Formulierung von Zielen und den Aufbau einer
organisierten Bewegung gibt es heute nicht.
Was
wäre zu tun? Diese Betroffenengruppen,
besonders aus Hessen, könnten beispielsweise
an die beiden Gutachter Martens und Becker herantreten
und ihnen ihre eigenen Berechnungen bzw. Feststellungen
des Fehlbedarfs unterbreiten ( I-H.Becker@t-online.de
). Vor allem aber: Die Betroffenengruppen müssten
sich – nicht nur diesbezüglich –
in einer bundesweiten Struktur austauschen,
ihre Daten und Erfahrungen untereinander kommunizieren
und vor allem auch die politischen Schlussfolgerungen
gemeinsam erörtern.
Denn
die Betroffenengruppen sind, so weit sie selbst
tatsächlich Erhebungen vorgenommen haben,
zu ganz anderen Ergebnissen gekommen als etwa
der Paritätische Wohlfahrtsverband, dessen
wissenschaftlicher Leiter Martens ist, oder
die Partei Die Linke, die heute beide eine Anhebung
des Eckregelsatzes auf 420 € fordern (die
Partei Die Linke fordert übrigens keine
Abschaffung von HartzIV, sondern nur ein „weg
von Hartz IV“). Auch die Forderung von
500 €, wie sie vom Frankfurter Appell 2003
aufgestellt wurde, ist heute längst überholt.
Der RSB unterstützt die Forderung vieler
Betroffener, den Eckregelsatz auf 700 €
anzuheben.
Immerhin ist Martens zuzustimmen, wenn er ausführt:
„Die Errechnung der Höhe des Regelsatzes
in der Sozialhilfe und beim Arbeitslosengeld
II täuscht eine empirische Objektivität
vor, wo es sich in Wirklichkeit um willkürliche
Festlegungen handelt. Wissenschaftliche Seriosität
– dieser Eindruck muss sich aufdrängen
– wurde dem Ziel geopfert, den Regelsatz
in jedem Falle konstant zu halten. Am offensichtlichsten
wird diese Manipulation bei der Korrektur der
Regelsatzberechnung zwischen Sommer 2003 und
Frühjahr 2004.“1
In
den Jahren 2003-2006 gab es immerhin so etwas
wie den Ansatz einer bundesweiten sozialen Bewegung:
die bundesweite Demo in Berlin am 1.11.03, Montagsdemos,
Bündnis 3. Juni usw. Diese Bewegung
hat sich aber nicht ausgeweitet. Sie ist für
sich allein genommen zu schwach geblieben und
deswegen regelrecht zusammengefallen. Heute
ist aber nicht nur die objektive Sachlage noch
dringlicher. Nach mehr als dreieinhalb Jahren
realer Erfahrung mit Hartz IV und vor allem
vor dem Hintergrund des starken Anstiegs der
Lebenshaltungskosten gibt es auch ein anderes
Problembewusstsein in breiten Schichten der
Bevölkerung. Ein Aufbau einer bundesweit
agierenden Bewegung von unten müsste eigentlich
möglich sein. Und sie müsste nicht
aus dem Nichts entstehen, denn lokale Gruppen
und kleinere überörtliche Netzwerke
gibt es sehr wohl, es fehlt nur an einem Anstoß,
der offensichtlich von Kräften ausgehen
muss, die eine gewisse politische Glaubwürdigkeit
haben und weithin anerkannt sind.
Immer noch sinkende Reallöhne
Seit Anfang des Jahres nimmt der Verlust an
Kaufkraft auch bei den Beschäftigten deutlich
zu. Von 2005 bis 2007 sind die Reallöhne
im Schnitt schon um 1,5% gesunken. Von Januar
bis Juni diesen Jahres ist das Entgelt pro Arbeitsstunde
gegenüber der Vorjahresperiode verbraucherpreisbereinigt
um 1,4 % gefallen. Das hat mehrere Ursachen:
Es gibt trotz der Ermutigung durch den Kampf
der LokführerInnen keine offensive Tarifpolitik.
Immer noch kontrollieren die Gewerkschaftsvorstände
vollkommen die Tarifrunden der großen
Branchen und Beschäftigtengruppen. Sie
sind mehr denn je auf Standortpolitik und Konfliktvermeidung
aus und verhindern selbst bei ökonomisch
günstigen Voraussetzungen (s. Lufthansa),
dass die Reallohnverluste der vergangenen Jahre
ausgeglichen werden.
Die
Beschäftigten sind zwar heute erkennbar
konfliktbereiter als noch vor wenigen Jahren
(s. Einzelhandel, Lufthansa, Altersteilzeit
in der Metallindustrie usw.), aber sie sind
ganz und gar von den gewerkschaftlichen Apparaten
und deren Verhandlungsführung abhängig.
Ein eigenständiges Einmischen in das Geschehen
oder gar eine Kontrolle der Kampfführung,
der Verhandlungen oder gar des Abschlusses durch
die Basis findet nicht statt. Bestenfalls gibt
es für besonders schändliche Abschlüsse,
wie zuletzt für das Bodenpersonal der Lufthansa,
eine mittlere Ohrfeige in der Abstimmung (49
% haben abgelehnt). Aber von Streikkomitees
und eigenständigen Mobilisierungen sind
wir noch weit weg.
Ergänzt
wird diese Entwicklung durch die dramatische
Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse,
die wie selten zuvor auf die Löhne und
Arbeitsbedingungen der regulär beschäftigten
sozialversicherungspflichtigen Stammbelegschaften
drücken (s. dazu auch Avanti vom Juli/August).
Am 9. September meldete das Statistische Bundesamt,
dass die Zahl so genannter „atypischer
Beschäftigungsverhältnisse“
dramatisch zugenommen hat. Sie liegt heute bei
7,7 Mio. Unter dem verharmlosenden Begriff der
„Atypischen“ versteht man amtlicherseits
die Befristeten, die Teilzeitbeschäftigten
unter 20 Stunden, 1-€-JobberInnen usw.
Seit 1997 haben in diesem Bereich die Leiharbeitsverhältnisse
um 139 % zugenommen, die geringfügig Beschäftigten
um 111 %, die „Befristeten“ um 46
% und die Teilzeitbeschäftigten um 46 %.
Das Statistische Bundesamt: „Die Zahl
der insgesamt in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden
hat sich im Vergleich zu 1997 nahezu nicht verändert.
Dieser Befund spricht also eher dafür,
dass im Rahmen des Beschäftigungswachstums
das gleiche zeitliche Volumen an Arbeit auf
mehr Köpfe umverteilt wurde.“ Damit
ist also Arbeit umverteilt worden, hin zu Beschäftigungsverhältnissen,
die dazu beitragen, die Statistik zu bereinigen,
aber den Menschen kein ausreichendes Einkommen
ermöglichen. 27 % von ihnen müssen
entweder über Transferzahlungen oder von
der Familie unterstützt werden.
Das
Statistische Bundesamt: „Atypische Beschäftigung
kann häufig mit prekärer Beschäftigung
einhergehen, ist mit dieser aber nicht gleichzusetzen.“
Diese Zunahme des Billiglohnsektors zieht
indirekt natürlich auch die darüber
liegenden Einkommensgruppen nach unten und erschwert
den Kampf um Reallohnerhöhungen.
„Wovon sollen Kinder leben?“
So titelt das neueste Flugblatt von Klartext
e.V. (Ffm). Dort heißt es unter der Überschrift:
„Kindergeld ist Lohnzuschuss“: „…Doch
ausgerechnet die Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände (BDA) gehörte
zu den Ersten, die das [Anhebung des Kindergelds]
forderten. ‚Außerdem müssen
die Kindergeldsätze an das Sozialhilfeniveau
angepasst werden, damit Kinder faktisch aus
der Sozialhilfe herausgenommen werden.‘
(Presse-Informationen 19.12.01 – PI 85/01:
Dr. Hundt zum Niedriglohn). Warum fordert die
BDA die Verdoppelung einer Sozialleistung? ‚Ein
höheres Kindergeld sorgt bei Eltern mit
Kindern… dafür, dass sich für
sie die Aufnahme einer – auch gering bezahlten
– Arbeit lohnt‘ (BDA 09.01.02 –
PI 02/02)“. In der Tat: Kindergeld ist
wie andere Lohnergänzungszahlungen, wie
etwa auch das ergänzende ALG II, ein Mittel,
die Löhne niedrig zu halten bzw. zu senken,
denn die Gemeinschaft, der berühmte Steuerzahler,
sorgt ja dann für das physische Überleben
der Lohnabhängigen und ihrer Kinder.
Welches Kampfprogramm?
Eine konsequente Politik der Verteidigung der
Interessen der Lohnabhängigen muss also
auf verschiedenen Ebenen ansetzen:
Das Kindergeld muss in der Tat verdoppelt werden,
aber bezahlen sollen dies bitte die KapitalistInnen
und zwar über die Erhöhung der Gewinnsteuern.
Wir müssen allen Tendenzen zur Ausdehnung
der Kombilöhne entgegenwirken. Es braucht
einen bundesweiten Kampf zur Anhebung der Regelsätze
für Erwerbslose und ihre Angehörigen,
ganz speziell der Kinder, denen mit der Umstellung
auf Hartz IV die Mittel zum Wachsen und Lernen
entzogen wurden. Ein 13-jähriger etwa wird
mit einem Säugling gleichgesetzt. Im Gegensatz
zu Klartext e.V. meinen wir aber, dass der Regelsatz
für Erwachsene nicht nur auf 500 €,
sondern auf 700 € angehoben werden müsste.
Dies sollte uns jedoch nicht davon abhalten,
die von Klartext und dem Rhein-Main-Bündnis
angestoßene und inzwischen breit unterstützte
Kampagne zur Anhebung der Regelsätze für
Kinder zu unterstützen (also beispielsweise
für die 14-17-jährigen wieder 90 %
des Eckregelsatzes;2
Es
braucht einen entschlossenen Kampf für
einen branchenübergreifenden bundesweit
einheitlichen Mindestlohn von 12 €. Selbst
10 € reichen für eineN AlleinstehendeN
noch nicht, die Armutsschwelle zu überschreiten.
In
allen anstehenden Tarifrunden muss für
eine substanzielle Lohnerhöhung gekämpft
werden. Die Metalltarifrunde wird die nächste
Gelegenheit sein, um sich nicht einen faulen
Kompromiss aufs Auge drücken zu lassen.
Entsprechend sollte also das Auftreten der Aktiven
bei den dort jetzt anstehenden Versammlungen
(Funktionärskonferenzen und ab Anfang November
bei den Warnstreiks) sein.
1
http://www.berlinerarbeitslosenzentrum.de/download/martens_referat_regelsatz_2006.pdf
2 Nähere Infos unter edgar-schu@die-soziale-bewegung.de
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