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Deutschland

Wehrlos angesichts sinkender Kaufkraft?

von Daniel Berger - aus Avanti - 01.10.2008


Die anziehende Teuerung trifft mindestens drei Viertel der abhängig Beschäftigten, den allergrößten Teil der RentnerInnen und praktisch alle Menschen, die von Transferzahlungen abhängig sind (Erwerbslose, Bafög-EmpfängerInnen usw.). Die Gewerkschaftsführungen sind unwillig, den Kampf zum Erhalt der Kaufkraft aufzunehmen, und eine breite soziale Bewegung existiert heute nicht.

Seit mehreren Monaten liegt die Inflationsrate nun schon deutlich über 3 % (im Juli 3,3 %). Im EU-Raum liegt sie bei 3,6%; in Spanien, das gerade in eine Rezession eintritt, bei über 5%. Besonders stark wirkt sich der Anstieg der Nahrungsmittelpreise aus. Im ersten Halbjahr 2008 ist der Kauf von Nahrungsmitteln um 4,2 % zurückgegangen, was besonders auf die mangelnde Kaufkraft der Einkommensschwachen zurückzuführen ist. Dazu gehören in absehbarer Zeit auch vermehrt die RentnerInnen. Seit 2002 sind die Renten real schon um 9% gesunken. Und die großen Einschnitte kommen erst noch.

Die weiteren wirtschaftlichen Aussichten sind alles andere als rosig: Im zweiten Quartal ist die bundesdeutsche Wirtschaft um 0,5 % geschrumpft. Die Angriffe auf Löhne und Transferzahlungen werden also eher noch zunehmen, erst recht, wenn die Auswirkungen der aktuellen Finanzkrise auf die Realwirtschaft durchschlagen, wovon spätestens seit Mitte September auszugehen ist. Die Frage stellt sich somit: Können wir dieser Entwicklung nur tatenlos zusehen oder gibt es Handlungsmöglichkeiten für die Betroffenen, die immerhin den überwältigenden Teil der Bevölkerung ausmachen?

Eigentlich müsste klar sein, dass die wichtigste Ebene der Gegenwehr der Kampf um Reallohnsteigerungen ist, weil sich letztlich daraus auch alles andere direkt oder indirekt ableitet. Aber hier ist nach wie vor Ebbe angesagt. Das liegt weniger am Bewusstsein der KollegInnen oder an ihrer Bereitschaft, notfalls auch zu streiken, sondern an der Politik der Gewerkschaften. Zwar wurde vom Vorstand der IG Metall eine höhere Forderung als beim letzten Mal beschlossen, doch von da bis zum entschlossenen Kampf für eine deutliche Reallohnerhöhung bzw. einen Ausgleich für die Verluste der vergangenen Jahre ist es noch ein weiter Weg (siehe dazu auch den Artikel zur Metall-Tarifrunde). Daneben gibt es aber auch andere Ebenen, auf die wir hier ein kurzes Schlaglicht werfen wollen: die Situation der Erwerbslosen und die Zunahme prekärer Beschäftigung (speziell zur Leiharbeit verweisen wir auf die letzte Avanti).

Rückläufige Sozialtransfers

Selbst mitten im sogenannten Aufschwung ist das Volumen der Transferzahlungen (ALG II, Bafög usw.) um 6 % gesunken. Langzeiterwerbslose müssen entweder im wahrsten Sinne des Wortes zunehmend von der Substanz leben, also auf Kosten ihrer Gesundheit, oder aber sie entschließen sich, etwa im Zusammenhang mit außergewöhnlichen Aufwendungen, vor das Sozialgericht zu ziehen. Die Zahl der Klagen von Hartz-IV-EmpfängerInnen auf höhere Leistungen steigt ständig. Im ersten Halbjahr 2008 waren es 61.970 (ein Anstieg um 36 %). 2007 waren es insgesamt 99.200; dabei sind die Klagen in den 69 Optionskommunen noch gar nicht berücksichtigt, denn die werden nicht von der BA in Nürnberg erfasst. In den Klagen geht es um Heizkosten, anrechenbares Vermögen, Wohnungsgröße, Umzug usw. Durchschnittlich ein Drittel der Klagen ist erfolgreich. Laut Sozialrichter Kanert (Berlin) endet fast jede zweite Klage mindestens mit einem Teilerfolg. Des Weiteren gibt es laut Kanert auch immer mehr Menschen, die sich aufgrund von Sanktionen der Jobcenter an das Gericht wenden. Auch Streitigkeiten über die Höhe des anzurechnenden Einkommens aus Mini-Jobs auf das Arbeitslosengeld-II seien immer häufiger, so der Sprecher.

Das liegt nicht nur an der „schlampigen Ausarbeitung des Gesetzes“, wie inzwischen so oft dargestellt. Es liegt vor allem an dem mit der Agenda 2010 eingeleitete Systemwechsel bei der Gewährung von Transferzahlungen. Die dort begonnene Orientierung am amerikanischen Rechtssystem der Beliebigkeit und Willkürlichkeit von Transferzahlungen beißt sich zurzeit noch zu sehr mit der deutschen (europäischen) Vorstellung der Bedarfsdeckung (was ist eine angemessene Wohnung? usw.). Von daher ist der jüngste Beschluss des hessischen Landessozialgerichts von großer Bedeutung. Es lässt jetzt – aus Anlass einer Klage, die von der Erwerbslosen-Initiative ARCA Soziales Netzwerk e.V. aus Eschwege unterstützt wird – durch Sachverständigengutachten die Höhe der Regelleistungen überprüfen (s. Kasten).

Mangelnde Strukturen

Die Erwerbslosen, die sich heute in zunehmendem Maß wehren, tun dies allerdings noch vorwiegend individuell mithilfe eines Rechtsanwalts und bestenfalls gestützt auf lokale oder regionale Selbsthilfegruppen. Real vernetzt sind diese Initiativen praktisch nur über das Internet. Einen politischen Austausch und eine gemeinsame Formulierung von Zielen und den Aufbau einer organisierten Bewegung gibt es heute nicht.

Was wäre zu tun? Diese Betroffenengruppen, besonders aus Hessen, könnten beispielsweise an die beiden Gutachter Martens und Becker herantreten und ihnen ihre eigenen Berechnungen bzw. Feststellungen des Fehlbedarfs unterbreiten ( I-H.Becker@t-online.de ). Vor allem aber: Die Betroffenengruppen müssten sich – nicht nur diesbezüglich – in einer bundesweiten Struktur austauschen, ihre Daten und Erfahrungen untereinander kommunizieren und vor allem auch die politischen Schlussfolgerungen gemeinsam erörtern.

Denn die Betroffenengruppen sind, so weit sie selbst tatsächlich Erhebungen vorgenommen haben, zu ganz anderen Ergebnissen gekommen als etwa der Paritätische Wohlfahrtsverband, dessen wissenschaftlicher Leiter Martens ist, oder die Partei Die Linke, die heute beide eine Anhebung des Eckregelsatzes auf 420 € fordern (die Partei Die Linke fordert übrigens keine Abschaffung von HartzIV, sondern nur ein „weg von Hartz IV“). Auch die Forderung von 500 €, wie sie vom Frankfurter Appell 2003 aufgestellt wurde, ist heute längst überholt. Der RSB unterstützt die Forderung vieler Betroffener, den Eckregelsatz auf 700 € anzuheben.
Immerhin ist Martens zuzustimmen, wenn er ausführt: „Die Errechnung der Höhe des Regelsatzes in der Sozialhilfe und beim Arbeitslosengeld II täuscht eine empirische Objektivität vor, wo es sich in Wirklichkeit um willkürliche Festlegungen handelt. Wissenschaftliche Seriosität – dieser Eindruck muss sich aufdrängen – wurde dem Ziel geopfert, den Regelsatz in jedem Falle konstant zu halten. Am offensichtlichsten wird diese Manipulation bei der Korrektur der Regelsatzberechnung zwischen Sommer 2003 und Frühjahr 2004.“1

In den Jahren 2003-2006 gab es immerhin so etwas wie den Ansatz einer bundesweiten sozialen Bewegung: die bundesweite Demo in Berlin am 1.11.03, Montagsdemos, Bündnis 3. Juni usw. Die­se Bewegung hat sich aber nicht ausgeweitet. Sie ist für sich allein genommen zu schwach geblieben und deswegen regelrecht zusammengefallen. Heute ist aber nicht nur die objektive Sachlage noch dringlicher. Nach mehr als dreieinhalb Jahren realer Erfahrung mit Hartz IV und vor allem vor dem Hintergrund des starken Anstiegs der Lebenshaltungskosten gibt es auch ein anderes Problembewusstsein in breiten Schichten der Bevölkerung. Ein Aufbau einer bundesweit agierenden Bewegung von unten müsste eigentlich möglich sein. Und sie müsste nicht aus dem Nichts entstehen, denn lokale Gruppen und kleinere überörtliche Netzwerke gibt es sehr wohl, es fehlt nur an einem Anstoß, der offensichtlich von Kräften ausgehen muss, die eine gewisse politische Glaubwürdigkeit haben und weithin anerkannt sind.

Immer noch sinkende Reallöhne

Seit Anfang des Jahres nimmt der Verlust an Kaufkraft auch bei den Beschäftigten deutlich zu. Von 2005 bis 2007 sind die Reallöhne im Schnitt schon um 1,5% gesunken. Von Januar bis Juni diesen Jahres ist das Entgelt pro Arbeitsstunde gegenüber der Vorjahresperiode verbraucherpreisbereinigt um 1,4 % gefallen. Das hat mehrere Ursachen:
Es gibt trotz der Ermutigung durch den Kampf der LokführerInnen keine offensive Tarifpolitik. Immer noch kontrollieren die Gewerkschaftsvorstände vollkommen die Tarifrunden der großen Branchen und Beschäftigtengruppen. Sie sind mehr denn je auf Standortpolitik und Konfliktvermeidung aus und verhindern selbst bei ökonomisch günstigen Voraussetzungen (s. Lufthansa), dass die Reallohnverluste der vergangenen Jahre ausgeglichen werden.

Die Beschäftigten sind zwar heute erkennbar konfliktbereiter als noch vor wenigen Jahren (s. Einzelhandel, Lufthansa, Altersteilzeit in der Metallindustrie usw.), aber sie sind ganz und gar von den gewerkschaftlichen Apparaten und deren Verhandlungsführung abhängig. Ein eigenständiges Einmischen in das Geschehen oder gar eine Kontrolle der Kampfführung, der Verhandlungen oder gar des Abschlusses durch die Basis findet nicht statt. Bestenfalls gibt es für besonders schändliche Abschlüsse, wie zuletzt für das Bodenpersonal der Lufthansa, eine mittlere Ohrfeige in der Abstimmung (49 % haben abgelehnt). Aber von Streikkomitees und eigenständigen Mobilisierungen sind wir noch weit weg.

Ergänzt wird diese Entwicklung durch die dramatische Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse, die wie selten zuvor auf die Löhne und Arbeitsbedingungen der regulär beschäftigten sozialversicherungspflichtigen Stammbelegschaften drücken (s. dazu auch Avanti vom Juli/August). Am 9. September meldete das Statistische Bundesamt, dass die Zahl so genannter „atypischer Beschäftigungsverhältnisse“ dramatisch zugenommen hat. Sie liegt heute bei 7,7 Mio. Unter dem verharmlosenden Begriff der „Atypischen“ versteht man amtlicherseits die Befristeten, die Teilzeitbeschäftigten unter 20 Stunden, 1-€-JobberInnen usw. Seit 1997 haben in diesem Bereich die Leiharbeitsverhältnisse um 139 % zugenommen, die geringfügig Beschäftigten um 111 %, die „Befristeten“ um 46 % und die Teilzeitbeschäftigten um 46 %. Das Statistische Bundesamt: „Die Zahl der insgesamt in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden hat sich im Vergleich zu 1997 nahezu nicht verändert. Dieser Befund spricht also eher dafür, dass im Rahmen des Beschäftigungswachstums das gleiche zeitliche Volumen an Arbeit auf mehr Köpfe umverteilt wurde.“ Damit ist also Arbeit umverteilt worden, hin zu Beschäftigungsverhältnissen, die dazu beitragen, die Statistik zu bereinigen, aber den Menschen kein ausreichendes Einkommen ermöglichen. 27 % von ihnen müssen entweder über Transferzahlungen oder von der Familie unterstützt werden.

Das Statistische Bundesamt: „Atypische Beschäftigung kann häufig mit prekärer Beschäftigung einhergehen, ist mit dieser aber nicht gleichzusetzen.“ Die­se Zunahme des Billiglohnsektors zieht indirekt natürlich auch die darüber liegenden Einkommensgruppen nach unten und erschwert den Kampf um Reallohnerhöhungen.

„Wovon sollen Kinder leben?“

So titelt das neueste Flugblatt von Klartext e.V. (Ffm). Dort heißt es unter der Überschrift: „Kindergeld ist Lohnzuschuss“: „…Doch ausgerechnet die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) gehörte zu den Ersten, die das [Anhebung des Kindergelds] forderten. ‚Außerdem müssen die Kindergeldsätze an das Sozialhilfeniveau angepasst werden, damit Kinder faktisch aus der Sozialhilfe herausgenommen werden.‘ (Presse-Informationen 19.12.01 – PI 85/01: Dr. Hundt zum Niedriglohn). Warum fordert die BDA die Verdoppelung einer Sozialleistung? ‚Ein höheres Kindergeld sorgt bei Eltern mit Kindern… dafür, dass sich für sie die Aufnahme einer – auch gering bezahlten – Arbeit lohnt‘ (BDA 09.01.02 – PI 02/02)“. In der Tat: Kindergeld ist wie andere Lohnergänzungszahlungen, wie etwa auch das ergänzende ALG II, ein Mittel, die Löhne niedrig zu halten bzw. zu senken, denn die Gemeinschaft, der berühmte Steuerzahler, sorgt ja dann für das physische Überleben der Lohnabhängigen und ihrer Kinder.

Welches Kampfprogramm?

Eine konsequente Politik der Verteidigung der Interessen der Lohnabhängigen muss also auf verschiedenen Ebenen ansetzen:
Das Kindergeld muss in der Tat verdoppelt werden, aber bezahlen sollen dies bitte die KapitalistInnen und zwar über die Erhöhung der Gewinnsteuern. Wir müssen allen Tendenzen zur Ausdehnung der Kombilöhne entgegenwirken. Es braucht einen bundesweiten Kampf zur Anhebung der Regelsätze für Erwerbslose und ihre Angehörigen, ganz speziell der Kinder, denen mit der Umstellung auf Hartz IV die Mittel zum Wachsen und Lernen entzogen wurden. Ein 13-jähriger etwa wird mit einem Säugling gleichgesetzt. Im Gegensatz zu Klartext e.V. meinen wir aber, dass der Regelsatz für Erwachsene nicht nur auf 500 €, sondern auf 700 € angehoben werden müsste. Dies sollte uns jedoch nicht davon abhalten, die von Klartext und dem Rhein-Main-Bündnis angestoßene und inzwischen breit unterstützte Kampagne zur Anhebung der Regelsätze für Kinder zu unterstützen (also beispielsweise für die 14-17-jährigen wieder 90 % des Eckregelsatzes;2

Es braucht einen entschlossenen Kampf für einen branchenübergreifenden bundesweit einheitlichen Mindestlohn von 12 €. Selbst 10 € reichen für eineN AlleinstehendeN noch nicht, die Armutsschwelle zu überschreiten.

In allen anstehenden Tarifrunden muss für eine substanzielle Lohnerhöhung gekämpft werden. Die Metalltarifrunde wird die nächste Gelegenheit sein, um sich nicht einen faulen Kompromiss aufs Auge drücken zu lassen. Entsprechend sollte also das Auftreten der Aktiven bei den dort jetzt anstehenden Versammlungen (Funktionärskonferenzen und ab Anfang November bei den Warnstreiks) sein.

1 http://www.berlinerarbeitslosenzentrum.de/download/martens_referat_regelsatz_2006.pdf
2 Nähere Infos unter edgar-schu@die-soziale-bewegung.de