Vor
einem Jahr schien es noch unmöglich, dass
sich breiterer Widerstand formierte. Dabei hatte
der Bundeskanzler am 14.März 2003 eine
Ansprache an die Nation gehalten, die „Blut,
Schweiss und Tränen“ ankündigte:
die brutalsten und folgenreichsten Einschnitte
in die Leistungen für Arbeitslose, im Gesundheitswesen
und im Arbeitsrecht, die je eine deutsche Nachkriegsregierung
in Angriff genommen hat.1 Die Gewerkschaften
kritisierten die Rede als „sozial unausgewogen“,
aber sie beliessen es beim verbalen Protest,
obwohl der Kanzler damit sein Wahlversprechen
brach, das er ein halbes Jahr zuvor gegeben
hatte. Im Sommer 2002, mitten im Wahlkampf zur
Bundestagswahl, hatten führende VertreterInnen
von IG Metall und ver. di2 in der Hartz-Kommission3
gesessen und ihr Ergebnis mitgetragen, unter
der Voraussetzung, dass das Niveau der Arbeitslosenhilfe
nicht abgesenkt werde. Nun verkündete Gerhard
Schröder, der Bezug des Arbeitslosengelds
werde gekürzt und die Arbeitslosenhilfe
abgeschafft.
Sparflut
und Teuro
Seine
Rede entfesselte eine Flut von „Spargesetzen“
in Bund, Ländern und Gemeinden, die wie
ein Rasenmäher über die gesamte öffentliche
Daseinsvorsorge, auch über Bildung, Kultur
und öffentliche Einrichtungen jeder Art
hinweggehen, so dass mit einem Schlag den Menschen
die dreifache Last des Teuro4 aufgebürdet
wird: Streichung der Mindestsicherung bei steigender
Erwerbslosigkeit, Erhöhung der Arbeitsplatzunsicherheit,
Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen.
Die
Rede läutete einen „Systembruch“
ein. Das wollten anfänglich viele nicht
begreifen. Die Gewerkschaften setzten alles
daran, die SPD wie gewohnt in informellen Gesprächen
umzustimmen. Die Demonstration von ver. di gegen
die Pläne zur Gesundheits „reform“
am 17. Mai 2003 und die regionalen Mobilisierungen
des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) eine
Woche später vermieden den offenen Konflikt
noch, mehr als eine Drohkulisse sollten die
Demonstrationen nicht sein. Entsprechend mager
fielen sie aus, viele kehrten davon eher frustriert
nach Hause. Eine Demonstration am 1. Juni vor
dem Sonderparteitag der SPD in Berlin versammelte
gerade mal 1000 Menschen, obwohl etliche Berliner
Gewerkschaften dazu aufgerufen hatten. Es war
nicht ernst gemeint.
Erst
als der Kanzler auf diesem Parteitag dem DGB-Chef
Michael Sommer die Tür vor der Nase zuschlug,
verstand man auch in den oberen und mittleren
Etagen der Gewerkschaften, dass „der politische
Partner abhanden“ gekommen war. Das hat
die Gewerkschaften Monate lang gelähmt;
der Anstoss zum Massenprotest, der nicht mehr
bettelt, sondern Widerstand ankündigt,
kam dann von den Erwerbslosen, den Anti-Hartz-Bündnissen,
den Kräften der radikalen Linken.
Im
September begann auf lokaler und regionaler
Ebene eine Welle von Massenprotesten: vor allem
Polizisten, RentnerInnen und Sozialverbände
gingen auf die Strasse. Düsseldorf sah
am 24.September eine Demonstration von 30.000
Teilnehmenden, Wiesbaden am 18.November (einem
Werktag) eine Demonstration von 50.000 Teilnehmenden.
Insgesamt gab es in den Monaten September und
Oktober dreissig grössere Protestaktionen.
Am
1.November versammelten sich in Berlin unerwartet
100000 Protestierende aus dem ganzen Bundesgebiet.
Der größte Teil davon kam allerdings
aus Berlin und hatte sich dem Demonstrationszug
spontan angeschlossen. Damit wurde ein neues
Tor aufgestossen, und wie das Feld dahinter
bestellt ist, das wird gerade erkundschaftet.
Immerhin lassen sich ein paar Merkmale festhalten:
Das
Ende der Geduld
Die
Rücksichtnahme auf eine angeblich befreundete
rot-grüne Regierung ist vorbei, die Geduld
der Menschen auch. Eine Umfrage nach dem 3.April
hat ergeben, dass inzwischen zwei Drittel mit
dem Kurs der Bundesregierung unzufrieden sind.
Die Proteste entladen sich nicht allein in Demonstrationen;
in den Gewerkschaften hat ein tiefgreifender
Prozess der Neuorientierung begonnen, während
die SPD-Führung auf manchem Parteitag tumultartige
Szenen erlebt. Die Proteste richten sich auch
nicht allein gegen die Bundesebene. In Hamburg,
Bremen und Berlin sind Volksbegehren gegen die
geplante Privatisierung von Krankenhäusern
angelaufen; in Berlin ist ein Volksbegehren
gegen den vom SPD-PDS-Senat vorgelegten Landeshaushalt
zugelassen worden. In den Kommunen sind die
Folgen der „Spar“ politik mit am
stärksten spürbar.
Die
SPD hat in den vergangenen zwölf Monaten
100’000 Mitglieder verloren; zuvor hatte
sie 1999 bei den Kommunalwahlen im bevölkerungsreichsten
und traditionell SPD-orientierten Bundesland
Nordrhein-Westfalen einen historischen Absturz
erlebt und zahlreiche Rathäuser an die
CDU abgegeben; die Kette der Wahlniederlagen
hat sich im März 2004 bei den Landtagswahlen
in Hamburg fortgesetzt. In diesem Jahr hat die
SPD noch ein Dutzend Wahlen zu bestehen, und
es gehört kein seherisches Vermögen
dazu zu sagen, dass sie unter ihnen begraben
werden wird.
Die
Reaktionen der Regierung auf die Massenproteste
erschöpfen sich in Unbeweglichkeit; immer
wieder wiederholen ihre Sprecher, es gebe zu
ihrer Politik keine Alternative und die CDU
werde alles nur noch schlimmer machen. Aber
diese Tatsache hat aufgehört, die Menschen
zu schrecken. Sie fangen an zu verstehen, dass
sie eine Alternative jenseits der im Bundestag
vertretenen Parteien suchen müssen.
Die
Regierung hat trotz der Durchhalteparolen aber
auch zu verstehen gegeben, dass sie bis zur
nächsten Bundestagswahl keine neuen Grausamkeiten
mehr auflegen will; allerdings würden die
begonnenen Maßnahmen zu Ende geführt.
Grosse bürokratische Schwierigkeiten hat
sie beim Arbeitslosengeld (ALG) II, das an die
Stelle der Arbeitslosenhilfe getreten ist; es
ist bislang unklar und Gegenstand politischen
Streits, wer das ALG II auszahlen soll, die
Kommunen oder die neue Bundesagentur für
Arbeit. Des weiteren droht sie damit, die Unternehmer
zu einer Ausbildungsplatzabgabe zu zwingen,
damit Lehrstellen geschaffen werden. Mit solchen
Maßnahmen versucht sie, rechtzeitig im
Vorfeld der Bundestagswahlen 2006 Boden gut
zu machen. Den Erfolg wird man sehen; sie handelt
sich damit allerdings auch eine Unbeweglichkeit
ein, die niemanden zufrieden stellen wird, weder
die Unternehmer noch die Lohnabhängigen.
Wahlalternative
oder Linkspartei
Eine
Antwort auf die Einsicht, dass die SPD nicht
mehr zu einer Umkehr zu bewegen ist, bilden
die Bemühungen auf verschiedenen Ebenen,
eine Wahlalternative für das Bundestagswahl
2006 vorzubereiten. Die Initiative dazu geht
vom mittleren (und Teilen des oberen) Funktionärskörpers
der Gewerkschaften aus. Die „Wahlalternative
2006“ hat Rückhalt bei einigen Landesbezirksvorständen
von ver. di, wobei die Initiative dazu nicht
von der neu gegründeten verdi-Linken ausgeht,
sondern beim Kreis um die Zeitschrift Sozialismus
und bei Teilen der Memorandum-Gruppe liegt.5
Die Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit
ist parallel entstanden und geht vor allem von
der bayrischen IG Metall aus.6 Ihr prominentestes
Mitglied ist Klaus Ernst, der auf dem Gewerkschaftstag
im vergangenen Oktober gegen Berthold Huber
für den stellvertretenden Vorsitz kandidiert
hatte und diesem knapp unterlegen war. Am 6.Juni
werden die beiden Initiativen sowie weitere
Interessierte auf einem gemeinsamen Kongress
in Berlin beraten, auf welcher Grundlage sie
2006 antreten wollen. Bisher lesen sich ihre
Texte als der Wunsch: „Wir wollen unsere
alte SPD wieder haben.“ Doch das ist eine
Illusion. Das Rad läßt sich nicht
zurückdrehen. Jede Wahlinitiative, die
sich ausserhalb des Rahmens der neoliberalen
Politik stellt, wird zwangsläufig mit den
neuen Verhältnissen konfrontiert: der zunehmenden
Prekarisierung der Existenzbedingungen, der
notwendigen gewerkschaftlichen Neuorientierung,
der Globalisierungskritik und der davon ausgelösten
Bewegung, der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit,
der EU-Osterweiterung und ihren sozialen Folgen.
Sie wird die alte, stets neue Frage beantworten
müssen, wie sie politische Wirksamkeit
definiert: ob als Wirken im Rahmen der bestehenden
Institutionen, oder als Konstruktion eines sozialen
Subjekts. Insofern haben die Gewerkschaftsfunktionäre
mit SPD-Parteibuch, die es gewagt haben, den
Tempelbezirk zu verlassen, einen Schritt gemacht,
von dem sie selbst nicht wissen, wohin er führt.
Gegen sie läuft ein Parteiausschlussverfahren,
das sie kalt lässt, eher blamiert es die
Parteiführung. Darüber hinaus fühlen
sich breite Teile der Aktiven auf der Linken
und der extremen Linken von dem Projekt angezogen
und werden versuchen, es zu beeinflussen. Die
Initiatoren versuchen, sich „gegen die
Unterwanderung“ zu schützen, indem
sie die Teilnahme restriktiv halten. Ob sie
das durchhalten können, ist fraglich, und
wenn sie es durchhalten, setzen sie einen Teil
ihres Erfolgs aufs Spiel.
Bei
all diesen Schwächen muss man eins sehen:
Dies ist der erste politische Formierungsversuch
auf der Linken seit dem Bestehen der BRD, der
auf dem Boden der sozialen Frage entsteht und
aus dem Herzen der organisierten Arbeiterbewegung
kommt. Hier wird nicht mehr Altes abgewickelt,
sondern Neues versucht. Es wird darauf ankommen,
auch auf diesem Feld einen langen Atem zu entwickeln.
Neue
Perspektiven der sozialen Bewegung
Mindestens
ebenso spannend ist die Entwicklung der sozialen
Bewegung. Seitdem das Bündnis für
Arbeit7 zum zweiten Mal geplatzt ist und in
den Gewerkschaften offen der Verlust des politischen
Partners beklagt wird, stellt sich für
die Gewerkschaften natürlich die Frage,
wie sie in Zukunft ihre Anliegen durchsetzen
können. Eine Antwort darauf ist die Herstellung
breiter sozialer Bündnisse, die geeignet
sind, die Menschen zu mobilisieren und einen
außerparlamentarischen Druck aufzubauen.
Solche Bündnisse sind in den letzten Monaten
sehr zahlreich in vielen größeren
und kleineren Städten entstanden; manchmal
sind es auch regionale Bündnisse, manchmal
nennen sie sich Sozialforen und manchmal werden
sie von Gewerkschaften initiiert; vor allem
verdi spielt dabei (regional unterschiedlich)
eine aktive Rolle. Ein ganzer Flickenteppich
ist auf diese Weise entstanden, und die Dynamik
geht in die Richtung der Bündelung und
Zusammenfassung der Kräfte. Ihre Fortentwicklung
speist sich nicht allein aus der Agenda 2010,
auch aus den Privatisierungsvorhaben auf kommunaler
Ebene, aus den Forderungen der Erwerbslosen
nach einem Mindesteinkommen, von dem man in
Würde leben kann, aus den fortdauernden
Angriffen auf Löhne und Arbeitszeiten.
Die nächste Herausforderung ist hier die
Kündigung der Tarifverträge für
den öffentlichen Dienst durch die Bundesländer.
Die Innenminister wollen die Arbeitszeiten verlängern
von jetzt 37,5 Stunden pro Woche auf 41 und
42 Wochenstunden – bei gleich bleibender
Bezahlung, versteht sich.
Auf
diese Weise wird der soziale Aufruhr weiter
geschürt und die außerparlamentarische
Bewegung entwickelt sich parallel zu den Versuchen
der politischen Neuformierung.
Der
1. November 2003 wurde im wesentlichen von den
Kräften der radikalen Linken vorbereitet;
der 3. April 2004 hat zwei Vorbereitungsstrukturen
gesehen, den Apparat des DGB und eine Aktionskonferenz,
die von der radikalen Linken bis zur Gewerkschaftslinken,
den Erwerbslosen und Attac ein breites Spektrum
umfasste. Nach dem 3. April geht die Tendenz
dahin, den Rahmen der Aktionskonferenz aufrecht
zu erhalten als eine unabhängige Struktur,
die ein von den gewerkschaftlichen Vorständen
eigenständiges Agieren erlaubt. Gleichzeitig
laufen die Vorbereitungen für die Organisierung
eines ersten deutschen Sozialforums im Juni
2005 an; es soll mindestens 10.000 Menschen
anziehen und kann zu einem phantastischen Kristallisationspunkt
von alternativen Inhalten und Strukturen der
Gegenwehr werden.
Parallel
dazu werden wichtige Kongresse organisiert,
die der sozialen Bewegung weitere Orientierung
vermitteln. Dazu zählt ein Perspektivenkongress
Mitte Mai, der ursprünglich von verdi angeschoben
wurde, inzwischen aber von einem breiten Bündnis
getragen wird, zu dem auch der Runde Tisch der
Erwerbslosen und Attac gehören.8 Dieser
Kongress ist charakteristisch für die Zusammenarbeit,
die sich in letzter Zeit zwischen Teilen der
Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen entwickelt
hat; sie erstreckt sich nicht nur auf organisatorische
Fragen, es steht auch das Bemühen dahinter,
über Organisationsgrenzen hinweg zu gemeinsamen
Antworten zu kommen, z.B. in der Frage Grundeinkommen
vs. Recht auf Arbeit. Die Sozialforumsbewegung,
vor allem das Europäische Sozialforum,
hat dazu wertvolle Antöße geliefert.
Viele Mauern von früher sind gefallen,
das ist vielleicht der wichtigste Trumpf der
neuen Bewegung.
Der
3. April gibt der aufsteigenden Bewegung neuen
Schwung und öffnet neue Türen. Vieles
ist in Bewegung gekommen, vieles scheint derzeit
möglich, was vor einem Jahr noch undenkbar
war. Das geht nicht unbegrenzt; wir haben ein
Zeitfenster bis zum Abtritt der SPD-Grüne-Regierung.
Der kann auch vor dem Wahltermin 2006 passieren.
1. Siehe dazu den Beitrag von Peter Streckeisen
in Debatte 6, Juli-August 2003 (S. 8-11). (Red.)
2.
Ver. di ist die grosse deutsche Gewerkschaft
des öffentlichen Sektors. Sie entstand
erst vor kurzer Zeit durch die Fusion zahlreicher
sektorspezifischer Gewerkschaften. Die IG Metall
organisiert die Lohnabhängigen in Schlüsselbranchen
der deutschen Wirtschaft (insbesondere Automobilindustrie).
(Red.)
3.
Bundeskanzler Schröder hat während
der Kampagne für die Bundestagswahl 2002
eine so genannte Expertenkommission gegründet,
die Vorschläge zur „Reform“
des deutschen Arbeitsmarkts ausarbeiten sollte.
Die Leitung dieser Kommission wurde dem VW-Personalchef
Hartz anvertraut… (Red.)
4.
Der Ausdruck des „Teuro“ hat sich
in Deutschland eingebürgert, um die mit
der Einführung des Euro verbundenen Auswirkungen
auf den Anstieg der Preise für Lebensmittel
und Konsumgüter zu bezeichnen. (Red.)
5.
Vgl. dazu die Webseite www.wahlalternative.de.
Eine interessante Stellungnahme zur Diskussion
über eine neue Linkspartei ist auf der
Webseite von Linksruck (www.linksruck.de) zu
finden. (Red.)
6.
Vgl. dazu die Webseite www.initiative-asg.de
(Red.).
7.
Bundeskanzler Schröder hatte in neo-korporatistischer
Art und Weise SpitzenvertreterInnen der Gewerkschaften
und der Unternehmerverbände zu Gesprächen
über die „Reform“ des deutschen
Arbeitsmarktes geladen und diesen „Runden
Tisch“ (wie man es in der Schweiz nennen
würde) als Bündnis für Arbeit
bezeichnet.
8.
Informationen zu diesem Kongress sind zu finden
unter www.perspektivenkongress.de (Red.). |