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Massenproteste in Deutschland gegen
Schröders Agenda 2010

Neue Herausforderungen, neue Chancen

Am 3.April 2004 fand in Berlin, Köln und Stuttgart die zusammengenommen grösste Demonstration gegen Sozialabbau seit Bestehen der Bundesrepublik statt, der Grösse nach gleichauf mit den Friedensdemonstrationen der frühen 80er Jahre. Die Folgen werden ungleich weiter reichen.


von Angela Klein
aus Debatte Nr. 8 vom Mai 2004

 

Berlin am 3. April
 

Vor einem Jahr schien es noch unmöglich, dass sich breiterer Widerstand formierte. Dabei hatte der Bundeskanzler am 14.März 2003 eine Ansprache an die Nation gehalten, die „Blut, Schweiss und Tränen“ ankündigte: die brutalsten und folgenreichsten Einschnitte in die Leistungen für Arbeitslose, im Gesundheitswesen und im Arbeitsrecht, die je eine deutsche Nachkriegsregierung in Angriff genommen hat.1 Die Gewerkschaften kritisierten die Rede als „sozial unausgewogen“, aber sie beliessen es beim verbalen Protest, obwohl der Kanzler damit sein Wahlversprechen brach, das er ein halbes Jahr zuvor gegeben hatte. Im Sommer 2002, mitten im Wahlkampf zur Bundestagswahl, hatten führende VertreterInnen von IG Metall und ver. di2 in der Hartz-Kommission3 gesessen und ihr Ergebnis mitgetragen, unter der Voraussetzung, dass das Niveau der Arbeitslosenhilfe nicht abgesenkt werde. Nun verkündete Gerhard Schröder, der Bezug des Arbeitslosengelds werde gekürzt und die Arbeitslosenhilfe abgeschafft.

Sparflut und Teuro

Seine Rede entfesselte eine Flut von „Spargesetzen“ in Bund, Ländern und Gemeinden, die wie ein Rasenmäher über die gesamte öffentliche Daseinsvorsorge, auch über Bildung, Kultur und öffentliche Einrichtungen jeder Art hinweggehen, so dass mit einem Schlag den Menschen die dreifache Last des Teuro4 aufgebürdet wird: Streichung der Mindestsicherung bei steigender Erwerbslosigkeit, Erhöhung der Arbeitsplatzunsicherheit, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen.

Die Rede läutete einen „Systembruch“ ein. Das wollten anfänglich viele nicht begreifen. Die Gewerkschaften setzten alles daran, die SPD wie gewohnt in informellen Gesprächen umzustimmen. Die Demonstration von ver. di gegen die Pläne zur Gesundheits „reform“ am 17. Mai 2003 und die regionalen Mobilisierungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) eine Woche später vermieden den offenen Konflikt noch, mehr als eine Drohkulisse sollten die Demonstrationen nicht sein. Entsprechend mager fielen sie aus, viele kehrten davon eher frustriert nach Hause. Eine Demonstration am 1. Juni vor dem Sonderparteitag der SPD in Berlin versammelte gerade mal 1000 Menschen, obwohl etliche Berliner Gewerkschaften dazu aufgerufen hatten. Es war nicht ernst gemeint.

Erst als der Kanzler auf diesem Parteitag dem DGB-Chef Michael Sommer die Tür vor der Nase zuschlug, verstand man auch in den oberen und mittleren Etagen der Gewerkschaften, dass „der politische Partner abhanden“ gekommen war. Das hat die Gewerkschaften Monate lang gelähmt; der Anstoss zum Massenprotest, der nicht mehr bettelt, sondern Widerstand ankündigt, kam dann von den Erwerbslosen, den Anti-Hartz-Bündnissen, den Kräften der radikalen Linken.

Im September begann auf lokaler und regionaler Ebene eine Welle von Massenprotesten: vor allem Polizisten, RentnerInnen und Sozialverbände gingen auf die Strasse. Düsseldorf sah am 24.September eine Demonstration von 30.000 Teilnehmenden, Wiesbaden am 18.November (einem Werktag) eine Demonstration von 50.000 Teilnehmenden. Insgesamt gab es in den Monaten September und Oktober dreissig grössere Protestaktionen.

Am 1.November versammelten sich in Berlin unerwartet 100000 Protestierende aus dem ganzen Bundesgebiet. Der größte Teil davon kam allerdings aus Berlin und hatte sich dem Demonstrationszug spontan angeschlossen. Damit wurde ein neues Tor aufgestossen, und wie das Feld dahinter bestellt ist, das wird gerade erkundschaftet. Immerhin lassen sich ein paar Merkmale festhalten:


Das Ende der Geduld

Die Rücksichtnahme auf eine angeblich befreundete rot-grüne Regierung ist vorbei, die Geduld der Menschen auch. Eine Umfrage nach dem 3.April hat ergeben, dass inzwischen zwei Drittel mit dem Kurs der Bundesregierung unzufrieden sind. Die Proteste entladen sich nicht allein in Demonstrationen; in den Gewerkschaften hat ein tiefgreifender Prozess der Neuorientierung begonnen, während die SPD-Führung auf manchem Parteitag tumultartige Szenen erlebt. Die Proteste richten sich auch nicht allein gegen die Bundesebene. In Hamburg, Bremen und Berlin sind Volksbegehren gegen die geplante Privatisierung von Krankenhäusern angelaufen; in Berlin ist ein Volksbegehren gegen den vom SPD-PDS-Senat vorgelegten Landeshaushalt zugelassen worden. In den Kommunen sind die Folgen der „Spar“ politik mit am stärksten spürbar.

Die SPD hat in den vergangenen zwölf Monaten 100’000 Mitglieder verloren; zuvor hatte sie 1999 bei den Kommunalwahlen im bevölkerungsreichsten und traditionell SPD-orientierten Bundesland Nordrhein-Westfalen einen historischen Absturz erlebt und zahlreiche Rathäuser an die CDU abgegeben; die Kette der Wahlniederlagen hat sich im März 2004 bei den Landtagswahlen in Hamburg fortgesetzt. In diesem Jahr hat die SPD noch ein Dutzend Wahlen zu bestehen, und es gehört kein seherisches Vermögen dazu zu sagen, dass sie unter ihnen begraben werden wird.

Die Reaktionen der Regierung auf die Massenproteste erschöpfen sich in Unbeweglichkeit; immer wieder wiederholen ihre Sprecher, es gebe zu ihrer Politik keine Alternative und die CDU werde alles nur noch schlimmer machen. Aber diese Tatsache hat aufgehört, die Menschen zu schrecken. Sie fangen an zu verstehen, dass sie eine Alternative jenseits der im Bundestag vertretenen Parteien suchen müssen.

Die Regierung hat trotz der Durchhalteparolen aber auch zu verstehen gegeben, dass sie bis zur nächsten Bundestagswahl keine neuen Grausamkeiten mehr auflegen will; allerdings würden die begonnenen Maßnahmen zu Ende geführt. Grosse bürokratische Schwierigkeiten hat sie beim Arbeitslosengeld (ALG) II, das an die Stelle der Arbeitslosenhilfe getreten ist; es ist bislang unklar und Gegenstand politischen Streits, wer das ALG II auszahlen soll, die Kommunen oder die neue Bundesagentur für Arbeit. Des weiteren droht sie damit, die Unternehmer zu einer Ausbildungsplatzabgabe zu zwingen, damit Lehrstellen geschaffen werden. Mit solchen Maßnahmen versucht sie, rechtzeitig im Vorfeld der Bundestagswahlen 2006 Boden gut zu machen. Den Erfolg wird man sehen; sie handelt sich damit allerdings auch eine Unbeweglichkeit ein, die niemanden zufrieden stellen wird, weder die Unternehmer noch die Lohnabhängigen.


Wahlalternative oder Linkspartei

Eine Antwort auf die Einsicht, dass die SPD nicht mehr zu einer Umkehr zu bewegen ist, bilden die Bemühungen auf verschiedenen Ebenen, eine Wahlalternative für das Bundestagswahl 2006 vorzubereiten. Die Initiative dazu geht vom mittleren (und Teilen des oberen) Funktionärskörpers der Gewerkschaften aus. Die „Wahlalternative 2006“ hat Rückhalt bei einigen Landesbezirksvorständen von ver. di, wobei die Initiative dazu nicht von der neu gegründeten verdi-Linken ausgeht, sondern beim Kreis um die Zeitschrift Sozialismus und bei Teilen der Memorandum-Gruppe liegt.5 Die Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit ist parallel entstanden und geht vor allem von der bayrischen IG Metall aus.6 Ihr prominentestes Mitglied ist Klaus Ernst, der auf dem Gewerkschaftstag im vergangenen Oktober gegen Berthold Huber für den stellvertretenden Vorsitz kandidiert hatte und diesem knapp unterlegen war. Am 6.Juni werden die beiden Initiativen sowie weitere Interessierte auf einem gemeinsamen Kongress in Berlin beraten, auf welcher Grundlage sie 2006 antreten wollen. Bisher lesen sich ihre Texte als der Wunsch: „Wir wollen unsere alte SPD wieder haben.“ Doch das ist eine Illusion. Das Rad läßt sich nicht zurückdrehen. Jede Wahlinitiative, die sich ausserhalb des Rahmens der neoliberalen Politik stellt, wird zwangsläufig mit den neuen Verhältnissen konfrontiert: der zunehmenden Prekarisierung der Existenzbedingungen, der notwendigen gewerkschaftlichen Neuorientierung, der Globalisierungskritik und der davon ausgelösten Bewegung, der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit, der EU-Osterweiterung und ihren sozialen Folgen. Sie wird die alte, stets neue Frage beantworten müssen, wie sie politische Wirksamkeit definiert: ob als Wirken im Rahmen der bestehenden Institutionen, oder als Konstruktion eines sozialen Subjekts. Insofern haben die Gewerkschaftsfunktionäre mit SPD-Parteibuch, die es gewagt haben, den Tempelbezirk zu verlassen, einen Schritt gemacht, von dem sie selbst nicht wissen, wohin er führt. Gegen sie läuft ein Parteiausschlussverfahren, das sie kalt lässt, eher blamiert es die Parteiführung. Darüber hinaus fühlen sich breite Teile der Aktiven auf der Linken und der extremen Linken von dem Projekt angezogen und werden versuchen, es zu beeinflussen. Die Initiatoren versuchen, sich „gegen die Unterwanderung“ zu schützen, indem sie die Teilnahme restriktiv halten. Ob sie das durchhalten können, ist fraglich, und wenn sie es durchhalten, setzen sie einen Teil ihres Erfolgs aufs Spiel.

Bei all diesen Schwächen muss man eins sehen: Dies ist der erste politische Formierungsversuch auf der Linken seit dem Bestehen der BRD, der auf dem Boden der sozialen Frage entsteht und aus dem Herzen der organisierten Arbeiterbewegung kommt. Hier wird nicht mehr Altes abgewickelt, sondern Neues versucht. Es wird darauf ankommen, auch auf diesem Feld einen langen Atem zu entwickeln.


Neue Perspektiven der sozialen Bewegung

Mindestens ebenso spannend ist die Entwicklung der sozialen Bewegung. Seitdem das Bündnis für Arbeit7 zum zweiten Mal geplatzt ist und in den Gewerkschaften offen der Verlust des politischen Partners beklagt wird, stellt sich für die Gewerkschaften natürlich die Frage, wie sie in Zukunft ihre Anliegen durchsetzen können. Eine Antwort darauf ist die Herstellung breiter sozialer Bündnisse, die geeignet sind, die Menschen zu mobilisieren und einen außerparlamentarischen Druck aufzubauen. Solche Bündnisse sind in den letzten Monaten sehr zahlreich in vielen größeren und kleineren Städten entstanden; manchmal sind es auch regionale Bündnisse, manchmal nennen sie sich Sozialforen und manchmal werden sie von Gewerkschaften initiiert; vor allem verdi spielt dabei (regional unterschiedlich) eine aktive Rolle. Ein ganzer Flickenteppich ist auf diese Weise entstanden, und die Dynamik geht in die Richtung der Bündelung und Zusammenfassung der Kräfte. Ihre Fortentwicklung speist sich nicht allein aus der Agenda 2010, auch aus den Privatisierungsvorhaben auf kommunaler Ebene, aus den Forderungen der Erwerbslosen nach einem Mindesteinkommen, von dem man in Würde leben kann, aus den fortdauernden Angriffen auf Löhne und Arbeitszeiten. Die nächste Herausforderung ist hier die Kündigung der Tarifverträge für den öffentlichen Dienst durch die Bundesländer. Die Innenminister wollen die Arbeitszeiten verlängern von jetzt 37,5 Stunden pro Woche auf 41 und 42 Wochenstunden – bei gleich bleibender Bezahlung, versteht sich.

Auf diese Weise wird der soziale Aufruhr weiter geschürt und die außerparlamentarische Bewegung entwickelt sich parallel zu den Versuchen der politischen Neuformierung.

Der 1. November 2003 wurde im wesentlichen von den Kräften der radikalen Linken vorbereitet; der 3. April 2004 hat zwei Vorbereitungsstrukturen gesehen, den Apparat des DGB und eine Aktionskonferenz, die von der radikalen Linken bis zur Gewerkschaftslinken, den Erwerbslosen und Attac ein breites Spektrum umfasste. Nach dem 3. April geht die Tendenz dahin, den Rahmen der Aktionskonferenz aufrecht zu erhalten als eine unabhängige Struktur, die ein von den gewerkschaftlichen Vorständen eigenständiges Agieren erlaubt. Gleichzeitig laufen die Vorbereitungen für die Organisierung eines ersten deutschen Sozialforums im Juni 2005 an; es soll mindestens 10.000 Menschen anziehen und kann zu einem phantastischen Kristallisationspunkt von alternativen Inhalten und Strukturen der Gegenwehr werden.

Parallel dazu werden wichtige Kongresse organisiert, die der sozialen Bewegung weitere Orientierung vermitteln. Dazu zählt ein Perspektivenkongress Mitte Mai, der ursprünglich von verdi angeschoben wurde, inzwischen aber von einem breiten Bündnis getragen wird, zu dem auch der Runde Tisch der Erwerbslosen und Attac gehören.8 Dieser Kongress ist charakteristisch für die Zusammenarbeit, die sich in letzter Zeit zwischen Teilen der Gewerkschaften und den sozialen Bewegungen entwickelt hat; sie erstreckt sich nicht nur auf organisatorische Fragen, es steht auch das Bemühen dahinter, über Organisationsgrenzen hinweg zu gemeinsamen Antworten zu kommen, z.B. in der Frage Grundeinkommen vs. Recht auf Arbeit. Die Sozialforumsbewegung, vor allem das Europäische Sozialforum, hat dazu wertvolle Antöße geliefert. Viele Mauern von früher sind gefallen, das ist vielleicht der wichtigste Trumpf der neuen Bewegung.

Der 3. April gibt der aufsteigenden Bewegung neuen Schwung und öffnet neue Türen. Vieles ist in Bewegung gekommen, vieles scheint derzeit möglich, was vor einem Jahr noch undenkbar war. Das geht nicht unbegrenzt; wir haben ein Zeitfenster bis zum Abtritt der SPD-Grüne-Regierung. Der kann auch vor dem Wahltermin 2006 passieren.


1. Siehe dazu den Beitrag von Peter Streckeisen in Debatte 6, Juli-August 2003 (S. 8-11). (Red.)

2. Ver. di ist die grosse deutsche Gewerkschaft des öffentlichen Sektors. Sie entstand erst vor kurzer Zeit durch die Fusion zahlreicher sektorspezifischer Gewerkschaften. Die IG Metall organisiert die Lohnabhängigen in Schlüsselbranchen der deutschen Wirtschaft (insbesondere Automobilindustrie). (Red.)

3. Bundeskanzler Schröder hat während der Kampagne für die Bundestagswahl 2002 eine so genannte Expertenkommission gegründet, die Vorschläge zur „Reform“ des deutschen Arbeitsmarkts ausarbeiten sollte. Die Leitung dieser Kommission wurde dem VW-Personalchef Hartz anvertraut… (Red.)

4. Der Ausdruck des „Teuro“ hat sich in Deutschland eingebürgert, um die mit der Einführung des Euro verbundenen Auswirkungen auf den Anstieg der Preise für Lebensmittel und Konsumgüter zu bezeichnen. (Red.)

5. Vgl. dazu die Webseite www.wahlalternative.de. Eine interessante Stellungnahme zur Diskussion über eine neue Linkspartei ist auf der Webseite von Linksruck (www.linksruck.de) zu finden. (Red.)

6. Vgl. dazu die Webseite www.initiative-asg.de (Red.).

7. Bundeskanzler Schröder hatte in neo-korporatistischer Art und Weise SpitzenvertreterInnen der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände zu Gesprächen über die „Reform“ des deutschen Arbeitsmarktes geladen und diesen „Runden Tisch“ (wie man es in der Schweiz nennen würde) als Bündnis für Arbeit bezeichnet.

8. Informationen zu diesem Kongress sind zu finden unter www.perspektivenkongress.de (Red.).