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Deutschland:
Lohnsteigerungen mittels Appellen an die Vernunft?

von Jakob Schäfer - aus Avanti Nr. 188 - 1. Juni 2011


Die aktuelle Zuspitzung der Eurokrise ist eine logische Folge internationaler kapitalistischer Konkurrenz. Und in diesem Zusammenhang ist sie auch eine Konsequenz der bundesdeutschen Tarifpolitik, sprich der hiesigen Reallohnentwicklung.

Die 2007/2008 ausgebrochene Wirtschaftskrise ist – oberflächlich betrachtet – zwar in den meisten EU-Ländern überwunden, aber zu einem sehr hohen Preis: Gewaltige Summen wurden zur Stützung der Banken aufgebracht, und seit Frühjahr 2010 haben wir eine nicht endende Eurokrise. Denn die EU ist mit ihren Rettungsplänen (Griechenland, Irland, Portugal, andere werden zwangsläufig folgen) in einem tatsächlichen Dilemma, wie inzwischen auch der Spiegel anerkennt, der noch vor einem Jahr die Krise in Griechenland darauf zurückführte, dass die Menschen dort „über ihre Verhältnisse gelebt“ haben. Auf Spiegel-Online stand: „Griechenland steckt in einem gewaltigen Dilemma: Das Land muss sparen, um weiter Hilfe der Euro-Partner zu bekommen. Doch die Radikalkur würgt das Wirtschaftswachstum ab - und macht damit neue Schulden notwendig.“

Ungebrochen neoliberale Politik

Die Verwertungsschwierigkeiten für das Kapital haben sich seit Mitte der 1970er Jahre deutlich erhöht. Das ist der wesentliche Grund, weshalb seit den 1980er Jahren die Finanzmärkte zunehmend liberalisiert wurden und das anlagehungrige Kapital überproportional in diesen Sektor floss (s. Kasten). Dass sich damit zwangsläufig eine Blase bildete, weil diese Zunahme und die dort abgeschöpften Gewinne nicht realwirtschaftlich gedeckt waren, ist auch den bürgerlichen Ökonom­Innen klar, zumindest den etwas seriöseren unter ihnen. Aber daraus ergibt sich noch lange keine Änderung der Politik, wie an der Verwässerung von „Basel III“ zu sehen ist. Dieses Instrument, das noch verhandelt wird, soll im Wesentlichen nur die Kerneigenkapitalquote der Banken erhöhen (von 2 % bis 2019 schrittweise auf 7 %), aber es ist klar, dass damit weder die Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals überwunden werden noch die Bildung neuer Blasen verhindert wird.

Da auch in den wirtschaftlich schwächeren EU-Ländern eine extreme Sozialisierung der Bankenverluste stattfand, musste dort die Zahlungsschwierigkeit als Erstes auftreten. Irland z. B. entwickelte in Folge der Wirtschaftskrise ein Haushaltsdefizit von 12 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Da die Regierung (in neoliberaler EU-Logik) die hohen Bankenverluste übernahm, stieg dieses Haushaltsdefizit auf 36 % des BIP. Auf die BRD übertragen wären das 900 Mrd. €!

Der zweite wesentliche Grund für die immer schlechter werdenden Bedingungen in Griechenland und den anderen Ländern in vergleichbarer Lage ist der enorm hohe Exportdruck der deutschen Industrie. „Mit Griechenland, Portugal und Spanien […] baute Deutschland in den Jahren 2000 bis 2010 einen Handelsbilanzüberschuss von zusammen 267 Mrd. Euro auf, davon allein 37 Mrd. Euro im Vorkrisenjahr 2007.[…] Dabei half die in Deutschland ausgebremste Lohnentwicklung, die Deutschland bei festen Wechselkursen immer wettbewerbsfähiger machte“ (Joachim Jahnke: www.jjahnke.net).

Die deutsche Wirtschaft kommt regelmäßig zu einem Außenhandelsüberschuss von 150 - 185 Mrd. € (2007: 184,9 Mrd., 2010: 152,4 Mrd.). Allein im ersten Quartal 2011 waren es 41 Mrd. €.

Lohnstückkosten und Reallöhne

Ein wesentlicher (wenn auch beileibe nicht der einzige) Grund für den extremen Exporterfolg der deutschen Industrie sind die in Deutschland stagnierenden und stellenweise sinkenden Lohnstückkosten. Dies ist zum einen eine Folge des anhaltenden technologischen Vorsprungs der hier operierenden Konzerne, zum anderen ist es den sinkenden Reallöhnen in Deutschland geschuldet: So schrieb das DGB-Organ Einblick schon 2005: „Schlusslicht Deutschland: In den letzten zehn Jahren sind die Einkommen der abhängig Beschäftigten in den 15 alten EU-Ländern real um 7,4 Prozent gestiegen, in den USA um 19,6 Prozent, in Großbritannien und Schweden sogar um etwas über 25 Prozent. In Deutschland sind die Einkommen nach Berechnungen des WSI-Tarifarchivs im gleichen Zeitraum [1995 – 2004] hingegen um 0,9 Prozent gesunken.“

Seitdem ist es nur schlimmer geworden. Laut Statistisches Taschenbuch Tarifpolitik 2011 sind in den Jahren 2000 bis 2010 die realen Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer um 3,9 % zurückgegangen.

Schlimmer noch: Die Entwicklung zur Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse geht ungebremst weiter: In den Jahren 2000 - 2010 ist die Zahl der offiziell registrierten Erwerbslosen um 650?000 zurückgegangen (nach der Zählweise der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, waren es nur 210?000 weniger), aber gleichzeitig stieg die Zahl der Scheinselbständigen („Solo-Selbständige“) um 500?000, die der Ein-Euro-Jobber um 310?000, die der „Geringfügig Beschäftigten“ um 770?000, die der Teilzeitbeschäftigten um 1,83 Mio. und die der Leiharbeiter­Innen um 470?000.

Mit anderen Worten: In diesem Zeitraum sind (ohne die Leiharbeitsstellen) 2?550?000 normale Vollzeitstellen verschwunden. Vor allem die Leiharbeit grassiert heute ganz gewaltig und drückt auf alle normalen sozialversicherungspflichtigen (Vollzeit-)Stellen. Laut aktueller DGB-Studie verdienen Leihkräfte im Schnitt 48 % weniger als die „normal“ Beschäftigten.

Vor allem der sogenannte „Billiglohnbereich“ dehnt sich immer mehr aus. Im Durchschnitt des Jahres 2010 erhielten 1,383 Millionen Beschäftigten ergänzendes ALG II, das sind 4,4 % mehr als 2009 und 13 % mehr als 2007.

Gegenwehr der Gewerkschaften?

Die mangelnde Gegenwehr der Gewerkschaften lässt sich nun wirklich nicht mit den verschlechterten Gesamtbedingungen rechtfertigen. Schließlich mangelt es schon an einer genauen Positionsbestimmung. So schreibt beispielsweise die IG Metall: „Darum fordert die IG Metall unter anderem einen gesetzlichen Mindestlohn in der Höhe von 8,50 Euro“ [!!].“ Oder etwa: „Die IG Metall wendet sich gegen die weitere [!!] Privatisierung von sozialen Leistungen und eine weitere [!!] Verschiebung der Finanzierungslasten zum Nachteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ (22. Ordentlicher Gewerkschaftstag: Themen und Thesen zu den Entschließungen, herausgegeben vom Vorstand der IGM).

Die DGB-Gewerkschaften setzen heute mehr denn je auf „Standortpolitik“, d. h. alles zu unternehmen, damit die deutsche Wirtschaft konkurrenzfähig bleibt, so konkurrenzfähig, dass die anderen EU-Länder totkonkurriert werden und die EU die Knebel-„Hilfspakete“ schnüren kann. Wie sonst ist zu erklären, dass nur in Deutschland die Gewerkschaften mit ihrer Unterschrift unter die Tarifverträge zur Leiharbeit das Unterlaufen der EU-Richtlinie „Gleicher Lohn für Gleiche Arbeit“ ermöglichen? Die Ausrede mit den „Christlichen“ ist schamlos, zumal diesen im letzten Jahr die Tariffähigkeit abgesprochen wurde.

Selbst bürgerliche Ökonom­Innen „raten“ heute zu mehr Lohnsteigerungen. Sie argumentieren inzwischen sogar damit, dass sonst die Länder Südeuropas noch mehr unter Druck gerieten, und der „verteilungsneutrale Spielraum“ (Inflationsrate von ca. 2,3 % + Produktivitätsfortschritt, der in der letzten Zeit bei 1,8 % lag) ließe ja mehr zu (nämlich „etwa 3 – 4 %“). Ach wie gnädig und ach wie „ratsam“!

Ware Arbeitskraft

Das Dumme daran ist: Diese Logik – alle Beteiligten setzen das gemeinsam um, was „gesamtwirtschaftlich am vernünftigsten ist“ – kann im Kapitalismus nicht funktionieren. Dazu drei Grundsatzanmerkungen.

Erstens: Das Kapital hätte es gerne, wenn auch im Inland die Kaufkraft steigt. Aber die dafür erforderlichen Lohnerhöhungen sollen bitte die anderen Kapitalist­Innen zahlen. Man selbst will ja die Konkurrenzbedingungen nicht für sich selbst verschlechtern. Zahlungen aus den sozialen Sicherungssystemen sollen grundsätzlich eher gesenkt als erhöht werden, denn das erhöht den Druck, für wenig Geld arbeiten zu gehen, und senkt die Kosten für den indirekten Lohn („Lohnnebenkosten“).

Zweitens: Das Einzelkapital wird sich hüten, auch bei sehr guter Geschäftslage, ohne Kampf den eigenen Beschäftigten dauerhafte Erhöhungen zu gewähren. Im besten Fall gibt es eine Einmalzahlung. Das geschah dieses Jahr in einigen Konzernen, um die Gemüter zu beruhigen und um keine Nachschlagdiskussion und erst recht eine Nachschlagbewegung zu riskieren. Eine Bewegung könnte – nach gewonnener Erfahrung der eigenen, kollektiven Stärke – zu steigendem Selbstbewusstsein führen.

Drittens: Lohnerhöhungen werden – wenn sie nennenswert sein sollen – nur über Kampf erreicht, nicht über Ratschläge und Appelle an die gesamtwirtschaftliche Vernunft.

Governance-Reform-Paket

Das aktuell so besonders Gefährliche ist die Knebelpolitik, die von den wirtschaftlich starken Ländern den niederkonkurrierten Ländern über die EU aufgezwungen wird. Merkel will den anderen Ländern beispielsweise eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf das deutsche Niveau aufzwingen. Passend dazu hat der Sachverständigenrat gerade erklärt, dass das Renteneintrittsalter angehoben werden muss, auf 69 Jahre! Wenn über diesen Weg der ständigen Anhebung niemand mehr das Rentenalter erreicht, kann das Kapital sich diesen Teil des indirekten Lohns natürlich sparen!

Am verheerendsten ist die Haltung der Gewerkschaftsführungen. Sie stellen sich noch nicht einmal die Frage, welche Erweiterungen das Governance-Reform-Paket mit sich bringt, von dem Eingeständnis einer falschen Tarifpolitik ganz zu schweigen. Der Anstoß für mehr Gegenwehr gegen das Governance-Reform-Paket wird in der nächsten Zeit nicht von den deutschen Gewerkschaften zu erwarten sein. Einen kleinen Beitrag könnte die soziale Bewegung auf europäischer Ebene bilden, die sich am 1. Oktober in London zu einer Konferenz trifft. Der größte Anstoß allerdings könnte von einem Aufschwung der Gegenwehr in den von den Knebel-Hilfspaketen betroffenen Ländern kommen.