Nach
der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vom
22. Mai hat Bundeskanzler Schröder vorgezogene
Neuwahlen angekündigt, die aller Voraussicht
nach am 18. September 2005 stattfinden. Der
Wahlgang in der „grössten Industrieregion
Europas“, einer traditionellen Hochburg
der Sozialdemokratie, hat der Partei des Kanzlers
eine herbe Niederlage gebracht: Nach 39 Jahren
„an der Macht“ muss die SPD die
Landesregierung an eine konservativ-liberale
Koalition abgeben. Damit ist die letzte verbleibende
rot-grüne Landesregierung abgewählt
worden.
Nun
sucht der Kanzler die Flucht nach vorn. Auch
im Vorfeld der letzten Bundestagswahl im Herbst
2002 hatten alle Umfrageinstitute die SPD schon
lange abgeschrieben. Doch gelang es Gerhard
Schröder, durch die Instrumentalisierung
einer Hochwasserkatastrophe in Ostdeutschland
und seine opportunistische Kritik an den US-Kriegsplänen
im Irak, das Steuer in letzter Minute herumzureissen:
SPD und CDU/CSU erzielten denselben Stimmenanteil,
und weil die Grünen besser abschnitten
als die FDP, konnte Schröder die nach 16
Jahren konservativer Regierung von H. Kohl im
Herbst 1998 an die Macht gekommene rot-grüne
Koalition weiterführen.
Das
zweite Mandat von Rot-Grün war geprägt
durch die Agenda 2010, den umfassendsten Angriff
auf die sozialen und ökonomischen Rechte
der Lohnabhängigen seit dem Zweiten Weltkrieg.
Besonders das Gesetz Hartz IV, das den Anspruch
auf Arbeitslosengeld drastisch senkt und die
Arbeitslosen viel stärker als bisher zwingt,
jeden verfügbaren Job anzunehmen (1-Euro-Jobs)
oder „selbständig“ zu werden
(Ich-AG), ist auf breite Ablehnung gestossen.
Am 3. April 2004 gingen 500'000 Menschen auf
die Strasse, um gegen die Politik der Regierung
zu protestieren. Im Herbst 2004 beteiligten
sich Zehntausende Woche für Woche an den
so genannten Montagsdemos. Die SPD befindet
sich in einer tiefen Krise und verliert nicht
nur Wähleranteile, sondern auch Mitglieder
in beträchtlichem Ausmass. In 9 von 11
Wahlgängen auf Landesebene, die nach der
Bundestagswahl 2002 stattgefunden haben, musste
die Partei eine Niederlage einstecken (siehe
Tabelle).
Kurzum:
Die Politik der rot-grünen Regierung ist
unpopulär, und eine Wiederwahl von Schröder,
Fischer & Co. ist unwahrscheinlich. Die
SPD-Chefs, allen voran der Parteivorsitzende
Franz Müntefering, malen zwar das Schreckgespenst
eines Sozialkahlschlags im Falle eines Regierungswechsels
an die Wand, reden plötzlich einer stärkeren
Besteuerung der Reichen und höheren Löhnen
das Wort und versuchen sogar, die Kapitalismuskritik
des guten alten Marx für ihre Zwecke zu
instrumentalisieren. Doch dieser Propaganda
fehlt jegliche Glaubwürdigkeit, weil die
rot-grüne Regierung selbst sieben Jahre
lang ihre Politik im Dienste der „Wettbewerbsfähigkeit“
der deutschen Wirtschaft gegen alle sozialen
Proteste kompromisslos durchgesetzt hat. Aus
der Sicht der Bourgeoisie besteht das Verdienst
von Gerhard Schröder sicherlich darin,
die Transformation der Sozialdemokratie nach
dem Vorbild des britischen New Labour entscheidend
vorangebracht zu haben. Durch die Integration
der Gewerkschaftsführungen in die Umsetzung
der neokonservativen Agenda von Sozialabbau,
Privatisierung und Unterdrückung wurde
es möglich, deutlich weiter zu gehen, als
dies vorher CDU-Kanzler Kohl tun konnte. Doch
nun bricht Schröder wohl die Basis weg,
und die Unternehmenschefs werden mehrheitlich
auf die konservative Karte von Angela Merkel
setzen, von der sie sich eine verschärfte
Fortführung der bisherigen Politik erhoffen.
Im
Gegensatz zum letzten Regierungswechsel von
1998, als Rot-Grün an die Macht kam, gibt
es in der Bevölkerung weniger Illusionen
bezüglich einer Veränderung der Regierungspolitik
zum Besseren. Laut dem Allensbacher Institut
für Demoskopie erwarten drei Viertel der
Deutschen, dass es im Herbst zu einem Regierungswechsel
kommt, aber nur 34% betrachten dies als Signal
der Hoffnung für das Land (Neue Zürcher
Zeitung, 17. Juni 2005). Vor dem Hintergrund
dieser scheinbaren politischen Alternativlosigkeit,
und angesichts einer durch die Politik der Regierungen,
die brutalen Restrukturierungen der Konzerne
und die auf über 5 Millionen gestiegene
Zahl der Arbeitslosen weiter verschärften
sozialen Krise stellt sich die Frage ob es möglich
ist, den in der Bevölkerung verbreiteten
Unmut und den Wunsch nach einer anderen Politik
auf die politische Bühne zu tragen.
Als
Reaktion auf die brutale Politik der Regierung
Schröder ist eine neue Partei links von
der SPD entstanden, die Wahlalternative Arbeit
& soziale Gerechtigkeit (WASG) (siehe
Kasten ).
Sie hat in Nordrhein-Westfalen erstmals an Wahlen
teilgenommen und einen Anteil von 2.2% (181'000
Stimmen) erreicht. Gleich nach diesem Wahlgang
hat Oskar Lafontaine, der sozialdemokratische
Rivale von Gerhard Schröder, seinen Austritt
aus der SPD bekannt gegeben und erklärt,
er stehe als Kandidat der WASG zur Verfügung,
sofern eine gemeinsame Liste mit der PDS zustande
komme.
Nach
den Parteitagen der WASG (3. Juli) und der PDS
(17. Juli) und nach der Urabstimmung in der
WASG ist es zu einer gemeinsamen Liste, bei
der es sich juristisch gesehen um eine offene
Liste der PDS handelt, gekommen. Listenverbindungen
sind in der Bundesrepublik nämlich verboten.
Die PDS hat sich in "Die Linkspartei-PDS"
umbenannt. Die Liste kann in den einzelnen Bundesländern
unterschiedliche Bezeichnungen tragen, um den
jeweiligen politischen Sensibilitäten Rechnung
zu tragen. Die Anführer der Kampagne werden
Oskar Lafontaine (siehe
Kasten )und
Gregor Gysi (siehe Kasten ),
zwei bekannte
Gesichter mit grosser Medienwirkung. Mittelfristig
werden Verhandlungen über eine Fusion der
beiden Parteien in die Wege geleitet.
Diese
Entwicklung stellt für die deutsche Linke
eine grosse Herausforderung dar. Es wäre
ein bedeutender Schritt, wenn links von der
SPD eine Opposition entstehen würde, die
in der ganzen Bundesrepublik verankert und im
Bundestag mit einer Fraktion vertreten ist.
Meinungsforschungsinstitute sagen dem Linksbündnis
ein Stimmenpotenzial von ca. 10% voraus, während
sowohl die WASG als auch die PDS im Alleingang
an der 5%-Hürde für den Einzug in
den Bundestag scheitern könnten. Bedeutungsvoll
wäre es auch, wenn eine Linkspartei das
traditionelle „politische Monopol“
der SPD auf dem Gebiet der sozialen Frage angreifen
könnte. Es stellte sich dann die Frage,
wie die Gewerkschaftsführungen, die trotz
zwischenzeitlicher Kritik im entscheidenden
Moment der SPD immer die Stange gehalten haben,
auf diese neue Konstellation reagieren würden.
Allerdings
gibt es auch Bedenken, die vor allem innerhalb
der WASG vorgetragen werden und wohl nicht auf
die leichte Schulter genommen werden sollten.
Da ist einmal die Tatsache, dass es sich um
zwei sehr ungleiche Partner handelt. Die PDS
ist aus der DDR-Staatspartei (SED) entstanden
und zählt ca. 60'000 Mitglieder, wovon
über zwei Drittel Rentner sind. In den
alten Bundesländern ist es ihr 15 Jahre
nach der Wende immer noch nicht gelungen, wirklich
Fuss zu fassen. Es lässt sich kaum behaupten,
die PDS habe sich in den letzten Jahren nach
links entwickelt. Der Versuch eine PDS-Linke
aufzubauen, die etwas anderes vertritt als eine
nostalgische Verklärung vergangener Zeiten,
ist klar gescheitert. In Berlin und Mecklenburg-Vorpommern
beteiligt sich die Partei an Regierungen mit
der SPD und trägt deren Politik von Sozialabbau
und Privatisierung voll mit. Die PDS-Führung
hat die aus den Reihen der WASG formulierte
Forderung nach einem Austritt aus diesen Landesregierungen
kategorisch zurückgewiesen. Doch sie will
das Bündnis mit der WASG, weil es vielleicht
die letzte Chance ist, das Image der Ost-Partei
endlich abzustreifen.
Eine
Gefahr liegt auch in den Eigendynamiken der
institutionellen Politik, die jedem emanzipatorischen
politischen Projekt zum Verhängnis werden
kann. Die Führungen beider Parteien verfolgen
offensichtlich in erster Linie wahltaktische
Perspektiven, auch wenn viele Basismitglieder
in sozialen Bewegungen aktiv sind. Die Art und
Weise, in der im Eiltempo und hinter verschlossenen
Türen über das Wahlbündnis verhandelt
wird, hat vor allem in der WASG einige Kritik
hervorgerufen. Zudem sind Oskar Lafontaine und
Gregor Gysi keine unbekannten Grössen.
Es handelt sich um ausgebuffte Politprofis,
die in der Vergangenheit bewiesen haben, dass
sie zu
opportunistischem Verhalten bereit sind und
sich mehr um die Medien kümmern als um
die Anliegen der Basis oder um demokratische
Regeln in ihrer Partei. Und trotz der zur Schau
gestellten Feindschaft zu Gerhard Schröder
hat Oskar Lafontaine in Wirklichkeit bei der
„Modernisierung“ der SPD eine zentrale
Rolle gespielt. Dasselbe lässt sich von
Gregor Gysi beim Umbau der SED/PDS von der „real-sozialistischen“
zur sozialliberal-kapitalistischen Regierungspartei
sagen.
Im
Schatten der Wahlkampfhektik finden derweil
Entwicklungen statt, die weniger öffentliche
Aufmerksamkeit finden als sie verdienen. Am
21. Juni 2005 hat die Gewerkschaft IG Bau einem
Tarifvertrag für das Bauhauptgewerbe zugestimmt,
der eine Erhöhung der Arbeitszeit von 39
auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich vorsieht,
was einer flächendeckenden Lohnkürzung
von 2,5% entspricht (Junge Welt, 22. Juni 2005).
Das den Unternehmern nahe stehende deutsche
Handelsblatt hat daraufhin festgehalten: „Die
Tarifabschlüsse (…) geben ein erstaunlich
treffendes Bild vom Zustand der Republik: Die
Sachzwänge hindern Gewerkschafter und Sozialdemokraten
an der Flucht in verteilungspolitische Wunschwelten,
egal, was sie in kämpferischer Rhetorik
verkünden. Zugleich macht sich die Erwartung
breit, dass der eigentliche Umbruch noch bevorsteht
- ob beim Flächentarif, im Arbeitsrecht
oder der Sozialversicherung. (…) Was nutzt
ein Tarifvertrag, der auf breiter Front für
Lohneinbussen sorgt? Er untergräbt den
Rückhalt der Gewerkschaft bei den Beschäftigten“
(Handelsblatt online, 23. Juni 2005).
Wichtige
politische Entwicklungen finden eben auch ausserhalb
von Parlamenten und Regierungen statt oder werden
diesen Instanzen durch das Kapital mehr oder
weniger aufgezwungen. Auch dies ist zu berücksichtigen,
wenn es darum geht, wie sich die Linke im Bundestagswahlkampf
verhalten soll.
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WASG
Die Wahlalternative Arbeit & soziale
Gerechtigkeit (WASG) entstand letztes
Jahr aus Protest gegen die so genannte
Arbeitsmarktreform der Regierung (Hartz-Gesetze).
Sie hat am 6.-8. Mai 2005 in Dortmund
ihren ersten Parteitag abgehalten. Die
WASG zählt aktuell etwa 6'500 Mitglieder.
Am stärksten ist sie in Nordrhein-Westfalen,
Bayern und Baden-Württemberg verankert.
Ihr Programm plädiert für
eine durch die SPD verratene sozialdemokratische
und keynesianische Politik. Neben enttäuschten
SozialdemokratInnen beteiligen sich
zahlreiche AktivistInnen von sozialistischen
Gruppierungen oder von ATTAC an der
WASG. Im Bundesvorstand haben Gewerkschaftsfunktionäre
(vor allem aus der IG Metall) viel Einfluss.
Die WASG hat sich 2004 anlässlich
der Montagsdemos und der Arbeitskämpfe
bei Opel, Mercedes, usw. nicht gerade
stark exponiert.
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Oskar
Lafontaine
Der 1943 geborene Physiker war 1985-1998
Ministerpräsident des Saarlandes
und 1979-1999 Mitglied des SPD-Bundesvorstands.
1988 wurde er mit der Leitung der Arbeitsgruppe
betraut, die das Programm für die
Bundestagswahl von 1990 ausarbeitete.
Damals sprach er sich zum Beispiel für
eine Arbeitszeitverkürzung ohne
Lohnausgleich aus. Nach dem Wahlsieg
von 1998 ernannte Gerhard Schröder
ihn zum Finanzminister. Durch den abrupten
Rücktritt im März 1999 und
sein Buch „Das Herz schlägt
links“ wurde Lafontaine zur Galionsfigur
der „traditionellen“ SozialdemokratInnen,
welche die Verwandlung der SPD in eine
sozialliberale Partei kritisieren. Am
18. Juni 2005 hat die WASG in Nordrhein-Westfalen
Lafontaine zum Spitzenkandidaten für
die Bundestagswahl gewählt. Kurz
zuvor hatte er für Schlagzeilen
gesorgt, als er bei einer Rede in Chemnitz
sagte, der Staat müsse verhindern,
dass Fremdarbeiter den Deutschen ihre
Arbeitsplätze wegnehmen.
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Gregor
Gysi
Der 1948 geborene Jurist und Sohn
eines DDR-Kulturministers war in den
Jahren der „Wende“ (1989-1993)
Vorsitzender der Staatspartei SED
bzw. von deren Nachfolgepartei PDS.
Dann leitete Gysi die PDS-Gruppe/Fraktion
im Bundestag, bis er im Jahr 2000
alle Parteiämter niederlegte.
2001 wurde er Wirtschaftsminister
der rot-roten Berliner Landesregierung
(SPD/PDS), musste aber nach wenigen
Monaten wegen der so genannten Flugmeilen-Affäre
zurücktreten. In der DDR war
Gysi ein bekannter Rechtsanwalt, der
unter anderen „Systemkritiker“
wie R. Bahro verteidigte. 1988 wurde
er zum Vorsitzenden des Berliner Kollegiums
der Rechtsanwälte gewählt.
Im Mai 1998 stellte der Immunitätsauschuss
des deutschen Bundestags fest, Gysi
habe Jahre lang im Auftrag des Ministeriums
für Staatssicherheit - im Volksmund
„Stasi“ genannt - gearbeitet.
PDS und FDP stimmten dem Urteil nicht
zu.
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Ergebnisse
der Landtagswahlen seit der letzten
Bundestagswahl (2002) in Prozent |
Bundesland |
Wahldatum |
SPD |
CDU/CSU
|
Grüne |
FDP |
PDS |
Übrige |
Niedersachsen |
02.02.2003 |
33.4 |
48.3 |
7.6 |
8.1 |
0.5 |
2.1 |
Hessen |
02.02.2003 |
29.1 |
48.8 |
10.1 |
7.9 |
- |
4.1 |
Bremen |
25.05.2003 |
42.3 |
29.8 |
12.8 |
4.2 |
1.7 |
9.2 |
Bayern |
21.09.2003 |
19.6 |
60.7 |
7.7 |
2.6 |
- |
9.4 |
Hamburg |
29.02.2004 |
30.5 |
47.2 |
12.3 |
2.8 |
- |
7.2 |
Thüringen |
13.06.2004 |
14.5 |
43.0 |
4.5 |
3.6 |
26.1 |
8.3 |
Saarland |
05.09.2004 |
30.8 |
47.5 |
5.6 |
5.2 |
2.3 |
8.6 |
Brandenburg |
19.09.2004 |
31.9 |
19.4 |
3.6 |
3.3 |
28.0 |
13.9 |
Sachsen |
19.09.2004 |
9.8 |
41.1 |
5.1 |
5.9 |
23.6 |
14.5 |
Schleswig-Holstein |
22.02.2005 |
38.7 |
40.2 |
6.2 |
6.6 |
0.8 |
7.5 |
Nordrhein-Westfalen |
22.05.2005 |
37.1 |
44.8 |
6.2 |
6.2 |
0.9 |
4.8 |
Bundestagswahl |
22.09.2002 |
38.5 |
38.5 |
8.6 |
7.4 |
4.0 |
3.0 |
|
|