Mit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV),
für die jetzt der Herr Sanitätsoffizier
Doktor Rösler zuständig ist, befasst
sich jetzt eine Regierungskommission, die Schritte
zur «weitgehenden Entkoppelung der Gesundheitskosten
von den Lohnzusatzkosten» festlegt. Das
bedeutet, dass Kostensteigerungen in der GKV
ganz überwiegend von den Versicherten bezahlt
werden sollen. Dazu ist vereinbart, dass der
Arbeitgeberbeitrag eingefroren wird, also ungeachtet
der Ausgabenentwicklung fest bleibt.
Das ist dann das vollständige
Ende der paritätischen Finanzierung, in
der der Verfassungsgrundsatz von der Sozialpflichtigkeit
des Eigentums bislang seine vielleicht wichtigste
Konkretisierung erfahren hat. Hier soll ein
Ausstieg auf Raten vollendet werden, der unter
Rot-Grün eingeleitet und von der Großen
Koalition mit den Zusatzbeiträgen im System
des Gesundheitsfonds fortentwickelt wurde.
Schon nach bisheriger Rechtslage
ist es so, dass eine Krankenkasse, die ihre
Finanzierung mit dem von der Bundesregierung
festgelegten Beitragssatz für den Fonds
nicht sicherstellen kann, ihre Versicherten
einseitig mit einem Zusatzbeitrag belasten muss.
Dass viele Kassen das bald nicht mehr können,
ist durch die Regelung vorprogrammiert, dass
die Regelbeiträge ab diesem Jahr nur noch
95% der Kassenausgaben decken müssen.
Der Zwang zur Erhebung von
Zusatzbeiträgen wird wachsen, wenn - wie
im Koalitionsvertrag festgelegt - «der
Morbi-RSA auf das notwendige Maß reduziert»
wird. Das betrifft den morbiditätsbezogenen,
also den krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleich
zwischen den einzelnen Krankenkassen. Den hat
man zusammen mit dem Gesundheitsfonds geschaffen,
um bei den Zuweisungen aus dem Fonds an die
Kassen auch deren Leistungsausgaben für
ausgewählte, besonders kostenintensive
Krankheitsbilder berücksichtigen zu können
und damit den Kassenwettbewerb um Gesunde zum
Nachteil der schwer und chronisch Kranken zu
begrenzen. Den Morbi-RSA reduzieren bedeutet,
die Defizitrisiken für Kassen mit hohen
Leistungsausgaben zu erhöhen und die Erhebung
von Zusatzbeiträgen oder deren Erhöhung
zu beschleunigen.
Beitrag
unabhängig vom Einkommen
Grundsätzlich könnte
die Aufhebung der bisherigen Begrenzungen der
Zusatzbeiträge - vor allem der Acht-Euro-Grenze
für einkommens-unabhängige Pauschalen
- ein Weg sein, um die Arbeitgeberbeiträge
einzufrieren und Mehrkosten einseitig auf die
Versicherten abzuladen. Denn der zweite Teils
des Auftrags für die Regierungskommission
zur GKV-Reform lautet: Sie soll zugleich die
Umstellung der Finanzierung auf «einkommensunabhängige
Arbeitnehmerbeiträge» vorbereiten
- die Kopfpauschale soll also kommen.
Dann würden alle gesetzlich
Versicherten - ob Niedriglöhner oder freiwillig
versicherte Spitzenverdiener - den gleichen
Eurobetrag als Beitrag zahlen. Damit würden
geringere Einkommen höher belastet und
höhere Einkommen entlastet. Ausdrücklich
will die Koalition den sozialen Ausgleich zwischen
ärmeren und wohlhabenderen Versicherten,
der durch die Beitragsbemessungsgrenze ohnehin
eingeschränkt ist, vollständig aus
der GKV entfernen - das ist ausdrücklich
so gewollt. Stattdessen soll es für die
Ärmeren - wer das ist, wird Schwarz-Gelb
definieren - einen Ausgleich aus Steuermitteln
geben. Dann kommt der Sozialhilfestaat und fragt:
Biste bedürftig oder nicht?
Wie der Ausgleich aussehen soll, weiß
natürlich noch niemand. Aber eines ist
klar: Etwa 70% des Steueraufkommens kommen aus
Lohn- und Konsumsteuern. Also wird auch der
sog. soziale Ausgleich für die Kopfpauschale
von der Masse der Bevölkerung aufgebracht
- einschließlich aller Hartz-IV-Bezieher,
die bei jedem Einkauf Mehrwertsteuer bezahlen.
Wieviel
Leistung kann ich mir leisten?
Auch die Leistungsseite der
GKV soll unter Feuer genommen werden. O-Ton:
«Versicherte sollen auf der Basis des
bestehenden Leistungskatalogs soweit wie möglich
ihren Krankenversicherungsschutz selbst gestalten
können.» Dazu sollen einerseits Wahlmöglichkeiten
und Entscheidungsspielräume der Versicherten
erweitert werden - also mehr Wahltarife -, anderseits
sollen die Möglichkeiten der Zusammenarbeit
von PKV (private Krankenversicherung) und GKV
beim Angebot von Wahl- und Zusatzleitungen ausgebaut
werden.
Was das konkret bedeuten wird,
wissen wir noch nicht. Aber wir müssen
damit rechnen, dass hier das Ende des einheitlichen
Leistungskatalogs in der GKV eingeläutet
wird. Dass man also bestimmte Leistungen im
Krankheitsfall abwählen kann, um einen
billigeren Tarif zu bekommen, und man solche
Leistungen dann über einen Zusatzvertrag
bei der PKV absichern soll. Das wäre das
Ende der einheitlichen Absicherung aller medizinisch
notwendigen Leistungen in der GKV - mit womöglich
verheerenden Folgen im Einzelfall. Klar ist
jedenfalls: Jedes Mal, wenn ein jüngerer
gesunder Menschen einen Billigtarif wählt,
werden dem Solidarsystem Beitragsmittel entzogen,
die zur Versorgung von schwer und chronisch
kranken Menschen dringend benötigt werden.
Wahltarife in der GKV bedeuten den Ausstieg
aus dem grundlegenden Solidarprinzip: dass nämlich
die Gesunden für die Kranken einstehen.
Dann deutet sich im Koalitionsvertrag
noch die Absicht an, auch das Sachleistungsprinzip
der GKV weiter auszuhöhlen. Sachleistungsprinzip
bedeutet: Wenn ich krank bin, trägt die
Krankenkasse meine notwendigen Behandlungskosten,
egal wie hoch die sind. Nun will die Koalition
prüfen, wo über die bislang schon
betroffenen Leistungs-bereiche hinaus (Zahnersatz,
Arzneimittel, Reha) Festzuschüsse zum Tragen
kommen könnten. Festzuschüsse bedeuten,
dass behandlungsbedürftige Menschen den
Teil der Kosten, der über den Zuschuss
hinausgeht, selber tragen müssen, wenn
sie das nicht über eine private Zusatzversicherung
auffangen.
Zusammenfassend kann man also
sagen: Die Versicherten sollen durch Wahltarife
und Festzuschüsse dazu gedrängt werden,
private Zusatzversicherungen abzuschließen
oder bei Krankheit erheblich höhere Zuzahlungen
zu erbringen, an denen sich der Arbeitgeber
nicht mehr beteiligt. Immer mehr Menschen könnten
sich dann einen umfassenden Krankenversicherungsschutz
nicht mehr leisten. Wir bekämen eine Privatisierung
von Gesundheitsrisiken in bislang nicht gekannter
Dimension, und die Entsolidarisierung mit Geringverdienenden,
chronisch kranken und behinderten Menschen würde
massiv vorangetrieben.
Der von den Koalitionsparteien
geplante steuerliche «Ausgleich»
kann das nicht verhindern; er würde immer
mehr Menschen zu Bedürftigen stempeln,
deren medizinisch notwendiger Schutz von der
schwankenden staatlichen Haushaltslage abhängt.
Pflichtversicherung
oder Versicherungspflicht?
Schließlich gibt’s
noch die Aussage: «Wir wollen, dass das
allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen
grundsätzlich auch im Bereich der gesetzlichen
Krankenversicherung Anwendung finde …
Dazu gehört auch die Überprüfung
des Rechtswegs.»
Schon bei der vergangenen Gesundheitsreform
hatten manche Sachverständige befürchtet,
dass eine Überführung der GKV vom
öffentlichen Recht in das Privatrecht vorbereitet
werden könnte. Die GKV-Träger wurden
in den vergangenen Jahren immer stärker
am Vorbild des Wirtschaftsunternehmens ausgerichtet.
Dann hat die Große Koalition mit ihrem
GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz die ganze
Palette der entsolidarisierenden Wettbewerbsinstrumente
in die GKV eingeführt, die zuvor charakteristisch
für die PKV waren. Das Risiko wächst,
dass der Europäische Gerichtshof als Hüter
des marktliberalen europäischen Wettbewerbsrechts
die Krankenkassen als Wirtschaftsunternehmen
einstuft und ihnen das Privileg der öffentlichen
Sozialversicherung entzieht.
Wenn künftig «das
allgemeine Wettbewerbsrecht als Ordnungsrahmen
grundsätzlich auch im Bereich der GKV Anwendung
finden» soll, dann könnte sich darin
die Absicht andeuten, die Überführung
ins Privatrecht nicht dem EuGH zu überlassen,
sondern sie selber vorzunehmen. Das wäre
der Systemwechsel von der Pflichtversicherung
zur Versicherungspflicht. In den Niederlanden
etwa gibt’s keine öffentlich-rechtlichen
Krankenkassen mehr, sondern man ist verpflichtet,
mit einem privaten Krankenversicherer einen
Vertrag abzuschließen - gleichsam PKV
für alle.
Und wenn es heißt, dass
auch der Rechtsweg überprüft wird,
dann bedeutet das, dass nicht mehr die Sozialgerichte
für Fragen der Krankenversicherung zuständig
sein sollen, sondern die Zivilgerichte. Würden
die Kassen privatrechtliche Unternehmen, könnte
man das sogar für folgerichtig halten.
Ob dann aber die Sozialverbände ihre Mitglieder
noch in Krankenversicherungsfragen vor Gericht
vertreten dürfen, wäre fraglich.
Ein solcher Systemwechsel in
der Krankenversicherung, wie er sich hier abzeichnet,
würde durchaus passen zur erkennbaren Zuneigung
der Koalition zur PKV. Denn die PKV zählt
neben den niedergelassenen Ärzten und der
Pharma- und Medizintechnikindustrie zu den Interessengruppen,
die im Koalitionsvertrag begünstigt werden.
Zu alledem passt wunderbar, dass der Doktor
Rösler sich einen profilierten Vertreter
der Privatversicherung als zuständigen
Mann für die GKV-Reform ins Ministerium
geholt hat.
Die Ärztehonoraren, die
erst bei der letzten Reform um durchschnittlich
10% angehoben wurden, sollen «an den aktuellen
Stand der Wissenschaft angepasst» werden.
Was immer die Wissenschaft hier dazu beitragen
soll – es gibt jedenfalls keinerlei Bedarf
für Anpassungen, die nach Lage der Dinge
nur zu weiteren Mehrbelastungen der Versicherten
führen können. |