Seit
2005 bekommen Arbeitslose nur noch ein Jahr
lang Arbeitslosengeld I (ALG I), das sich an
der Höhe des letzten Lohnes bemisst. Danach
erhalten sie Arbeitslosengeld II (ALG II). Dessen
Höhe ist - ähnlich wie bislang die
Sozialhilfe - unabhängig vom bisherigen
Einkommen und beträgt derzeit 359 Euro
monatlich. Selbst wer jahrzehntelang gearbeitet
und in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt
hat, ist nach einem Jahr Arbeitslosigkeit zum
Leben in Armut verdammt.
Hinzu
kommt, dass Vermögensbestandteile bis auf
einen geringen Freibetrag angerechnet und einbezogen
werden. Wer also etwas fürs Alter beiseitegelegt
hat, muss es aufbrauchen, bevor er ALG-II-Leistungen
bekommt. Außerdem sind ALG II-Bezieher
verpflichtet, sich "aktiv um ihre Integration
in den Arbeitsmarkt" zu bemühen. Die
so genannten "Zumutbarkeitsregeln"
wurden abgeschafft, so dass sie extrem niedrig
bezahlte Jobs, die ihrer Qualifikation nicht
entsprechen, und weit entfernte Arbeitsplätze
in Kauf nehmen müssen. Weigern sie sich,
droht ihnen die Kürzung oder der Entzug
der Leistung.
Die
Verantwortlichen hatten die Hartz-IV-Reform
damit begründet, dass sie die Zahl der
Arbeitslosen drastisch reduzieren werde. Das
ist nicht eingetroffen, wie statistische Untersuchungen
beweisen.
Das
Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur
für Arbeit (BA), das die Reform regelmäßig
untersucht, zieht zwar nach fünf Jahren
eine "verhalten positive Hartz-IV-Bilanz".
In der "Tendenz" würden die angestrebten
Ziele der Arbeitsmarktreform erreicht. Doch
auch IAB-Direktor Joachim Möller muss große
Probleme etwa bei der Betreuung von Langzeitarbeitslosen
einräumen. Nur verhältnismäßig
wenige kehrten nach jahrelangem ALG-II-Bezug
in ein normales Berufsleben zurück.
"Der
Ausstieg aus Hartz IV gelingt immer noch relativ
selten", schreiben die Autoren der Studie.
Zudem gelangen sie zum Schluss, dass die von
den Vermittlern ausgewählten Förderinstrumente
häufig zur Lösung der Probleme von
Erwerbslosen ungeeignet seien.
Vertreter
von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden
haben die Hartz-IV-Reform deshalb für "gescheitert"
erkklärt. In einem Interview mit der Thüringer
Allgemeinen Zeitung sagte Wohlfahrts-Verbandschef
Ulrich Schneider: "Fünf Jahre nach
der Hartz-IV-Reform ist es nicht gelungen, die
Zahl der Betroffenen merklich abzubauen."
So sei die Anzahl der erwerbsfähigen ALG-II-Bezieher
seit der Einführung im Jahre 2005 konstant
geblieben. "Es ist auch nicht gelungen,
Langzeitarbeitslose häufiger in Arbeit
zu vermitteln."
Nach
Auswertungen des Wohlfahrts-Verbandes lag die
Anzahl der erwerbsfähigen Hartz IV-Bezieher
und Bezieherinnen im April 2009 bei ca. 4,93
Millionen. Im September 2005 hatte die Anzahl
der erwerbsfähigen Arbeitslosen bei rund
5,15 Millionen Menschen gelegen. Konstante Zahlen
liegen dem Verband auch für Kinder vor,
die auf Hartz-IV-Leistungen (Sozialgeld) angewiesen
sind. Im September 2005 waren 1,78 Millionen
Kinder unter 14 Jahren von Hartz IV abhängig,
im April 2009 und danach waren es rund 1,74
Millionen.
Rund
die Hälfte der ALG-II-Bezieher erhält
Sozialleistungen länger als drei Jahre.
"Wer in Hartz IV ist, der ist in der Perspektivlosigkeit.
Das ist das Fazit, das man ziehen muss",
so Ulrich Schneider.
"Gescheitert"
kann man die Hartz-IV-Reform allerdings nur
nennen, wenn man unterstellt, sie habe sich
tatsächlich gegen die Arbeitslosigkeit
gerichtet. In Wirklichkeit verfolgte sie - wie
auch die übrigen Bestandteile der Agenda
2010 - ein anderes Ziel. Indem sie den Druck
auf die Arbeitslosen erhöhte, diente sie
der rot-grünen Bundesregierung als Hebel,
um das gesamte Tarifgefüge und die bis
dahin relativ hohen deutschen Löhne aufzubrechen
und einen riesigen Niedriglohnsektor zu schaffen.
In dieser Hinsicht war Hartz IV höchst
erfolgreich.
Weil
Langzeitarbeitslose als Folge von Hartz IV gezwungen
sind, jeden Arbeitsplatz anzunehmen, sind die
Löhne immer weiter gesunken. Inzwischen
befinden sich die Reallöhne wieder auf
dem Stand, den sie vor 25 Jahren, Mitte der
1980er Jahre hatten. Millionen arbeiten in Jobs,
mit denen sie weder sich selbst, geschweige
denn eine Familie ernähren können.
Rund
neun Millionen Menschen arbeiten in Teilzeitjobs,
sieben Millionen in so genannten Minijobs mit
einem maximalen Monatseinkommen von 400 Euro.
Durchschnittlich über 300.000 Menschen
befinden sich, meist gezwungen durch die Behörden,
in Ein-Euro-Jobs. Hier verdienen sie zusätzlich
zum ALG-II-Satz pro Arbeitsstunde einen Euro.
Auch
die Zeitarbeit ist in den letzten Jahren stark
angestiegen. Bis zu einer Million Menschen leisteten
zeitweise diese moderne Form von Sklavenarbeit.
Sie wurden allerdings aufgrund der Folgen der
internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise
als erste entlassen, so dass sich ihre Anzahl
derzeit nur noch auf die Hälfte beläuft.
Inzwischen
sind Niedriglöhne in Deutschland weit verbreitet,
wie eine Anfang Juli veröffentlichte Studie
des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ)
der Universität Duisburg-Essen belegt.
6,5 Millionen Menschen - mehr als jeder fünfte
Beschäftigte - arbeiten in Westdeutschland
für Stundenlöhne unter 9,62 Euro und
in Ostdeutschland unter 7,18 Euro. Das ist die
von der OECD (Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung) festgelegte
und wissenschaftlich anerkannte Niedriglohngrenze.
Jeder
dritte im Niedriglohnbereich Beschäftigte
arbeitet für weniger als sechs Euro, 1,2
Millionen für weniger als fünf Euro
brutto in der Stunde. Auch Vollzeit-Beschäftigte
sind nicht vor niedrigen Stundenlöhnen
geschützt. Fast ein Viertel der Beschäftigten
im Niedriglohnbereich verdient trotz voller
Arbeitszeit weniger als 800 Euro brutto im Monat.
1,3 Millionen Menschen beziehen zusätzlich
Hartz-IV-Gelder, um das Existenzminimum zu erreichen.
Die
Einführung von Hartz-IV und die Ausbreitung
des Niedriglohnbereichs haben auch direkte Auswirkungen
auf Branchen, in denen zuvor verhältnismäßig
hohe Löhne gezahlt wurden. Die Beschäftigten
des Autobauers Opel können davon ein Lied
singen. Ihre Löhne, die noch vor zehn Jahren
rund 30 Prozent über dem allgemeinen Tarif
der Metall- und Elektroindustrie lagen, liegen
inzwischen darunter.
Die
von den Gewerkschaften in vielen Tarifverträgen
vereinbarten Öffnungsklauseln ermöglichen
den Unternehmen außerdem betriebliche
Abweichungen. Millionen Arbeiter erhalten weniger
als im Lohntarif vereinbart. Gleichzeitig sind
immer weniger Unternehmen überhaupt noch
tarifgebunden. Sie müssen sich deshalb
nicht an den minimalen Vereinbarungen orientieren,
die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände
getroffen haben. Das trifft inzwischen schon
auf mehr als jeden dritten Betrieb zu. Besonders
stark ist die Tarifflucht im Osten: Hier ist
nur noch jedes vierte Unternehmen tarifgebunden.
So sanken die Reallöhne auch in diesem
Jahr, trotz Tariferhöhungen, allein im
Frühjahrsquartal 2009 um 1,2 Prozent.
Die
Kritik des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB)
an der Hartz-IV-Reform ist daher heuchlerisch
und zynisch. So verlangte DGB-Vorstandsmitglied
Annelie Buntenbach (Grüne) die Entschärfung
der Zumutbarkeitsregeln und der Sanktionen für
Arbeitslose sowie die Einführung flächendeckender
Mindestlöhne von zunächst 7,50 Euro
pro Stunde. Durch die Hartz-Reformen würden
Lohndumping und Niedrigstlöhnen Tür
und Tor geöffnet, sagte sie. "Arbeitslose
müssen ja praktisch jeden noch so schlecht
bezahlten Job annehmen."
Dies
erinnert an den Ruf "Haltet den Dieb".
Gewerkschaftsvertreter saßen gemeinsam
mit Vertretern der Wirtschaft und der Bundesregierung
in der Kommission, die unter Leitung von Peter
Hartz die nach ihm benannten Reformen ausarbeitete.
Als Vorsitzende des Verwaltungsrats der Bundesagentur
für Arbeit ist Buntenbach zudem für
die Umsetzung der Hartz-Reform verantwortlich.
Die
Zielrichtung der vierten Hartz-Reform war nie
ein Geheimnis gewesen. Schon im Sommer 2004
hatten Zehntausende über mehrere Monate
hinweg dagegen demonstriert. Die Gewerkschaften
hatten sich damals bewusst nicht an diesen Protesten
beteiligt. Und die Grünen saßen in
der Bundesregierung und stärkten Kanzler
Schröder den Rücken, der erklärte,
er werde sich nicht "der Straße"
beugen.
Auch
heute unterstützen alle Bundestags-Parteien
Hartz IV, wobei einige versuchen, mit kosmetischen
Kurskorrekturen von ihrer Verantwortung abzulenken.
So
hat der stellvertretende Vorsitzende des CDU-Arbeitnehmerflügels
CDA, Gerald Weiß, rechtzeitig zu Weihnachten
ein Weihnachtsgeld für Hartz-IV-Empfänger
angeregt. "Mit einem kleinen Weihnachtszuschuss
könnten Hartz-IV-Empfänger Heiligabend
gelassener entgegensehen", sagte er der
Bild -Zeitung. Bis zum nächsten Weihnachtsfest
dürfte dieser Vorschlag wieder vergessen
sein.
SPD-Chef
Sigmar Gabriel forderte kurz vor Weihnachten,
langjährig Versicherten eine höhere
Unterstützung zu zahlen. Das würde
nicht nur die betroffenen Arbeitslosen, sondern
auch die Unternehmen begünstigen. "Die
murren schon lange darüber, dass sie ihre
betagteren Mitarbeiter nicht mehr so leicht
freisetzen können wie früher",
schreibt Spiegel online in einem Kommentar zum
Jahresende. Setze sich Gabriel durch, würde
die "verfehlte Frühverrentungspolitik
der achtziger und neunziger Jahre wiederbelebt".
Die
derzeitige schwarz-gelbe Bundesregierung will
Langzeitarbeitslosen etwas mehr von ihrem Vermögen
belassen. Doch diese Maßnahme betrifft
gerade 11.000 Haushalte oder 0,2 Prozent der
Betroffenen - sowie die Versicherungsgesellschaften.
Diese können nun ihre Altersvorsorgeprodukte
"endlich mit dem Siegel,hartzsicher’
verkaufen". (Spiegel online).
Die
Proteste gegen Hartz IV haben wesentlich zur
Entstehung der Linkspartei beigetragen. Oskar
Lafontaine und andere altgediente SPD- und PDS-Politiker
erachteten es als Warnsignal, dass sich eine
Bewegung außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaften
und der SPD entwickelte. Sie setzten sich an
die Spitze der Proteste, um sie ins Leere laufen
zu lassen. Inzwischen fordert die Linkspartei
nicht einmal mehr die Abschaffung der Hartz-Gesetze,
sondern nur noch eine Anhebung der Regelsätze.
Wie
es weitergehen könnte, zeigt der Vorschlag
des so genannten Wirtschaftsweisen Wolfgang
Franz. Er hat angeregt, das Arbeitslosengeld
II von 359 Euro auf gut 250 Euro im Monat zu
kürzen. Er stützt sich dabei auf ein
Modell zur Weiterentwicklung von Hartz IV, das
der Sachverständigenrat zur Begutachtung
der wirtschaftlichen Entwicklung, dem Franz
vorsteht, der Bundesregierung vorgelegt hat.
Das Kernstück der Reform sei "eine
Absenkung des Regelsatzes um 30 Prozent".
Franz
hatte sich schon vor zwei Jahren in Spiegel
online für Stundenlöhne unter drei
Euro ausgesprochen. Das sei das beste Mittel,
um Jobs zu schaffen. |