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Das Gesundheitssystem der Schweiz

Ein Modell für Deutschland? Schwarz-gelbe Gesundheitspolitik
im Spiegel schweizerischer Erfahrungen

von Sebastian Schief und Maurizio Coppola - SoZ Nr. 03/2010, April 2010


Mit den Bundestagswahlen am 27.September 2009 haben sich die Mehrheiten in Deutschland zugunsten einer konservativ-liberalen Koalition verschoben. Besonders die versprochene Transformation des Gesundheitswesens ist aus einer schweizerischen Perspektive von Interesse.

Generell versprechen die Koalitionspartner, das deutsche Gesundheitswesen innovationsfreundlich, leistungsgerecht und demografiefest zu gestalten, sowie Solidarität, Eigenverantwortung und einer Kultur des Vertrauens den Vorzug vor bürokratischen Vorschriften zu geben.

Drei Maßnahmen sind anvisiert: Stärkung und Betonung des Wettbewerbs, Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten sowie die Einführung des Kapitaldeckungsverfahrens als effizientes Instrument zur Finanzierung von Sozialleistungen. Diese drei Punkte sind auch integraler Bestandteil der Ideologie des schweizerischen Wohlfahrtsstaats im Allgemeinen und seiner Gesundheitsversorgung im Speziellen. Welche Erfahrungen hat die Schweiz damit gemacht?

Das schweizerische Gesundheitssystem
Gegenseitige Hilfsgesellschaften und andere Frühformen von Krankenkassen existierten in der Schweiz schon vor mehreren hundert Jahren, gesetzlich verankert wurden sie aber erst in den 1880er Jahren. 1885 wurde die Grundlage für einen Artikel in der Bundesverfassung geschaffen, der 1890 den Bund zur Einrichtung einer Kranken- und Unfallversicherung verpflichtete. 1899 wurde ein einheitliches Kranken- und Unfallversicherungsgesetz (KUVG, «Lex Forrer») verabschiedet, das eine eidgenössische Unfallversicherung, öffentliche und private Krankenkassen, ein Pflichtversicherung für die meisten Erwerbstätigen, Subventionen des Bundes sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge vorsah.

Dieses Gesetz scheiterte aber am Referendum im Jahre 1900. Eine abgespeckte Version des KUVG trat 1912 in Kraft und war bis 1995 (mit verschiedenen Teilrevisionen) die Grundlage des schweizerischen Gesundheitssystems, die Krankenversicherung war bis zu diesem Zeitpunkt freiwillig.

Erst mit dem Krankenversicherungsgesetz von 1994, das 1996 in Kraft trat, wurde eine obligatorische Krankenversicherung eingerichtet, obwohl zu dieser Zeit schon über 95% der Bevölkerung versichert waren. Zentrale Innovationen dieses Gesetzes waren die obligatorische Grundversicherung, geschlechtsneutrale und für kleine Einkommen subventionierte Beiträge sowie ein erleichterter Kassenwechsel.

Heute sind die jährlichen Pro-Kopf-Ausgaben des schweizerischen Gesundheitssystems im internationalen Vergleich sehr hoch. So gibt die Schweiz über 50 Mrd. Franken (rund 35 Mrd. Euro) für die Gesundheit aus, das sind etwa 11% des BIP. Zudem sind seit der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung die Kosten markant gestiegen (zwischen 1996 und 2003 um 31,6%).

Im schweizerischen Gesundheitssystem konkurrieren 94 Kassen um Versicherte, davon vier mit über 500000 Versicherten. Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) schreibt den Kassen eine einheitliche Grundversicherung vor. Darüber hinaus bieten die Krankenkassen nichtobligatorische Zusatzversicherungen an, die je nach Kasse variieren. Welche Leistungen in die Grund- bzw. Zusatzversicherung fallen, ist eine Frage der politischen Auseinandersetzung.

Regulierter Wettbewerb
Zentrales Element der Neukonzeption des Gesundheitswesens der Schweiz war der so genannte regulierte Wettbewerb.

Die erste Komponente der privatwettbewerblichen Strategie war die Möglichkeit der freien Kassenwahl. Durch die Möglichkeit der Versicherten, die Krankenversicherung und die Franchisen (die individuelle Kostenbeteiligung) jedes Jahr zu wechseln, sollte ein Anreiz geschaffen werden, günstige und qualitativ hochwertige Versorgung anzubieten. Tatsächlich aber hilft dieses System jenen Geld zu sparen, die jung, gesund, gut ausgebildet und wohlhabend sind.

Der zweite Aspekt der Wettbewerbsstrategie war eine größere Gestaltungsfreiheit bei der Vertragsausgestaltung mit den Ärzten, Apotheken, Krankenhäusern und anderen Leistungsanbietern. Dieser Aspekt wettbewerblichen Handelns sollte günstige und qualitativ hochwertige Leistungen auf Seiten der Leistungsanbieter ermöglichen.
Tatsächlich aber wurde der Markt durch festgelegte Kontingente bestimmter Gruppen von Ärzten noch stärker reguliert als zuvor.

Das scheinbar privatwettbewerblich organisierte Gesundheitssystem der Schweiz im Bereich der Grundversicherung kennt nur ein einziges Produkt. Es kann also nur über den Preis Wettbewerb betrieben werden, dieser Wettbewerb wird über die Prämien noch dazu unterminiert, weil die Versicherten nur selten die Kasse wechseln. Zudem sind die Tarife und Preise der Leistungserbringer hoch reguliert, der Markt ist seit 2002 systematisch durch Kontingente abgeschottet, und zusätzlich wurde ein System der «Eigenverantwortung» eingerichtet, das jungen, gut ausgebildeten, gut verdienenden Gesunden erlaubt, sich der gemeinsamen Finanzierung der Krankenversicherungen teilweise zu entziehen.

Die Versicherten zahlen
Ein wesentliches Merkmal der Finanzierung des Gesundheitssystems der Schweiz ist, dass einerseits die privaten Haushalte einen wesentlichen Teil der Kosten selbst aufbringen (Anstieg von 77% zwischen 1996 und 2007), andererseits die öffentliche Hand sich aufgrund des Spardrucks in Zeiten vermeintlicher finanzieller Krisen aus der Finanzierung zurückzieht (von 39,5% Anteil staatlicher Finanzierung im Jahre 1971 auf 25,3% im Jahre 2000).

Die schweizerischen Krankenversicherungen werden überwiegend durch die Prämien der Versicherten finanziert, was einen Drittel der gesamten Gesundheitskosten ausmacht. Ein weiteres Drittel wird durch Franchisen (Kostenbeteiligungen), Selbstbehalte und unversicherte Leistungen, ebenfalls von den Versicherten, aufgebracht. Bei den Prämien handelt es sich um Kopfprämien, die innerhalb einer Kasse und eines Kantons und unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten und dem individuellen Krankheitsrisiko der Versicherten für alle gleich hoch sind. Anders als bei anderen Sozialversicherungen beteiligen sich die Arbeitgeber nicht an diesen Beiträgen.

Diese einkommensunabhängige Finanzierung wird durch Prämienverbilligungen für Einkommensschwache unterstützt. Trotzdem gerät eine breite Bevölkerungsschicht aufgrund der Gesundheitskosten in finanzielle Probleme. Immerhin 52% der Bevölkerung geraten laut Gesundheitsmonitor in gelegentliche oder dauerhafte finanzielle Probleme durch die Kosten der Krankenversicherung, die soziale Abfederung der Prämien gelingt also nur ungenügend.

Das dritte interessante Element der anvisierten Gesundheitsreform in Deutschland ist die Einführung eines Kapitaldeckungsverfahrens in der Pflegeversicherung. In der Schweiz existiert bisher das Kapitaldeckungsverfahren in der sog. zweiten Säule des Alterssicherungssystems, den Pensionskassen.

Die damit im Zusammenhang stehenden Probleme lassen sich anhand der Entwicklungen in der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise aufzeigen – da wurde die Instabilität der Institutionen der zweiten Säule sichtbar. Das akkumulierte Kapital aller Institutionen der zweiten Säule betrug im Jahr 2004 ca. 132% des BIP, etwa 602,9 Mrd.Franken (ca. 372 Mrd. Euro). Oft wird übersehen, wie wichtig dieser enorme Betrag zu investierenden Kapitals für die Schweiz als internationaler Finanzplatz ist.

Pensionskassen agieren auf den Finanzmärkten und investieren unter anderem in risikoreiche Anlagen. Aus den gewonnenen Renditen werden einerseits der sog. Mindestumwandlungssatz, also der Jahresprozentsatz des eingezahlten Vermögens als Rente ausgezahlt wird, andererseits der Zinssatz, also die Beteiligung der Versicherten an den erwirtschafteten Gewinnen. Durch die von der Krise 2008/09 verursachten Turbulenzen auf den Finanzmärkten haben die Schweizer Pensionskassen etwa 20% des gesamten Kapitals verloren, das sind etwa 120 Mrd. Franken ( 83,6 Mrd. Euro) aus.

Die Konsequenzen für die Versicherten sind massiv, da einerseits ihr angespartes Kapital für die Rente schwindet, andererseits der Mindestumwandlungssatz von 7,2 auf 6,8% und der Mindestzinssatz von 4% auf 2% gesenkt wurde. Der letzte Versuch der Senkung dieser Sätze wurde allerdings im März von der Schweizer Bevölkerung abgelehnt.

Was man nicht machen sollte
Die Organisation und Finanzierung des schweizerischen Systems der Gesundheitsvorsorge, aber auch die Erfahrungen mit dem Kapitaldeckungsverfahren sollten geeignet sein, Fragen bezüglich der Umsetzung in Deutschland aufzuwerfen. Das Gesundheitssystem überlässt die Finanzierung zu einem Großteil den privaten Haushalten.

Diese Finanzierung ist insbesondere durch die sog. Kopfpauschalen sozial unausgewogen, der soziale Ausgleich über die Prämienverbilligungen gelingt nur ungenügend. Der Einfluss privater Akteure ist hoch, da die Krankenversicherungen privatwirtschaftlich organisiert sind. Die Aufgabe, die Gesundheit der Schweizer zu gewährleisten, ist zu einem großen Teil in private Hände gelegt worden.

Es stellt sich nun die Frage, ob die hier analysierten Folgen und Begleitumstände des schweizerischen Gesundheitssystems dazu geeignet sind, eine Nachahmung zu empfehlen. Zumindest sollte Minister Rösler eine eingehende Modellanalyse schon vorhandener Systeme, wie dem schweizerischen, betreiben, bevor er sein politisches Schicksal mit der Einführung der Kopfpauschale verbindet. Möglicherweise bleibt sonst nur noch die Alternative, ob man den Minister oder das System nachhaltig beschädigt.

Sebastian Schief lehrt u.a. Sozialpolitik an der Universität Fribourg und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac Schweiz.
Maurizio Coppola ist Co-Generalsekretär von Attac Schweiz.