Generell
versprechen die Koalitionspartner, das deutsche
Gesundheitswesen innovationsfreundlich, leistungsgerecht
und demografiefest zu gestalten, sowie Solidarität,
Eigenverantwortung und einer Kultur des Vertrauens
den Vorzug vor bürokratischen Vorschriften
zu geben.
Drei
Maßnahmen sind anvisiert: Stärkung
und Betonung des Wettbewerbs, Entkoppelung der
Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkosten sowie
die Einführung des Kapitaldeckungsverfahrens
als effizientes Instrument zur Finanzierung
von Sozialleistungen. Diese drei Punkte sind
auch integraler Bestandteil der Ideologie des
schweizerischen Wohlfahrtsstaats im Allgemeinen
und seiner Gesundheitsversorgung im Speziellen.
Welche Erfahrungen hat die Schweiz damit gemacht?
Das
schweizerische Gesundheitssystem
Gegenseitige Hilfsgesellschaften und andere
Frühformen von Krankenkassen existierten
in der Schweiz schon vor mehreren hundert Jahren,
gesetzlich verankert wurden sie aber erst in
den 1880er Jahren. 1885 wurde die Grundlage
für einen Artikel in der Bundesverfassung
geschaffen, der 1890 den Bund zur Einrichtung
einer Kranken- und Unfallversicherung verpflichtete.
1899 wurde ein einheitliches Kranken- und Unfallversicherungsgesetz
(KUVG, «Lex Forrer») verabschiedet,
das eine eidgenössische Unfallversicherung,
öffentliche und private Krankenkassen,
ein Pflichtversicherung für die meisten
Erwerbstätigen, Subventionen des Bundes
sowie Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge
vorsah.
Dieses
Gesetz scheiterte aber am Referendum im Jahre
1900. Eine abgespeckte Version des KUVG trat
1912 in Kraft und war bis 1995 (mit verschiedenen
Teilrevisionen) die Grundlage des schweizerischen
Gesundheitssystems, die Krankenversicherung
war bis zu diesem Zeitpunkt freiwillig.
Erst
mit dem Krankenversicherungsgesetz von 1994,
das 1996 in Kraft trat, wurde eine obligatorische
Krankenversicherung eingerichtet, obwohl zu
dieser Zeit schon über 95% der Bevölkerung
versichert waren. Zentrale Innovationen dieses
Gesetzes waren die obligatorische Grundversicherung,
geschlechtsneutrale und für kleine Einkommen
subventionierte Beiträge sowie ein erleichterter
Kassenwechsel.
Heute
sind die jährlichen Pro-Kopf-Ausgaben des
schweizerischen Gesundheitssystems im internationalen
Vergleich sehr hoch. So gibt die Schweiz über
50 Mrd. Franken (rund 35 Mrd. Euro) für
die Gesundheit aus, das sind etwa 11% des BIP.
Zudem sind seit der Einführung der obligatorischen
Krankenversicherung die Kosten markant gestiegen
(zwischen 1996 und 2003 um 31,6%).
Im
schweizerischen Gesundheitssystem konkurrieren
94 Kassen um Versicherte, davon vier mit über
500000 Versicherten. Das Krankenversicherungsgesetz
(KVG) schreibt den Kassen eine einheitliche
Grundversicherung vor. Darüber hinaus bieten
die Krankenkassen nichtobligatorische Zusatzversicherungen
an, die je nach Kasse variieren. Welche Leistungen
in die Grund- bzw. Zusatzversicherung fallen,
ist eine Frage der politischen Auseinandersetzung.
Regulierter
Wettbewerb
Zentrales Element der Neukonzeption des Gesundheitswesens
der Schweiz war der so genannte regulierte Wettbewerb.
Die
erste Komponente der privatwettbewerblichen
Strategie war die Möglichkeit der freien
Kassenwahl. Durch die Möglichkeit der Versicherten,
die Krankenversicherung und die Franchisen (die
individuelle Kostenbeteiligung) jedes Jahr zu
wechseln, sollte ein Anreiz geschaffen werden,
günstige und qualitativ hochwertige Versorgung
anzubieten. Tatsächlich aber hilft dieses
System jenen Geld zu sparen, die jung, gesund,
gut ausgebildet und wohlhabend sind.
Der
zweite Aspekt der Wettbewerbsstrategie war eine
größere Gestaltungsfreiheit bei der
Vertragsausgestaltung mit den Ärzten, Apotheken,
Krankenhäusern und anderen Leistungsanbietern.
Dieser Aspekt wettbewerblichen Handelns sollte
günstige und qualitativ hochwertige Leistungen
auf Seiten der Leistungsanbieter ermöglichen.
Tatsächlich aber wurde der Markt durch
festgelegte Kontingente bestimmter Gruppen von
Ärzten noch stärker reguliert als
zuvor.
Das
scheinbar privatwettbewerblich organisierte
Gesundheitssystem der Schweiz im Bereich der
Grundversicherung kennt nur ein einziges Produkt.
Es kann also nur über den Preis Wettbewerb
betrieben werden, dieser Wettbewerb wird über
die Prämien noch dazu unterminiert, weil
die Versicherten nur selten die Kasse wechseln.
Zudem sind die Tarife und Preise der Leistungserbringer
hoch reguliert, der Markt ist seit 2002 systematisch
durch Kontingente abgeschottet, und zusätzlich
wurde ein System der «Eigenverantwortung»
eingerichtet, das jungen, gut ausgebildeten,
gut verdienenden Gesunden erlaubt, sich der
gemeinsamen Finanzierung der Krankenversicherungen
teilweise zu entziehen.
Die
Versicherten zahlen
Ein wesentliches Merkmal der Finanzierung des
Gesundheitssystems der Schweiz ist, dass einerseits
die privaten Haushalte einen wesentlichen Teil
der Kosten selbst aufbringen (Anstieg von 77%
zwischen 1996 und 2007), andererseits die öffentliche
Hand sich aufgrund des Spardrucks in Zeiten
vermeintlicher finanzieller Krisen aus der Finanzierung
zurückzieht (von 39,5% Anteil staatlicher
Finanzierung im Jahre 1971 auf 25,3% im Jahre
2000).
Die
schweizerischen Krankenversicherungen werden
überwiegend durch die Prämien der
Versicherten finanziert, was einen Drittel der
gesamten Gesundheitskosten ausmacht. Ein weiteres
Drittel wird durch Franchisen (Kostenbeteiligungen),
Selbstbehalte und unversicherte Leistungen,
ebenfalls von den Versicherten, aufgebracht.
Bei den Prämien handelt es sich um Kopfprämien,
die innerhalb einer Kasse und eines Kantons
und unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten
und dem individuellen Krankheitsrisiko der Versicherten
für alle gleich hoch sind. Anders als bei
anderen Sozialversicherungen beteiligen sich
die Arbeitgeber nicht an diesen Beiträgen.
Diese
einkommensunabhängige Finanzierung wird
durch Prämienverbilligungen für Einkommensschwache
unterstützt. Trotzdem gerät eine breite
Bevölkerungsschicht aufgrund der Gesundheitskosten
in finanzielle Probleme. Immerhin 52% der Bevölkerung
geraten laut Gesundheitsmonitor in gelegentliche
oder dauerhafte finanzielle Probleme durch die
Kosten der Krankenversicherung, die soziale
Abfederung der Prämien gelingt also nur
ungenügend.
Das
dritte interessante Element der anvisierten
Gesundheitsreform in Deutschland ist die Einführung
eines Kapitaldeckungsverfahrens in der Pflegeversicherung.
In der Schweiz existiert bisher das Kapitaldeckungsverfahren
in der sog. zweiten Säule des Alterssicherungssystems,
den Pensionskassen.
Die damit im Zusammenhang stehenden Probleme
lassen sich anhand der Entwicklungen in der
jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise aufzeigen
– da wurde die Instabilität der Institutionen
der zweiten Säule sichtbar. Das akkumulierte
Kapital aller Institutionen der zweiten Säule
betrug im Jahr 2004 ca. 132% des BIP, etwa 602,9
Mrd.Franken (ca. 372 Mrd. Euro). Oft wird übersehen,
wie wichtig dieser enorme Betrag zu investierenden
Kapitals für die Schweiz als internationaler
Finanzplatz ist.
Pensionskassen
agieren auf den Finanzmärkten und investieren
unter anderem in risikoreiche Anlagen. Aus den
gewonnenen Renditen werden einerseits der sog.
Mindestumwandlungssatz, also der Jahresprozentsatz
des eingezahlten Vermögens als Rente ausgezahlt
wird, andererseits der Zinssatz, also die Beteiligung
der Versicherten an den erwirtschafteten Gewinnen.
Durch die von der Krise 2008/09 verursachten
Turbulenzen auf den Finanzmärkten haben
die Schweizer Pensionskassen etwa 20% des gesamten
Kapitals verloren, das sind etwa 120 Mrd. Franken
( 83,6 Mrd. Euro) aus.
Die
Konsequenzen für die Versicherten sind
massiv, da einerseits ihr angespartes Kapital
für die Rente schwindet, andererseits der
Mindestumwandlungssatz von 7,2 auf 6,8% und
der Mindestzinssatz von 4% auf 2% gesenkt wurde.
Der letzte Versuch der Senkung dieser Sätze
wurde allerdings im März von der Schweizer
Bevölkerung abgelehnt.
Was
man nicht machen sollte
Die Organisation und Finanzierung des schweizerischen
Systems der Gesundheitsvorsorge, aber auch die
Erfahrungen mit dem Kapitaldeckungsverfahren
sollten geeignet sein, Fragen bezüglich
der Umsetzung in Deutschland aufzuwerfen. Das
Gesundheitssystem überlässt die Finanzierung
zu einem Großteil den privaten Haushalten.
Diese
Finanzierung ist insbesondere durch die sog.
Kopfpauschalen sozial unausgewogen, der soziale
Ausgleich über die Prämienverbilligungen
gelingt nur ungenügend. Der Einfluss privater
Akteure ist hoch, da die Krankenversicherungen
privatwirtschaftlich organisiert sind. Die Aufgabe,
die Gesundheit der Schweizer zu gewährleisten,
ist zu einem großen Teil in private Hände
gelegt worden.
Es
stellt sich nun die Frage, ob die hier analysierten
Folgen und Begleitumstände des schweizerischen
Gesundheitssystems dazu geeignet sind, eine
Nachahmung zu empfehlen. Zumindest sollte Minister
Rösler eine eingehende Modellanalyse schon
vorhandener Systeme, wie dem schweizerischen,
betreiben, bevor er sein politisches Schicksal
mit der Einführung der Kopfpauschale verbindet.
Möglicherweise bleibt sonst nur noch die
Alternative, ob man den Minister oder das System
nachhaltig beschädigt.
Sebastian
Schief lehrt u.a. Sozialpolitik an der Universität
Fribourg und ist Mitglied des wissenschaftlichen
Beirats von Attac Schweiz.
Maurizio
Coppola ist Co-Generalsekretär von Attac
Schweiz.
|