Deutschlands
Rolle in der Welt
Indem
er seine Rede unter das Motto "Mut zum
Frieden und Mut zur Veränderung" stellte,
lieferte er auch gleich die Begründung
für den Zusammenhang dieser beiden Themen
: Deutschland (und Europa) werde "seine
Rolle in der Welt" nur behaupten können,
"wenn wir wirtschafts- und sozialpolitisch
beweglicher und solidarischer" werden :
"Wir werden Leistungen des Staates kürzen,
Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung
von jedem Einzelnen abfordern müssen."
Im Klartext heisst dies : Um in der imperialistischen
Konkurrenz insbesondere gegenüber den USA
bestehen zu können, verschärft das
europäische Kapital den sozialen Krieg
an der Heimfront. Zugleich spiegelte die Ablehnung
des Angriffskriegs im Irak den Versuch, eigene
(deutsche, französische oder russische)
Interessen und Einflussmöglichkeiten im
Nahen Osten zu verteidigen.
Unter
dem Titel "Agenda 2010" treibt die
rot-grüne Bundesregierung nun also ein
umfassendes Paket von "Strukturreformen"
voran, um "Deutschland bis zum Ende des
Jahrzehnts bei Wohlstand und Arbeit wieder an
die Spitze zu bringen." Mehrere Gesetzesrevisionen
wurden bereits in die Wege geleitet. Zugleich
wird an frühere Massnahmen wie die laufende
Steuerreform (Entlastung der Unternehmen und
der Reichen) und die Rentenreform von 2001 angeknüpft.
Der folgende Überblick zeigt, dass die
Agenda 2010 keinen Kernbereich der Sozialpolitik
verschont.
Kampf
gegen die Arbeitslosen
Im
Bereich der Beschäftigung wird an die Vorschläge
der Hartz-Kommission angeknüpft, die eine
so genannte "aktive Arbeitsmarktpolitik"
propagieren : Im Kern geht es darum, Arbeitslose
zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit unter
schlechteren Bedingungen zu zwingen, indem deren
Überwachung verschärft, die sozialstaatlichen
Leistungen gekürzt und die Kriterien der
Zumutbarkeit gesenkt werden.
Zur
Erinnerung : Schröder hatte die Bundestagswahl
von 1998 unter anderem mit dem Versprechen gewonnen,
die Arbeitslosigkeit drastisch zu senken. Doch
verharrte die Arbeitslosenquote auf demselben
Niveau, und zwei Monate vor der nächsten
Bundestagswahl überstieg die Zahl der Arbeitslosen
im Juli 2002 wieder einmal die Barriere von
vier Millionen Lohnabhängigen (9.7 %).
Mit Blick auf den anstehenden Wahlkampf bildete
der Bundeskanzler eine Kommission unter der
Leitung des VW-Managers Hartz, um geeignete
"Massnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit"
vorzuschlagen. Damit machte sich die Regierung
direkt die Leitlinien der Personalpolitik des
Auto-Konzerns zu eigen. Bekämpft werden
nun in erster Linie die Arbeitslosen und ihre
Rechte.
Nach
der knappen Wiederwahl Schröders am 22.
September 2002, die nicht zuletzt der "nationalen
Solidaritätswelle" angesichts der
Hochwasserkatastrophe und der Ablehnung des
drohenden Irak-Kriegs geschuldet war, wurde
die Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission
zur Chefsache erklärt. Bereits am 1. Januar
2003 sind das erste und das zweite "Gesetz
für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt"
(Hartz-Gesetze) in Kraft getreten. Die Bundesanstalt
für Arbeit wird aus der Verwaltung ausgegliedert
und nach privatwirtschaftlichem Vorbild organisiert.
Die Arbeitsämter schliessen Verträge
mit so genannten Personal-Service-Agenturen
(meistens private Arbeitsvermittler) ab, um
die Leiharbeit systematisch zu fördern
und den Arbeitslosen aufzuzwingen. Der zuständige
Minister Wolfgang Clement sagte vor dem Bundestag,
es gehe darum, die Leiharbeit in Deutschland
"aus der Schmuddelecke" herauszuholen
und doppelte in Der Zeit vom 5. Juni 2003 nach
: "Jede legale Arbeit ist prinzipiell zumutbar.
Wir können in Deutschland nicht nur mit
Hosenträgern herumlaufen." Der Deutsche
Gewerkschaftsbund (DGB) ist Clements Aufforderung
unverzüglich gefolgt und hat in den letzten
Wochen zwei verschiedene (!) Tarifverträge
für Zeitarbeit mit den Verbänden der
Temporärbranche BZA (Manpower, Adecco,
Randstad, u.a.) und iGZ abgeschlossen. Zugleich
erklärte DGB-Verhandlungsführer Dombre
die bis vor kurzer Zeit aus gewerkschaftlicher
Sicht grundsätzlich abgelehnte Zeitarbeitsbranche
zu einer "völlig normalen Wirtschaftsbranche".
Ich-AG,
Minijobs und Job Floater
Weitere
Massnahmen der Agenda 2010 bestehen aus der
Reduktion sozialstaatlicher Leistungen : So
sind insbesondere eine radikale Verkürzung
der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf 12
Monate bzw. 18 Monate ab Alter 55 und die Zusammenführung
der Arbeitslosen- und Sozialhilfe vorgesehen.
Ausserdem sollen der Kündigungsschutz abgebaut
und die Entwicklung des Tieflohnsektors und
der Scheinselbständigkeit gefördert
werden. Diesem Zweck dient die so genannte Ich-AG
(Zuschüsse und Steuerabzüge bei der
Gründung von Kleinstunternehmen) ebenso
wie die Minijobs (Steuerbefreiung und reduzierte
Sozialversicherungsbeiträge bei Stellen
mit einem Verdienst von einigen Hundert Euro)
und der Job Floater (staatliche Kredite und
Darlehen für Unternehmen, die Arbeitslose
einstellen).
Die
Agenda 2010 zielt auf eine umfassende Reorganisation
des "verkrusteten" deutschen Arbeitsmarktes
und der "bürokratischen" Arbeitsämter
ab. Zugleich hat Schröder angedeutet, die
Regierung könnte in die Tarifautonomie
der "Sozialpartner" eingreifen und
gesetzliche Öffnungsklauseln durchsetzen,
wenn die Tarifverträge sonst nicht flexibilisiert
werden : Dies wäre von historischer Bedeutung,
hat doch die Tarifautonomie in Deutschland formell
Verfassungsrang (Art. 9 des Grundgesetzes).
Länger
arbeiten für weniger Rente
Auch
im Bereich der Rentenversicherung steht die
rot-grüne Bundesregierung den anderen europäischen
Regierungen in keiner Weise nach und bereitet
einen massiven Angriff auf die Renten vor. 2001
wurde die Förderung der privaten Altersvorsorge
(nach schweizerischem Vorbild) eingeführt,
um die zukünftige Reduktion der staatlichen
Renten schon mal vorzubereiten (und zugleich
der Versicherungsindustrie ein schönes
Geschenk zu machen). Zudem hat der Schröder
eine "Kommission für die Nachhaltigkeit
in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme"
(Rürup-Kommission) eingesetzt, deren Vorschläge
im Rahmen der Agenda 2010 umgesetzt werden sollen
: (1) Die Rentenanpassung soll sich nur noch
an der Entwicklung der versicherungspflichtigen
Einkommen orientieren, nicht mehr an der Bruttolohnentwicklung.
(2) Das Rentenalter soll ab 2011 stufenweise
- pro Jahr um einen Monat - von 65 auf 67 Jahre
ansteigen. (3) Die Rentenanpassungsformel soll
um einen "Nachhaltigkeitsfaktor" ergänzt
werden, der die Entwicklung des Verhältnisses
zwischen Beitragszahlern und Rentnern ausgleicht
und dadurch die Rentenanpassung verlangsamt.
Auch in Deutschland sollen die Lohnabhängigen
also länger arbeiten, um weniger Rente
zu erhalten...
Gesundheitsreform
macht krank
Eine
breite Palette von Massnahmen umfasst die so
genannte Gesundheitsreform, in deren Zentrum
die "Kostendämpfung" durch Abwälzung
von Kosten auf die Kranken steht. Das Krankengeld
soll aus der paritätischen Finanzierung
der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) herausgenommen
und ab der 6. Woche den Lohnabhängigen
allein aufgebürdet werden. Der Leistungskatalog
der GKV wird überarbeitet : Bestimmte Leistungen
sollen gestrichen, d.h. in Zukunft nicht mehr
bezahlt werden. Wer ohne ärztliche Überweisung
einen Facharzt aufsucht, soll eine Strafgebühr
bezahlen, usw. Hinzu kommen Massnahmen zur Gestaltung
des Wettbewerbs im Gesundheitswesen wie die
Auflösung des Vertragsmonopols der kassenärztlichen
Vereinigungen, die Förderung der Fusion
von Krankenkassen, die Einführung des Hausarztmodells,
usw. Insgesamt handelt es sich um eine Mischung
aus neoliberalem Gesundheitsmarkt und Abbau
öffentlicher Dienstleistungen, wie sie
für die Politik der europäischen Sozialdemokratie
so typisch ist.
Die
Agenda 2010 umfasst zusätzliche Massnahmen,
auf die hier nicht weiter eingegangen werden
kann. Ohne Zweifel handelt es sich um den umfassendsten
Angriff auf die sozialen und ökonomischen
Rechte der deutschen Lohnabhängigen seit
der Zeit des Faschismus. Die Steigerung der
Wettbewerbsfähigkeit der "Deutschland
AG" und der kapitalistischen Profite wird
durch die rituelle Beschwörung des rheinischen
Modells des Kapitalismus genau so wenig gestoppt
wie durch den Mythos vom sozialen Europa, der
immer noch in den Köpfen von Politikern
und Journalisten herum geistert.
Perspektiven
des Widerstands
Im
Gegensatz zu anderen Ländern Westeuropas
hat sich in Deutschland bislang noch keine breite
Protestbewegung gegen die soziale Kriegserklärung
des Bundeskanzlers entwickelt. Die PDS ist nach
der vernichtenden Wahlniederlage vom September
2002 in erster Linie mit sich selbst und mit
der Entfernung unliebsamer Stimmen aus den Führungsgremien
beschäftigt. Die Spitzen der Gewerkschaftsbürokratie
haben ihren leidenschaftlichen Reden vom 1.
Mai keine Taten folgen lassen. Die in den Medien
hochstilisierte Opposition innerhalb der SPD
hat sich am Sonderparteitag in Berlin vom 1.
Juni als laues Sommerwindchen herausgestellt
: 90 Prozent der Delegierten stimmten für
die Agenda 2010. Was im Übrigen vom "linken
Flügel der SPD" zu halten ist, zeigt
zum Beispiel ein Interview in der NZZ am Sonntag
vom 25. Mai, in dem sich der Bundestagsabgeordnete
Ottmar Schreiner zu den "Vorzügen
des schweizerischen Rentensystems" äussert...
Am
ehesten könnte sich Widerstand gegen den
Angriff der rot-grünen Sozialabbauer wohl
aus den Kreisen der Gewerkschaftslinken und
der "Anti-Globalisierungs-Bewegung"
heraus entwickeln, wenn Kernelemente der Agenda
2010 im Parlament beraten werden (v.a. im kommenden
Herbst). Bereits gibt es zahlreiche Initiativen,
die aber noch kaum zusammenfliessen. So beteiligten
sich am 29. April in Schweinfurt 4000 Lohnabhängige
an einem Proteststreik der IG Metall gegen die
Agenda 2010. Am 1. Juni demonstrierten 2000
Menschen auf Initiative des Berliner Sozialforums
und kritischer Gewerkschafter vor dem Hotel
Estrel in Berlin, in dem der Sonderparteitag
der SPD abgehalten wurde. Das Netzwerk für
eine kämpferische und demokratische Ver.
di (Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft)
hat einen Aufruf lanciert, der die Durchführung
einer bundesweiten Demonstration und eines 24-stündigen
Generalstreiks propagiert. ATTAC ruft die Gewerkschaften
zum Widerstand auf und organisiert öffentliche
Veranstaltungen zum Sozialabbau, usw.
Was
sich aus solchen Initiativen entwickeln kann,
bleibt vorerst ungewiss. Ohne Zweifel aber steht
angesichts der wirtschaftlichen und politischen
Bedeutung Deutschlands für die Lohnabhängigen
in ganz Europa bei der Agenda 2010 viel auf
dem Spiel. In den nächsten Monaten müssen
Aktionsformen gefunden werden, die es erlauben,
den Protest gegen den imperialistischen Krieg
auf europäischer Ebene auch in einen gemeinsamen
Protest gegen den sozialen Krieg der sich mit
falschen Friedensfedern schmückenden Regierungen
zu verwandeln. In einem solchen Prozess könnte
sich auch die Diskussion über grundlegende
Alternativen und die Konturen eines sozialistischen
und demokratischen Europa produktiv entfalten. |