Die Austragung der Olympischen Spiele in China
steht symbolisch für die Wiedereingliederung
dieses Landes in die kapitalistische Welt.
Diese Entwicklung hat einen direkten Einfluss
auf die Bevölkerung der gesamten Welt,
da ein Fünftel der Weltbevölkerung
in China lebt und das Land zur drittgrößten
Wirtschaftsmacht aufgestiegen ist und ein
Drittel der weltweiten Dollarreserven hält.
Die enormen Produktionsverlagerungen liefern
zudem ein dauerndes Argument, um die Existenzbedingungen
von Millionen von Lohnabhängigen nahezu
überall infrage zu stellen. Um die Tragweite
der stattfindenden Umwälzungen in diesem
Land zu erfassen, bedarf es eines Rückblicks
auf die chinesische Gesellschaftsstrukturen
vor dreissig Jahren.
Vor
den Reformen…
Damals
galt die Arbeiterklasse als „die bestgestellte
unter den herrschenden Klassen“. „Geschmückt
mit dem Attribut als herrschende Klasse“1
rangierte sie unmittelbar hinter den Kadern,
was Prestige und Existenzbedingungen anlangte.
Die ArbeiterInnen und Angestellten unterlagen
nicht den üblichen Zwängen der kapitalistischen
Ausbeutung. Beamten ähnlich wurden sie
bestimmten Produktionseinheiten zugewiesen.
Ihr Einkommen hing nicht von der Leistung
sondern von Rang und Aufgabe ab. Absentismus
wurde toleriert, die Arbeitszeiten waren überschaubar
und der Arbeitsrhythmus äußerst
gemächlich. Da die Planvorgaben im Allgemeinen
schnell erreicht waren, wurde man den Rest
des Jahres fürs Nichtstun bezahlt. Zu
Zeiten politischer Kampagnen wurde die Arbeit
ohnehin zugunsten der politischen Versammlungen
eingestellt.
Die
sozialen Vorteile durch die Zugehörigkeit
zu den Produktionseinheiten (danwei) machten
die niedrigen Löhne teilweise wieder
wett. Der danwei lebte weitgehend autark und
bildete eine Art Dorfgemeinschaft in der Stadt,
die sich um Wohnungen, kostenlose Gesundheitsfürsorge,
beitragsfreie Renten, Kindererziehung, Freizeit
usw. kümmerte. „Trotzdem gab es
unter dieser Einparteienherrschaft keine politische
Demokratie oder verbriefte Rechte, die Parteiführer
abzuwählen. So wie der oder die Verantwortliche
aus der Partei nicht das Recht hatte, Lohnabhängige
aus wirtschaftlichen Gründen zu entlassen,
waren die ArbeiterInnen ihrerseits an die
Produktionseinheit gefesselt und konnten weder
die Arbeit noch die Arbeitsstätte wechseln
oder die ParteifunktionärInnen ihres
danwei abwählen. Den ArbeiterInnen wurde
das grundlegende Recht auf Selbstorganisation
verweigert. Die einzige genehmigte Gewerkschaft
war die ACFTU, in der die ArbeiterInnen Zwangsmitglieder
waren, ohne aber das Recht auf Abwahl der
FunktionärInnen zu haben. Das Ganze gipfelte
in einem Dossierwesen, wo von jedem Lohnabhängigen
all seine Äußerungen auf den Versammlungen
und sonstigen Aktivitäten gespeichert
wurden. Diese Dossiers wurden von dem Parteisekretär
des danwei aufbewahrt und dienten als Grundlage
für alle Sanktionen und Beförderungen.
Diese politische und soziale Kontrolle hatte
sowohl die extreme Zersplitterung als auch
eine tiefgreifende politische Apathie der
Arbeiterklasse zur Folge.“2
Die
materielle Lage der Bauernschaft und damit
der großen Mehrheit der Bevölkerung
war ganz anders. Auf ihren Schultern lud der
Staat die Hauptlasten der Industrialisierung
ab. Die Zwangskollektivierungen nach 1958
sorgten für wahre Katastrophen mit 30
Millionen Hungertoten in der Zeit von 1958
bis 1961. Langfristig resultierte daraus eine
äußerst geringe Produktivität
in der bäuerlichen Landwirtschaft und
deutlich geringerer Lebensstandard im Vergleich
zu den Städtern. Daneben litten die Bauern
unter beträchtlicher sozialer und rechtlicher
Diskriminierung. Auch das neue Regime ließ
es sich nicht nehmen, die 2000 Jahre alte
Tradition der Residenzpflicht (hukou) für
alle Bürger wieder einzuführen,
weswegen es den Bauern verwehrt wurde, in
der Stadt zu arbeiten oder zu leben.
… und der heutige Alltag
Das Aufkommen einer Bourgeoisie in der gegenwärtigen
chinesischen Gesellschaft verdankt sich der
Kontrolle der Partei über den Staatsapparat.
Die Akkumulation von Privatkapital rührt
vorwiegend durch Plünderung öffentlicher
Vermögenswerte im Rahmen der Privatisierungen,
durch Unterschlagung von Geldern, Bestechung
und Raubbesteuerung der Bauernschaft. Zahlreiche
Politkader haben sich dem Business zugewandt.
Umgekehrt werden PrivatunternehmerInnen in
die Partei aufgenommen und mit verantwortlichen
Positionen bedacht. Zwar werden die ManagerInnen
der privatisierten Großunternehmen nicht
mehr vom Staat bezahlt, aber noch immer von
der lokalen oder – in den wichtigsten
Unternehmen – der übergeordneten
Regierung bestimmt. Daher rangieren unter
ihnen oftmals Verwandte hochrangiger politischer
Kader. Parallel dazu vollzieht sich ein Generationenwechsel
in der Verwaltung und den Unternehmen, in
denen junge HochschulabsolventInnen Fuß
fassen. Diese Privilegierung ist nur möglich,
weil die Kommunistische Partei über das
absolute Machtmonopol verfügt. Der Versuch,
eine unabhängige Organisation auf po-litischer,
gewerkschaftlicher oder Verbandsebene zu schaffen,
wäre das sicherste Mittel, umgehend im
Gefängnis zu landen.
Die
„Mittelklasse“, die dank der wirtschaftlichen
Entwicklung beträchtlich an Boden gewonnen
hat, beträgt ungefähr 15 % der aktiven
Bevölkerung. Unter ihr befinden sich
die verlässlichsten Stützen des
Regimes. Sie setzt sich zusammen aus einem
Teil der Intelligenz und den Lohnabhängigen
mit der höchsten Qualifikation. Hinzu
kommt ein Teil der Staatsbeamten aus Verwaltung,
Partei, Gewerkschaft und anderen offiziellen
Institutionen.
Die
Lohnabhängigen, die in dem noch verbliebenen
öffentlichen Sektor arbeiten, machen
mittlerweile weniger als 20 % der aktiven
Bevölkerung aus. Seit 1993 ist die Beschäftigtenzahl
in diesem Sektor um ca. 40 % geschrumpft.
Teilweise konnte dies aufgefangen werden,
indem Frauen ab 45 und Männer ab 50 in
Rente geschickt wurden. Andere wurden freigestellt
und erhielten einen Teil ihres Lohnes vorerst
weiter. Später folgte jedoch die Entlassung
und somit nicht nur der Verlust des Einkommens
sondern auch der übrigen Vergünstigungen,
die ihnen die Arbeitseinheit früher gewährt
hatte: Wohnung, Gesundheitsfürsorge,
Kindererziehung, Rente usw. Aus den einstigen
VertreterInnen der „herrschenden Klasse“,
wie das Regime gern vorgab, sind nunmehr Parias
geworden, die sich mit kleinen Jobs und neuerdings
einer Art Sozialhilfe über Wasser halten.
Wie die meisten ChinesInnen haben sie normalerweise
nicht das Recht auf Arbeit oder freie Wohnortwahl.
Insofern gerät diese rechtlose Schicht
zum regelrechten Glücksfall für
die chinesischen und ausländischen KapitalistInnen.
Ohne Aufenthaltsgenehmigung genießen
sie auch nicht das Recht auf Gesundheitsfürsorge,
Rente oder Wohnung. Seit 2001 erst dürfen
ihre Kinder die Schule besuchen und sind die
Aufenthaltsbestimmungen gelockert worden.
Zum Teil arbeiten sie in Kleinunternehmen
auf dem Land oder in Zweigen mit gefährlicher
und gesundheitsgefährdender Arbeit wie
Hoch- und Tiefbau oder unter Tage. Andere
arbeiten im Hotel- und Gaststättengewerbe,
im Handel, bei der Müllabfuhr oder als
GärtnerInnen. Oder in den Unternehmen
an den Küsten, die auf Export spezialisiert
sind. Meist sind es junge Frauen, manchmal
aber auch Kinder unter sechzehn. Ihr Arbeitstag
beträgt bis zu 15 Stunden – an
7 Tagen pro Woche. Angesichts der lächerlichen
Löhne bleibt ihnen meist keine andere
Wahl, als in den Schlafsälen der Unternehmen
zu wohnen, die unter Aufsicht stehen. Oft
müssen sie Schläge oder Drohungen
erdulden, das ius primae noctis3 ist gang
und gäbe. Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten
gehören zum Alltag und die Löhne
werden oft verspätet gezahlt.
Dieser
permanente Zustrom aus der inneren Emigration
wird durch die Verelendung der Bauern unterhalten,
die etwa die Hälfte der Bevölkerung
ausmachen. Im Zuge der „Reformen“
anfangs der 80er Jahre hat sich zwar die Lage
der Bauern infolge der Wiedereinführung
der bäuerlichen Familienbetriebe beträchtlich
gebessert, aber bald darauf gerieten sie in
die Zange der Zwangsbesteuerung. Seither geht
es spürbar bergab und ihr Einkommen liegt
drei bis sechsmal so niedrig als in den Städten.
Daher ist das Land auch häufiger Schauplatz
für Protestbewegungen in Form von Demonstrationen,
Petitionen, Gerichtsklagen etc. Gewaltsame
Zusammenstösse mit der Polizei und den
paramilitärischen Kräften sind hier
viel verbreiteter als in den Städten
und auch die Repression ausgeprägter.
Widerstand
ist nicht einfach
In
den 90er Jahren gab es bedeutsame Kämpfe
gegen die Privatisierung der staatlichen Unternehmen4
mit Demonstrationen, Straßen- und Schienenblockaden.
Es kam auch zu Zusammenstössen mit der
Polizei und manchmal sogar zu Betriebsbesetzungen
mit Wiederaufnahme der Produktion. 2002 war
der Kampf der ErdölarbeiterInnen die
wichtigste Bewegung gegen Arbeitsplatzvernichtung,
die China jemals erlebt hat. An einer Demonstration
bspw. beteiligten sich 50 000 Menschen. Die
dabei erlittene Niederlage wirkte lange nach.
Inzwischen scheint sich aber ein neuer Zyklus
der Kämpfe abzuzeichnen. Infolge des
Beitritts von China zur WTO werden massenhaft
Arbeitsplätze abgebaut in Sektoren, die
zuvor verschont geblieben waren, wie Eisenbahnwesen,
Luftfahrt und Banken. Während der letzten
sieben Jahre hat z. B. die Industrie- und
Handelsbank Chinas 110 000 von 400 000 Beschäftigten
entlassen.
Unter
den inneren EmigrantInnen konnten Staat und
UnternehmerInnen bis dato erfolgreich Kampfmaßnahmen
durch Repression verhindern. Mittlerweile
sind aber genau diese Repression und die unmenschliche
Ausbeutung dafür verantwortlich, dass
Streiks entstehen, die oftmals gewaltsam und
mitunter siegreich verlaufen. Meist entstehen
diese Kämpfe spontan und unvorbereitet
in den einzelnen Betrieben. Nach dem Ende
eines solchen Streiks bleiben auch keine dauerhaften
Organisationsformen bestehen, was sowohl an
der Repression als auch an der Zersplitterung
der Lohnabhängigen liegt. Die internationale
Solidarität mit den Lohnabhängigen
dieser Unternehmen ist wichtiger denn je und
sollte bei denen beginnen, die direkt oder
indirekt für die großen multinationalen
Konzerne arbeiten.
Übersetzung:
MiWe