Die irakische Bevölkerung
hat über den Verfassungsentwurf abgestimmt.
Unmittelbar nach der Abstimmung sprach US-Präsident
Bush von einem „sehr guten Tag für
den Irak und den Weltfrieden“. Doch die
Lobeshymnen verstummen schnell wieder. Immer
weiter entfernen sich US-Propaganda und die
reale Situation im Irak voneinander.
Die Sicherheitslage ist katastrophal. Verschiedenen
Schätzungen zufolge sind seit der Invasion
im März 2003 zwischen 30.000 und 100.000
irakische ZivilistInnen ums Leben gekommen.
Die irakische Bevölkerung ist mit einer
zunehmend repressiven Besatzungsmacht konfrontiert.
Die irakische Autorin Haifa Zangana, die unter
Saddam Hussein inhaftiert war, drückte
die Situation vor einigen Wochen wie folgt aus:
„Trotz all der Rhetorik über den
Aufbau einer neuen Demokratie: Die Iraker werden
von der Last und den Misshandlungen durch die
US-geführte Besatzung und die lokalen irakischen
Untergebenen zerdrückt. Der Alltag der
Iraker ist nach wie vor ein Kampf ums Überleben.“
Je unfähiger sich Besatzungsmacht und die
eingesetzte irakische Regierung dabei erweisen,
den Irak zu stabilisieren, desto drastischer
ist ihr Umgang mit der Bevölkerung. Tägliche
Straßenkontrollen, Hausdurchsuchungen
und willkürliche Festnahmen nehmen zu.
Momentan sind in den drei großen Gefängnissen
15.000 IrakerInnen inhaftiert. Um den Zustrom
von neuen Gefangenen gewährleisten zu können,
wird ein weiteres Gefängnis gebaut. Organisationen
wie Human Rights Watch prangern immer häufiger
die verheerende Menschenrechtslage an und berichten
von Folterungen durch die US-Armee oder durch
irakische Sicherheitskräfte. Unter dem
Vorwand der Terrorismusbekämpfung werden
nach wie vor Luftangriffe geflogen oder ganze
Stadtteile umzingelt und angegriffen.
Soziale
Krise
Während die irakische
Bevölkerung mit täglichen Demütigungen
durch die Besatzer konfrontiert ist, schwindet
auch die Hoffnung von Millionen nach einer sozialen
Perspektive.
Eine im Mai 2005 veröffentlichte Studie
von der UN-Entwicklungsagentur stellte fest,
dass in Bagdad bei 92 Prozent aller Haushalte
die Stromversorgung immer wieder unterbrochen
ist. Ein Drittel aller irakischen Haushalte
haben nur unregelmäßig Zugriff auf
Trinkwasser. Vierzig Prozent der Familien in
städtischen Gebieten leben unter Bedingungen,
wo das Abwasser auf offener Straße abfließt.
Außerdem sind chronische Unterernährung
von Kindern und daraus resultierende Krankheiten
heute mehr als vor dem Krieg ein Massenphänomen.
Auch Arbeitslosigkeit und Armut sind Faktoren,
die das Land weiter destabilisieren. Die Arbeitslosenrate
liegt bei 70 Prozent. Bisher hat die US-Regierung
in etwa neun Milliarden Dollar in den Wiederaufbau
des Irak investiert. Doch selbst bei diesen
angeblichen Wiederaufbaukosten handelt es sich
zum größten Teil um Gelder, die in
den Aufbau der irakischen Sicherheitskräfte
geflossen sind. Medizinische Versorgung, schulische
Bildung und die Infrastruktur funktionieren
auf niedrigstem Niveau.
US-Armee
vor unlösbarer Aufgabe
Vor diesem Hintergrund eskaliert
die Lage im Irak zunehmend. Seit Beginn der
Invasion sind fast 2.000 US-Soldaten umgekommen.
Davon 1.850 nach dem offiziellen Ende des Krieges
im Mai 2003. Im Schnitt sterben täglich
mehr als zwei Soldaten der Besatzungsmächte.
Der Plan der Bush-Regierung, die US-Soldaten
aus dem Schussfeld zu nehmen, ging nicht ganz
auf. Durch Aufbau und Förderung irakischer
Sicherheitskräfte sollte das Problem „irakisiert“
werden.
Auch von ihren anderen Zielen entfernen sich
die USA immer mehr. Die Invasion und die Besatzung
des Irak sollte den USA die Kontrolle über
die Rohstoffe im Land bringen. Stattdessen gelingt
es nicht einmal, die Ölproduktion auf das
Niveau der Vorkriegszeit zu steigern. Und das,
obwohl das bis dahin aufrechterhaltene UN-Embargo
dem Irak verboten hatte, Öl im großen
Maße zu verkaufen. Ständige Sabotageaktionen
von Aufständischen bringen die Ölproduktion
immer wieder zum Erliegen.
Es sollte eine Regierung eingesetzt werden,
die die Lage im Griff hat und Politik im Sinne
Washingtons macht. Statt dessen werden nach
wie vor alle Entscheidungen von der US-Besatzung
genehmigt und von stabilen Verhältnissen
kann keine Rede sein. Nicht zuletzt sollte der
Feldzug gegen den Irak dem Rest der Welt die
Übermacht und Konsequenz der Vereinigten
Staaten zeigen. Vielmehr sind für die ganze
Welt nun die Grenzen ihrer Macht sichtbar geworden.
Die Ablehnung und der Hass großer Teile
der irakischen Bevölkerung gegen die Besatzer
nehmen massiv zu. Aber immer häufiger richten
sich die Gewalttaten auch gegen IrakerInnen.
Seit August 2004 kommen monatlich im Schnitt
800 IrakerInnen allein bei Anschlägen ums
Leben. Zudem werden in etwa 2.000 IrakerInnen
pro Monat verletzt. Eine deutliche Zunahme der
Gewalttaten mit einem massiven Anstieg der Opfer
unter der Zivilbevölkerung ist seit dem
30. Januar 2005 zu verzeichnen. Also seit den
Parlamentswahlen, bei denen sich der vom islamischen
Schiitenführer Al Sistani favorisierte
Al Dschafaari durchsetzte. Ein Bürgerkrieg
entlang ethnischer und religiöser Linien
wird immer wahrscheinlicher. Im Zuge dessen
könnte sogar eine Balkanisierung drohen.
Nationalismus
und Islamismus
Zum größten Teil
geht der Widerstand gegenwärtig von der
sunnitischen Minderheit aus. Zentren des Widerstandes
sind überwiegend von SunnitInnen bewohnte
Gebiete und Bagdad. Diese unter Saddam Hussein
gegenüber SchiitInnen und KurdInnen bevorzugte
Volksgruppe macht 20 Prozent der irakischen
Gesamtbevölkerung aus. Der organisierte
Widerstand der SunnitInnen setzt sich überwiegend
aus ehemaligen Regierungs- und Parteimitgliedern
von Saddam Husseins Baath-Partei und aus kleineren
reaktionären radikal-islamistischen Gruppierungen
zusammen. Prominent ist Al Sarkawi, der zur
irakischen Al Qaida gehört.
Wir haben es nicht mit einer Neuauflage der
nationalen Befreiungsbewegungen in Algerien,
Vietnam oder Angola in den sechziger und siebziger
Jahren zu tun. Das gilt sowohl für die
politischen Ziele als auch für die Methoden.
Die Methode dieser Gruppen ist die Bekämpfung
aller, die in irgend einer Form mit der Besatzung
oder der irakischen Regierung zusammenarbeiten.
Dabei sind auch oft Anschläge auf die Infrastruktur
oder das öffentliche Leben für sie
legitime Mittel, um damit das Land um jeden
Preis zu destabilisieren. Weder Ziele noch Methoden
zeigen einen Ausweg für die irakische Arbeiterklasse.
Dennoch kann der Hass gegen die Unterdrückung
durch die Besatzer so stark wachsen, dass sie
eine vorübergehende Anziehungskraft auf
einige Schichten der irakischen SunnitInnen
bekommen. Durch die ständigen Selbstmordanschläge
auf schiitische Moscheen haben auch einige unter
den SchiitInnen begonnen, mit ähnlichen
Methoden zu reagieren.
Aber auch die schiitischen Führer zeigen
mit ihren Methoden keinen Ausweg aus der gegenwärtigen
Situation auf. Sie versuchen durch die Zusammenarbeit
mit den Besatzungsmächten und durch die
Regierungsbildung ihren Einfluss zu erweitern.
Gleichzeitig verfolgen sie öffentlich das
Ziel, ein politisches System ähnlich wie
im Iran zu installieren. Die Ablehnung vieler
gegen die US-geführte Besatzung, wie auch
die Angst vor einer Islamisierung nach dem Vorbild
Irans führt dazu, dass zum Beispiel sunnitisch-militante
Sekten mit einem gewissen Erfolg die SchiitInnen
als Verräter hinstellen können. Außerdem
führt die Zusammenarbeit der schiitischen
Führer mit der Besatzungsmacht nicht zu
einer Verbesserung der sozialen Lage der irakischen
Bevölkerung. Dahinter verbirgt sich lediglich
das Machtinteresse einzelner Ajatollahs, sowie
strategische Überlegungen des Iran.
Die ersten Anzeichen dafür, welche Ausmaße
die gegenwärtigen Entwicklung annehmen
kann, sieht man an einigen Städten, in
denen sowohl SchiitInnen wie auch SunnitInnen
leben. Es gibt Fälle von ethnischen Säuberungen.
Eine langanhaltender bewaffneter Konflikt verbunden
mit einem Kampf um sunnitische, schiitische
und kurdische Territorien könnte sich entwickeln.
Selbstorganisierung
nötig!
Wie kann die Spaltung der verschiedenen
Volksgruppen aufgehalten und der Kampf gegen
Besatzung und kapitalistisches Elend erfolgreich
geführt werden?
Der radikale schiitische Geistliche Muktada
al Sadr ist der einzige bekannte Führer,
der zum gemeinsamen Kampf aller, SchiitInnen,
SunnitInnen und KurdInnen, gegen die Besatzung
aufruft. Damit stellt er eine Ausnahme dar.
Doch auch seine reaktionären Vorstellungen
von einem islamistischen Staat schrecken viele
ab. Die momentanen politischen Führer sind
verstrickt mit den Großgundbesitzern und
den lokalen Kapitalisten. Sie repräsentieren
nicht die Arbeitslosen, ArbeiterInnen, die verarmte
Landbevölkerung und die Jugend, also die
große Mehrheit der Bevölkerung. Die
ethnischen Konflikte, die jetzt heraufbeschworen
werden, existieren im Bewusstsein vieler nicht.
Man geht zum selben Arbeitsplatz. SchiitInnen,
SunnitInnen, ChristInnen und KurdInnen warten
oft in den selben Schlangen und erhalten die
gleichen Lebensmittelrationen. Sie haben die
selben Probleme zu bewältigen, das gleiche
Leid zu ertragen. Diese künstliche Trennung
muss aufgebrochen werden.
Der einzige Ausweg für die irakischen Massen
ist die Selbstorganisierung der Arbeiterklasse
über ethnische, religiöse und Geschlechter-Grenzen
hinweg. Nötig sind demokratisch organisierte
Verteidigungskomitees in den Stadtteilen, um
sich kollektiv für die unmittelbar wichtigsten
Dinge - Arbeit, Lebensmittel und die öffentliche
Daseinsfürsorge - einzusetzen. Es gilt,
Gewerkschaften aufzubauen. Ansätze sind
Streiks wie von den Ölarbeitern in Basra.
Leider klammert die Spitze des Dachverbandes
der Gewerkschaften politische Fragen völlig
aus. Der Kampf für ein sozialistisches
Programm und der Aufbau einer kämpferischen,
multiethnischen Arbeiterpartei wird nicht über
Nacht gelingen, ist aber eine dringende Notwendigkeit.