In
der kurdischen Autonomiezone im Nordirak schaffen
die unterschiedlichen Interessenlagen der US-
Besatzer, der großen regionalen Machtblöcke
KDP und PUK und der Anrainerstaaten ein sich
überlagerndes Bündnis- und Abhängigkeitsgeflecht;
gegenseitige Instrumentalisierung und Erpressung
gehören zum politischen Alltagsgeschäft.
Nur vor diesem Hintergrund ist das Vorgehen
und Taktieren der beteiligten Kräfte bei
der jüngsten Krise nachvollziehbar, die
durch den Einmarsch der Türkei im Nordirak
ausgelöst wurde.Brigitte Kiechle hat sich
im vergangenen Jahr länger in der Region
aufgehalten und mehrere Bücher über
den Irak geschrieben. Für die SoZ hat sie
die nachstehende Analyse zusammengestellt:
In
der Vergangenheit hat die türkische Armee
schon mehrmals die Grenze zum Irak überschritten.
Diesmal hatte ihre Militäroperation jedoch
eine neue Qualität.
Unter Berufung auf das „Selbstverteidigungsrecht
gegenüber Terroristen” ermächtigte
das türkische Parlament am 17.10.2007 die
Regierung, militärisch im Nordirak einzugreifen.
Die türkische Regierung erhielt dafür
für den Zeitraum eines Jahres völlige
Handlungsfreiheit. Ziel der Militärintervention
sollte die Zerschlagung der PKK-Stellungen im
Nordirak sein.
Die Intervention wurde von der US-Besatzung
im Irak nicht nur gebilligt, sondern auch direkt
unterstützt. Die USA haben eng mit der
türkischen Regierung zusammengearbeitet.
Schon beim Besuch des türkischen Premierministers
Erdogan bei US-Präsident Bush im November
letzten Jahres wurde die PKK in einer Abschlusserklärung
zum „gemeinsamen Feind” von USA
und Türkei erklärt, deren Bekämpfung
als Teil des weltweiten „Antiterrorkampfs”
eingestuft. Mit diesem „Gütesiegel”
konnte die Türkei trotz ihres völkerrechtswidrigen
Vorgehens davon ausgehen, dass sie dafür
nicht international verurteilt würde. Vom
US-Geheimdienst, der dafür Satellitenfotos
auswertete, bekam die türkische Armee in
der Folgezeit Informationen über Stützpunkte
der PKK-Guerilla geliefert, um gezielte Luftangriffe
zu ermöglichen.
Vor Ort übten die USA massiven Druck auf
ihre kurdischen Bündnispartner, die Demokratische
Partei Kurdistans (KDP) und die Patriotische
Union Kurdistans (PUK) aus — sie sollten
bei der Bekämpfung der PKK kooperieren
und deren Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten
innerhalb der kurdischen Autonomiezone einschränken.
Nur so könne eine Militärintervention
der Türkei längerfristig verhindert
werden.
Die Bevölkerung sah im Angriff der türkischen
Armee vor allem eine gezielte Destabilisierung
der kurdischen Autonomiezone. Durch die Bombenangriffe
wurden Hunderte von Menschen vertrieben, Dörfer
und die Infrastruktur im Grenzgebiet auf irakischer
Seite zerstört. Mit Menschenketten und
Sitzstreiks blockierten Ortsansässige das
Vorwärtskommen der türkischen Panzer.
Es gab erste Meldungen, Peshmerga-Gruppen hätten
sich der PKK-Guerilla angeschlossen.
Der Druck der Bevölkerung auf die Führung
von KDP und PUK, endlich gegen den türkischen
Vormarsch vorzugehen, wurde zu groß. Die
kurdische Bevölkerung im Nordirak betrachtet
die Guerilleros von der PKK nicht als Terroristen,
sondern als Freiheitskämpfer, und ihren
Kampf um die Rechte der kurdischen Bevölkerung
in der Türkei als legitim. An der Basis
genießt die Solidarität mit dem kurdischen
Befreiungskampf immer noch Vorrang vor taktischen
Absprachen zwischen US-Besatzern und der eigenen
kurdischen Regionalregierung.
Vor diesem Hintergrund forderten die USA die
Türkei bereits wenige Tage nach Beginn
der türkischen Bodenoffensive auf, diese
umgehend zu beenden. Die irakische Regierung
und das kurdische Regionalparlament hatten zuvor
mit einiger zeitlicher Verzögerung die
Grenzüberschreitung verbal verurteilt und
die türkische Armee zum Rückzug aufgefordert.
Demonstranten in mehreren Städten der Autonomiezone
hatten die kurdische Regionalregierung zum Schutz
der Bevölkerung im Grenzgebiet aufgefordert.
Die
Euphorie ist verflogen
Fünf
Jahre nach der Invasion im Irak ist das Land
nach wie vor nicht befriedet im Sinne der US-
Regierung. Die katastrophale Sicherheitslage
ist immer noch das größte Hindernis
für die Realisierung der — vor allem
von US-amerikanischen Unternehmen — erhofften
Gewinne aus dem Wiederaufbaugeschäft, der
Entstaatlichung der irakischen Wirtschaft, des
öffentlichen Dienstleistungssektors und
vor allem des Ölsektors. Steigende Gewinne
verzeichnen nur die Industriezweige, die an
der Fortdauer des Krieges verdienen: die Rüstungsindustrie
und private Sicherheitsfirmen. Die finanziellen
und personellen Kosten des Krieges werden jedoch
immer mehr auch zu einem Stabilitätsrisiko
an der Heimatfront.
Die US-Besatzer sind mehr denn je darauf angewiesen,
dass es im Nordirak vergleichsweise ruhig bleibt,
keine zusätzliche militärische Front
entsteht und die von ihnen unterstützte
Ordnungsmacht, bestehend aus KDP und PUK, die
eng gesetzten Grenzen des Autonomiestatus beachtet
und gleichzeitig die notwendige Disziplinierungskraft
gegenüber der eigenen Bevölkerung
beibehält.
Die US-Armee kann bei der Bekämpfung des
Widerstands auch nicht auf die militärische
Unterstützung der kurdischen Peshmerga-Einheiten
verzichten, die zwischenzeitlich in die Uniform
der irakischen Armee geschlüpft sind. Ein
Abzug der kurdischen Einheiten würde die
Lage im Zentralirak für die US-Besatzer
entscheidend verschlechtern.
Derzeit herrscht im Nordirak eine explosive
Stimmung, die den Interessen der USA sehr zuwiderläuft.
Die Bevölkerung in Irakisch-Kurdistan hat
sich von der „Autonomen Region Kurdistan”
tatsächliche Unabhängigkeit und soziale
Gerechtigkeit versprochen und sieht sich nun
um ihre Ziele betrogen.
Die Spaltung der Gesellschaft in der Nach- Saddam-Ära
in Gewinner und Verlierer wird immer greifbarer.
In den kurdischen Gebieten des Irak ist die
Euphorie nach dem Fall des Baath-Regimes längst
verflogen.
KDP und PUK haben anfänglich versucht,
den auch für die Autonomieregion geltenden
Besatzungsstatus zu verschleiern. Dies gelingt
jedoch immer weniger. Wenn die US-Besatzer ohne
Absprache mit der irakischen Regierung und der
kurdischen Regionalregierung in Erbil den irakischen
Luftraum für türkische Kampfflugzeuge
öffnen, zeigt dies deutlich, wer tatsächlich
Herr im Land ist. Zusammenstöße von
Söldnern und US-Soldaten mit Einheimischen
fachen die Wut der Bevölkerung an. Denn
auch in den kurdischen Gebieten treten die Besatzungstruppen
und ihre Helfer wie Herrscher auf, die sich
jeder Kontrolle und jeglicher Verantwortung
für ihr Handeln entziehen. Heute auf die
Realität der US-Besatzung angesprochen,
ist die überwiegende Mehrheit der kurdischen
Bevölkerung im Nordirak der Auffassung,
es sei gut dass die US-Truppen Saddam gestürzt
hätten, aber dann hätten sie wieder
abziehen sollen.
Eine
abhängige Autonomie
KDP
und PUK haben als Gegenleistung für ihre
Unterstützung der US-Invasion im Irak und
ihre Beteiligung an der Aufstandsbekämpfung
an der Seite der Besatzungstruppen im Zentralirak
den derzeitigen Autonomiestatus zugestanden
bekommen. Diese „Autonomie” ist
jedoch völlig abhängig von den Besatzungstruppen.
Für KDP und PUK ist sie auch noch nicht
der Endpunkt ihrer politischen Vorstellungen.
Im Bewusstsein, dass die USA derzeit keinen
Bruch mit ihren kurdischen Verbündeten
riskieren können, treten sie immer offensiver
für eine gebietsmäßige Erweiterung
der Autonomieregion ein. Auf einer von der kurdischen
Regionalregierung verbreiteten Landkarte reicht
Irakisch-Kurdistan fast bis Bagdad. Besonders
brisant ist die Auseinandersetzung um die Ölregion
Kirkuk, die von kurdischer Seite als „kurdisches
Gebiet” beansprucht wird.
Eine Volksabstimmung soll über die Zugehörigkeit
der Region entscheiden. Im Hinblick darauf versuchen
KDP und PUK zielgerichtet, die Bevölkerungszusammensetzung
in der Region zu ändern. Dabei geht es
nicht nur um die freiwillige Rückkehrmöglichkeit
der von Saddam vormals vertrieben kurdischen
Bevölkerung, sondern auch um Zwangsrücksiedlung
und Vertreibung der arabischen Bevölkerung
in großem Stil.
Auf Druck der US-Besatzer — denen es letztlich
egal ist, wem die Ölregion Kirkuk zugeordnet
wird, Hauptsache es klappt mit dem Abschluss
von lukrativen Erschließungs- und Förderverträgen
für US-amerikanische Firmen — wurde
die Volksabstimmung bereits mehrfach verschoben.
Die Besatzer haben Angst, dass der Konflikt
sowohl im Irak als auch mit dem NATO-Partner
Türkei eskaliert.
Weder die schiitische irakische Regierungsmehrheit
noch die Türkei werden einen Anschluss
der Region Kirkuk an das kurdische Autonomiegebiet
hinnehmen. Die Pläne von KDP und PUK können
damit zu einem Risikofaktor für die US-Interessen
im Irak werden. Obwohl sie KDP und PUK als wichtige
Bündnispartner nicht verprellen wollen,
ist den US-Besatzern daran gelegen, deren weitere
Autonomiepläne zu stoppen und ihren Handlungsspielraum
zu begrenzen.
Warum
stimmten die USA dem Militärschlag zu?
Für
die USA ist die Zusammenarbeit mit dem NATO-Partner
Türkei strategisch genauso wichtig wie
das Bündnis mit KDP und PUK. Ein großer
Teil des Nachschubs an Ausrüstung und Logistik
der Besatzer wird über den türkischen
Hafen Incerlik abgewickelt. Im Gegenzug versichern
die USA der Türkei, dass niemals ein kurdischer
Staat im Nordirak entstehen wird. Auch hinsichtlich
der PKK kamen sie der türkischen Regierung
entgegen: gemeinsam hat man sie — ganz
nach den türkischen Vorstellungen —
als gemeinsamer Feind eingestuft, dem mit allen
Mitteln der Terrorismusbekämpfung zu begegnen
sei.
Hintergrund für dieses Zugeständnis
ist nicht in erster Linie die Interessenlage
der USA im Irak, sondern es sind ihre Kriegspläne
gegenüber dem Iran. Türkei und Iran
haben im letzten Jahr eine enge Zusammenarbeit
vereinbart — unter dem Vorwand, die USA
nutzten ihre Besatzungsrolle nicht ausreichend
zur „Terrorismusbekämpfung”
im Nordirak. Dies Entwicklung kommt der US-Außenpolitik
ungelegen, weil sie ihrem Wunsch zuwiderläuft,
den Iran zu isolieren, und diesen sogar zu einem
wichtigen Verbündeten des NATO-Partners
Türkei macht.
Vor diesem Hintergrund erfüllte die Zustimmung
zur Militäraktion der Türkei auf irakisch-kurdischem
Gebiet für die US-Strategen gleich mehrere
Funktionen: Die Türkei wurde als Bündnispartner
zunächst einmal zufrieden gestellt. Die
türkische Regierung hatte zuvor gedroht,
sie werde die Kriegsunterstützung für
die US-Truppen im Irak einstellen, wenn sich
die USA im Kampf gegen die PKK im Irak nicht
an ihre Seite stellten. Der kurdischen Regionalregierung,
die im Angriff der türkischen Armee vor
allem einen Angriff auf die kurdische Regionalverwaltung
vermutete, wurde sowohl ihre Abhängigkeit
vom „good will” der US-Besatzer
verdeutlicht, als auch die Grenzen ihrer „Autonomie”
aufgezeigt.
Die
Lage in der Region: Ausverkauf zum Schnäppchenpreis
Im
Nachkriegs-Nordirak verschärfen sich die
sozialen Unterschiede, die Infrastruktur welkt
vor sich hin, die Türkei kauft Land und
gründet Schulen und Universitäten,
die ohne die kurdische Sprache auskommen.
Die Stadt Erbil, Sitz des kurdischen Regionalparlaments,
sieht aus wie eine große Baustelle. Überall
werden große Hotelneubauten hochgezogen
und moderne Einkaufzentren gebaut. Am Stadtrand
entstehen bewachte Wohnsiedlungen in US-amerikanischem
Stil, überall sind protzige Villenbauten
zu sehen.
Hinter den Bauprojekten stehen private Geldgeber.
Dabei handelt es sich in der Regel um einflussreiche
Persönlichkeiten aus KDP und PUK, die sozusagen
über Nacht reich geworden sind. Wo das
Geld für die Bauprojekte herkommt, bleibt
im Dunkeln, selbst Parlamentsabgeordnete können
darauf keine Antwort geben. Man spricht von
der Selbstbedienungsmentalität des Barsani-
und Talabani-Clans, von Bodenspekulationen durch
Landverteilungsaktionen der großen Parteien
KDP und PUK, von Korruption und Vetternwirtschaft.
Gleichzeitig wird die Wirtschaft entsprechend
der US-Pläne für den gesamten Irak
nach neoliberalen Vorbildern umgebaut. Ein Transformationsprozess
wurde in Gang gesetzt. Obwohl er noch am Anfang
steht, zeitigt er bereits gravierende gesellschaftliche
Auswirkungen und wirft Fragen der Verteilungsgerechtigkeit
auf.
Das kurdische Autonomiegebiet soll für
ausländische Firmen unter Berücksichtigung
der Vorgaben von IWF und Weltbank geöffnet
werden. Dies bedeutet Privatisierung des öffentlichen
Dienstleistungssektors und der wenigen Produktionsbetriebe
im Land. Diese Entwicklung findet in einer Situation
statt, in der noch nicht einmal ansatzweise
eine Grundversorgung z.B. im Gesundheits- und
Ausbildungssektor gesichert ist. Gebaut werden
nun Privatuniversitäten, Privatkrankenhäuser,
Stromkraftwerke usw. Ausländische Investoren
werden mit Steuerfreiheit und „billigen
inländischen Arbeitskräften”
angelockt. Auf Mindeststandards für Arbeitsbedingungen
wird verzichtet. Es findet keinerlei Wirtschaftskontrolle
oder gar Wirtschaftsentwicklungsplanung statt.
Alles wird dem freien Spiel der Kräfte
überlassen. Kritiker dieser Entwicklung
sprechen bereits vom Ausverkauf des Landes zum
Schnäppchenpreis.
Die
Solidarität schwindet
In
wenigen Jahren hat sich die Schere zwischen
Arm und Reich dramatisch erweitert. Vom vordergründigen
Wirtschaftsaufschwung profitieren nur wenige,
die Mehrheit der Bevölkerung kämpft
angesichts hoher Arbeitslosigkeit (bis zu 50%)
und geringem Einkommen ums tägliche Überleben.
Die Preise für Lebensmittel und Wohnraum
gleichen sich dem EU-Niveau an, die Löhne
liegen unterhalb des Existenzminimums.
Ein Grundschullehrer verdient etwa 150 Dollar
im Monat, ein Wachmann 400 bis 500 Dollar. Arbeitsplätze
gibt es fast nur bei der Polizei, im Sicherheitsgewerbe
oder beim Militär. Wer sich meldet, steht
letztlich auf der Gehaltsliste von KDP oder
PUK und ist somit direkt von den im Autonomiegebiet
bestimmenden Parteien abhängig. Die wirtschaftliche
Not führt damit zu politischer Abhängigkeit.
Jeder weiß, dass er mit öffentlich
geäußerter Kritik an den herrschenden
Regierungsparteien auch seinen Job riskiert.
Die völlig unzureichende soziale Infrastruktur,
der ständige Mangel an Strom und sauberem
Wasser führt immer öfter zu Protestaktionen
wie Streiks, Besetzungen und Demonstrationen.
Die Sicherheitskräfte von KDP und PUK reagieren
mit Repression: Verhaftungen, Knüppel-
und Schusswaffeneinsatz.
Im letzten Jahr ist in mehreren Landesteilen
der kurdischen Autonomieregion die Cholera ausgebrochen.
Die Untätigkeit der Regierung und ihre
beschwichtigenden Erklärungen haben den
Unmut über die Regionalregierung und die
Debatte über die Verwendung der Haushaltsgelder
verschärft. 30% der Wasserleitungen in
Kurdistan müssen dringend erneuert werden.
Ebenso die Wasserspeicher, die oft oben offen
sind. Die Kanalisation ist veraltet, die Müllbeseitigung
schlicht eine Katastrophe. Der Müll wird
teilweise einfach in die Flüsse gekippt.
Mit der Entschuldigung der Behörden, es
fehlten ihnen die finanziellen Mittel zur Sanierung
von Wasserleitungen und Stromnetzen geben sich
die Menschen nicht mehr zufrieden. Die kurdische
Regionalverwaltung erhält von der irakischen
Regierung jedes Jahr etwa 8 Milliarden Dollar
an Ausgleichszahlungen aus den staatlichen Erdöl-
und Steuereinnahmen. Bis heute gibt es keinen
kontrollierbaren Haushaltsplan des kurdischen
Regionalparlaments für die Verwendung der
Gelder.
Wirtschaftlich ist die kurdische Autonomieregion
vollständig von Auslandslieferungen abhängig.
Fast der gesamte Warenverkehr läuft über
die Türkei und den Iran. Wenn die Grenzen
geschlossen werden, spürt man dies rasch
an den fehlenden Lebensmitteln und der Einschränkung
des Warenangebots auf dem Basar. Linksoppositionelle
Kräften fordern deshalb ein sofortiges
Entwicklungsprogramm für die Landwirtschaft
und den Aufbau eigener Produktionsstätten
nach Genossenschaftsmodellen.
Die Gesellschaft, in der in der Vergangenheit
gegenseitige Hilfsbereitschaft der Normalfall
war, beklagt heute einen Entsolidarisierungsprozess.
Jeder ist sich selbst der Nächste und versucht,
im Verteilungskampf ein Stück vom Kuchen
zu erhalten. Es gibt immer mehr Stimmen, die
eine radikale Änderung des wirtschaftlichen
und politischen Kurses fordern und dies mit
der Forderung nach tatsächlicher Demokratie
und Einhaltung der Menschenrechte verbinden.
Nur der äußere Druck und die Angst
der Bevölkerung, selbst der erreichte Autonomiestatus
könnte erneut in Frage gestellt werden,
hat bisher eine soziale Explosion verhindert.
Man befürchtet, innerkurdische Auseinandersetzungen
könnten der kurdisch-nationalen Sache schaden.
Hilfe
vom Islam
Wenn
die soziale Frage und nicht mehr die nationale
Frage in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen rückt, wird dies unmittelbar
Einfluss auf die Integrationsfähigkeit
von KDP und PUK haben. Dann müssen diese
um ihren Einfluss in der kurdischen Bevölkerung
fürchten und werden auch gegenüber
dem US-Besatzer an Gewicht als Bündnispartner
verlieren. Erst vor kurzem wurde eine unabhängige
Organisation mit Namen Hatakay gegründet:
Ihr Ziel ist, eine Million Unterschriften zur
Durchsetzung von Neuwahlen zum kurdischen Regionalparlament
zu sammeln. Auch das ist ein Ausdruck der Unzufriedenheit
mit der Politik der dominierenden Parteien KDP
und PUK.
Der kurdische Ableger der KP Iraks — die
größte linke Kraft in den kurdischen
Gebieten, die über eine gewisse gesellschaftliche
Verankerung verfügt — ist bis jetzt
nicht in der Lage, die Unzufriedenheit aufzugreifen,
in ihrem Sinne zu bündeln und auf ökonomischer
wie politischer Ebene eine Alternative zu entwickeln.
Sie hat die undemokratischen Manöver und
Absprachen bei der Bildung des kurdischen Regionalparlaments
mitgetragen und sich in die Regierungsverantwortung
einbinden lassen, ohne wirklich etwas bewirken
zu können. Ein Parlamentsmitglied der KP
formulierte dies folgendermaßen: Wir sind
in der Regierung, aber wir regieren nicht.
Die soziale Unzufriedenheit versuchen vor allem
islamistische Kräfte zu nutzen, die Verbindungen
zur türkischen Regierungspartei AKP unterhalten.
Türkische Unternehmen mit Verbindungen
zur AKP sind derzeit die größten
Anleger und Landaufkäufer im Nordirak.
Türkische Trägervereine bauen Schulen
und Universitäten, an denen Türkisch
und Englisch, aber nicht Kurdisch unterrichtet
wird. Die Vergabe von Stipendien ermöglicht
auch Nichtvermögenden ein Studium. Mit
„islamischem Geld” wurde außerdem
eine Vielzahl neuer Moscheen in der kurdischen
Autonomieregion gebaut. Islamische Hilfsorganisationen
mit Verbindung zur Türkei kümmern
sich um die Unterstützung der Armen. Mit
Sach- und Geldspenden erreichen sie eine Anbindung
an die religiösen Kräfte. Die Islamisierung
ist in den kurdischen Städten im Nordirak
nicht mehr zu übersehen. Auf politischer
Ebene wird diese Entwicklung durch die Gründung
eines Ablegers der türkischen AKP vorangetrieben.
Die nichtreligiöse Opposition spricht bereits
vom „türkischen Imperialismus”
in den kurdischen Gebieten des Irak und sieht
in dieser Entwicklung die größte
Gefahr für die Zukunft. Insbesondere deshalb,
weil sich mit einer „gemäßigt
islamischen Partei”, die über eine
Basis im kurdischen Autonomiegebiet verfügt,
für die Besatzungsmacht USA neue Bündnisperspektiven
ergeben, die mit den Entwicklungsvorstellungen
der USA für den Gesamtirak kompatibel sind
und dem NATO-Partner Türkei ganz neue Einflussmöglichkeiten
auf die kurdische Autonomiezone eröffnen
würden.
Jeder
Türke ein Soldat!? Widerstand gegen die
Invasion gibt es auch in der Türkei
Allmählich
wird sichtbar, dass es auch in der Türkei
eine Antikriegsstimmung und -bewegung gibt.
Die Kriegskoalition aus AKP, MHP und CHP hat
vor der Militäroperation im Nordirak die
Stimmung in der Türkei ordentlich angeheizt.Die
Medien übernahmen kritiklos die offizielle
Sprachregelung vom „Kampf gegen den Terrorismus”
und einer PKK, die angeblich völlig isoliert
sei. Es sollte so aussehen, als ob die gesamte
Türkei geschlossen hinter dem Kriegskurs
der Regierung steht.
Der Verweis auf den angeblichen Separatismus
und Terrorismus der PKK greift aber nicht mehr.
Auch die türkische Linke, die traditionell
die Einheit der türkischen Arbeiterklasse
betont und der kurdischen Befreiungsbewegung
distanziert gegenübersteht, solidarisierte
sich mit der kurdischen Antikriegsbewegung und
brandmarkte die Großmachtpläne der
Türkei im Nahen Osten.
In den Kurdengebieten gab es Demonstrationen
unter dem Motto „Edi bese — Es reicht!
Schluss mit dem Krieg in Kurdistan!”,
unterstützt von Millionen kurdischer Binnenflüchtlinge
im Westen der Türkei und von der Partei
DTP. Sie forderten den sofortigen Rückzug
der türkischen Armee aus dem Irak, das
Ende der Unterdrückung der Kurden und eine
friedliche Lösung der kurdischen Frage.
Auch Schriftsteller und Intellektuelle forderten
die Regierung zum Kurswechsel auf. Wenn nun
die alten Spaltungslinien zwischen der kurdischen
Bewegung und der Linken dauerhaft aufbrechen,
wird das die Opposition zweifellos stärken.
Fatal für die Kriegstreiber in der Türkei
ist jedoch der Stimmungswandel im bürgerlichen
Lager. Kennzeichnend dafür ist das mutige
Auftreten der bekannten Schlagersängerin
Bülent Ersoy. Zur besten Sendezeit in einer
der beliebtesten Fernsehshows sprach sie sich
gegen die Militäroperation aus und kritisierte
falsches Heldentum und Kriegsverherrlichung:
„Immer dieselben Klischees, immer dasselbe
Geschwätz, Kinder sterben, es gibt Blut,
Tränen, Tote ... und dann diese hohlen
Worte von Ehre und Vaterland. Für diesen
Krieg würde ich mein Kind nicht unter die
Erde schicken!” Das löste eine heftige
Debatte aus. Die Sängerin wurde prompt
wegen „Entfremdung des Volkes vom Militärdienst”
angeklagt, wofür es drei Jahre Haft gibt.
Viele bekannte Frauen in der Türkei —
Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Sängerinnen,
Journalistinnen — schlossen sich Bülent
Ersoys Aufruf nach einer friedlichen Lösung
der kurdischen Frage an.
Die Armee trug selbst zur wachsenden Antikriegsstimmung
bei. Bei Kämpfen zwischen der türkischen
Armee und der Guerilla der PKK im türkisch-irakischen
Grenzgebiet nahm die Guerilla acht Soldaten
gefangen, zwölf starben. Als die Gefangenen
freigelassen wurden, freuten sich die Militärführung
und die türkische Regierung keineswegs
mit den Familien der Soldaten darüber,
dass sie noch am Leben sind; sie warfen ihnen
im Gegenteil „Befehlsverweigerung und
Zusammenarbeit mit dem Feind” vor. Sie
hätten sich lieber selbst töten sollen,
als in Gefangenschaft zu geraten. Nun sind sie
in Haft und es droht ihnen einen mehrjährige
Gefängnisstrafe.
Kritik gibt es auch an den Kosten der Kriegsoperation,
die Sinnhaftigkeit der gesamten Aktion wird
in Frage gestellt. Der plötzliche Rückzug
der türkischen Armee ist nicht vermittelbar.
Warum wurde die Operation abgebrochen, wo doch
die Armee angeblich so erfolgreich war? Was
ist tatsächlich passiert? Die Militärs
werden zunehmend unglaubwürdig. Selbst
wenn nur ein Teil der kurdischen Medienberichte
zutrifft, war diese Winteroffensive für
die türkische Armee ein Desaster. Wegen
des schlechten Wetters und meterhohem Schnee
kam sie nur mühsam vorwärts, viele
Soldaten sind erfroren.
Die PKK-Guerilla leistete offensichtlich unerwartet
starken und erfolgreichen Widerstand. Deshalb
erhält die Forderung nach einer friedlichen
Lösung der kurdischen Frage auch in bisher
staatstreuen Gesellschaftsschichten Unterstützung.
Militärs und Regierung halten unbeirrt
an einer militärischen Lösung fest.
Eine Entspannung der Situation in den Kurdengebieten
ist nicht in Sicht. Ob eine Kursänderung
möglich wird, hängt u.a. davon ab,
ob es den Kriegskritikern in der Türkei
gelingt, die Bewegung für eine friedliche
Lösung zu stärken und ein Verständnis
dafür zu entwickeln, dass die kurdische
Frage nicht nur eine Angelegenheit der kurdischen
Bevölkerung ist, sondern eine politische
Kernfrage für jede fortschrittliche und
linke Bewegung in der Türkei. |