Die
meisten Betrachter der entwickelten kapitalistischen
Länder Mitte der 60er Jahre glaubten, das
System habe seine Probleme aus der Zwischenkriegszeit
abgeschüttelt. Es wurde nicht mehr von
immer tieferen Krisen, endloser wirtschaftlicher
Ungewissheit und politischer Polarisation zwischen
revolutionärer Linken und faschistischer
Rechten geplagt.
Der deutschamerikanische "Marxist"
Herbert Marcuse schrieb, dass „ein übergeordnetes
Interesse am Erhalt und der Verbesserung des
institutionellen Status quo die einstigen Widersacher
[die Bourgeoisie und das Proletariat] auf den
fortgeschrittendsten gesellschaftlichen Gebieten"
vereinige.
Es hatte den Anschein, als
sei die Geschichte oder zumindest die Geschichte
der Klassenkämpfe an ihr Ende gelangt -
außer vielleicht in der Dritten Welt.
Aber eine Serie sozialer Unruhen und erbitterter
Streiks kennzeichnete die Zeit ab Mitte der
60er Jahre. Weit entfernt von ihrem Ende legte
die Geschichte an Fahrt zu.
1968:
Der plötzliche Klang der Freiheit
Für gewöhnlich bezeichnet
man das Jahr 1968 als das 'Jahr der Studentenrevolte‘.
Es war wirklich ein Jahr, das studentische Proteste,
Demonstrationen und Besetzungen auf der ganzen
Welt erlebte - in Westberlin, New York und Harvard,
Warschau und Prag, Mexiko City und Rom. Aber
in dem Jahr ereignete sich weit mehr als das.
Es wurde Zeuge vom Höhepunkt der Revolte
schwarzer Amerikaner, dem größten
Schlag gegen das Ansehen des US-Militärs
(in Vietnam), dem Widerstand gegen russische
Truppen (in der Tschechoslowakei), dem größten
Generalstreik der Weltgeschichte (in Frankreich),
dem Anfang einer Welle von Arbeiterkämpfen,
die die italienische Gesellschaft noch sieben
Jahre lang erschüttern sollte, und des
Beginns der später 'Troubles‘ genannten
Kämpfe in Nordirland. Die Studentenkämpfe
bildeten ein Symptom für den Zusammenstoß
größerer sozialer Kräfte, auch
wenn sie auf diese zurückwirken und sie
beeinflussen sollten.
Die
Ausbrüche von 1968 waren ein Schock, weil
die Gesellschaften, in denen sie auftraten,
einen so stabilen Anschein erweckt hatten. Der
McCarthyanismus hatte die Linke zerstört,
die in den 30er Jahren in den USA existiert
hatte, und die Gewerkschaftsführer des
Landes waren notorisch bürokratisch und
konservativ. Die Tschechoslowakei war das florierendste
der osteuropäischen Länder und wurde
am wenigsten von den Unruhen von 1956 beeinträchtigt.
Frankreich stand seit zehn Jahren fest unter
der diktatorischen Herrschaft de Gaulles, die
Linke schnitt in Wahlen schlecht ab, und die
Gewerkschaften waren schwach. In Italien kamen
und gingen die Regierungen, aber sie wurden
immer von Christdemokraten geführt, die
sich auf die katholische Kirche stützten,
um das Volk zu ihren Gunsten an die Urnen zu
locken.
Ein
Großteil der Stabilität war dem Wirtschaftswachstum
geschuldet, das diese Länder erfahren hatten.
Aber allein dieses Wachstum schuf Kräfte,
die die Stabilität unterhöhlten, und
diese Kräfte ließen die politischen
und ideologischen Strukturen 1968 platzen.
In
den USA stand die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung
zu Beginn des großen Booms da, wo sie
am Ende der Sklaverei stand - sie war Teilpächter
von Farmen im ländlichen Süden, wo
der lokale Staat und die weißen Rassisten
das Gewehr, die Peitsche und den Strick einsetzten,
um sie zur Akzeptanz ihrer untergeordneten Position
zu zwingen. Der Boom beschleunigte das Abwandern
in die Städte, um dort Arbeit in der Industrie
zu finden. 1960 waren drei Viertel der Schwarzen
Städter. Schon die zahlenmäßige
Konzentration ließ das Selbstvertrauen
entstehen, mit dem sie sich gegen die Rassisten
und den Staat erhoben. 1955 entfachte die Weigerung
einer schwarzen Frau, Rosa Parks, sich in den
Trennbereich im hinteren Bus zu setzen, einen
gewaltigen Busboykott, der die alten Machtstrukturen
Montgomerys, Alabama, erschütterte. 1965,
1966 und 1967 ereigneten sich schwarze Aufstände
in den nördlichen Städten wie Los
Angeles, Newark und Detroit. 1968 ging nach
der Ermordung Martin Luther Kings buchstäblich
jedes Ghetto im Land in Rauch auf, und ein Großteil
der schwarzen Jugendlichen identifizierte sich
zunehmend mit der Partei der Black Panther,
die zu bewaffneter Selbstverteidigung und zur
Revolution aufrief.
Das
Vermögen der existierenden Ordnung in Frankreich
und Italien zur Selbststabilisierung Ende der
40er Jahre - und im faschistischen Spanien und
Portugal zur eigenen Erhaltung - beruhte auf
dem Umstand, dass ein großer Anteil der
Menschen dieser Länder immer noch Kleinbauern
waren, die man zur Unterstützung des Status
quo schmieren oder zwingen konnte. Der ideologische
Ausdruck dessen war der Druck, den die hochkonservative
katholische Kirche in vielen Regionen ausübte.
Der lange Boom veränderte das. 1968 konzentrierten
sich eine große Zahl Männer und Frauen
mit bäuerlichem Hintergrund in den Fabriken
und anderen großen Arbeitsstätten
der Länder Südeuropas. Zunächst
neigten sie zur Aufrechterhaltung ihrer ländlichen
Vorurteile, widersetzten sich dem Beitritt in
die Gewerkschaften oder unterstützten die
konservativen katholischen Arbeitnehmervertretungen.
Aber sie waren mit derselben Lage konfrontiert
wie die älteren Gruppen Arbeiter, die sich
noch an die Kämpfe der 30er Jahre und an
die großen Streiks gegen Ende des Krieges
erinnerten - mit dem unaufhörlichen Anhalten
zu härterer Arbeit, der Schikane durch
Vorbeiter und Manager und dem Druck auf die
Löhne durch steigende Preise. 1968 und
1969 sollten sie sich zu einer mächtigen
Kraft verschmelzen, die das System bedrohte.
Die
Stabilität der Tschechoslowakei Mitte der
50er Jahre war ebenfalls das Ergebnis einer
boomenden Wirtschaft. Ein Wachstum von etwa
sieben Prozent im Jahr hatte der herrschenden
Bürokratie Zuversicht verliehen und eine
beträchtliche Erhöhung der Reallöhne
ermöglicht. Anfang der 60er Jahre erschöpfte
sich die Wachstumsrate und führte zum Aufbau
von Frustrationen auf jeder Gesellschaftsebene
und zu Spaltungen in der herrschenden Bürokratie.
Führende Parteifiguren zwangen den Präsidenten
und Parteisekretär Nowotny zum Rücktritt.
Intellektuelle und Studenten ergriffen die Möglichkeit,
sich zum ersten Mal innerhalb der vergangenen
20 Jahre frei zu äußern. Der gesamte
Zensurapparat brach zusammen, und die Polizei
erweckte auf einmal den Anschein, dem wachsenden
Unmut keinen Einhalt bieten zu können.
Die Studenten bildeten einen freien Studentenverband,
die Arbeiter begannen, staatlich bestimmte Gewerkschaftsführer
abzusetzen, Minister wurden im Fernsehen für
ihre Politik in die Mangel genommen, und eine
öffentliche Diskussion über die Schrecken
der stalinistischen Ära entfaltete sich.
Für die Herrscher Russlands ging das zu
weit. Im August 1968 entsandten sie eine gewaltige
Zahl Truppen in das Land und verschleppten Schlüsselfiguren
der Regierung in die Haft nach Moskau.
|
1968
- Russische Panzer in Prag |
Sie
waren davon ausgegangen, den Unmut über
Nacht zerschlagen zu können, aber die direkte
Auswirkung war seine Vertiefung und Ausweitung.
Gegen die russischen Panzer gab es nur begrenzte
physische Gegenwehr, aber einen gewaltigen passiven
Widerstand. Russland sah sich gezwungen, der
tschechoslowakischen Regierung die Heimkehr
gegen das Versprechen zu gestatten, die Unruhe
unter Kontrolle zu bringen. Es sollte neun Monate
dauern, in die immer wieder Streiks und Demonstrationen
fielen, bis dieses Versprechen eingelöst
wurde. Schließlich gelang es Russland,
eine Marionettenregierung zu installieren,
die die offene Opposition zum Schweigen brachte,
indem sie den Menschen ihren Arbeitsplatz nahm
und sie in einigen Fällen verhaftete. Der
stalinistische Staatskapitalismus sollte die
Tschechoslowakei für weitere 20 Jahre beherrschen.
Bratislava
1968
Nun
war der ideologische Schaden für das stalinistische
System gewaltig. International belebte das Geschehen
wieder die Zweifel, die die Menschen in der
Linken 1956 gefühlt hatten. Die meisten
Kommunistischen Parteien Westeuropas verurteilten
die russische Besatzung, wenn auch nur zur Erleichterung
der Zusamenarbeit mit den sozialdemokratischen
und mittelständischen Politkräften
in ihrem Heimatland. Unter den Jugendlichen,
die sich nach links bewegten, wurde es zum Gemeinplatz,
den „Imperialismus Ost wie West"
zu veuteilen. In Osteurpa einschließlich
der Tschechoslowakei war die Mitgliedschaft
in den herrschenden Parteien immer weniger mit
irgendeiner ideologischen Überzeugung verbunden
- der Eintritt in die Partei bildete einen Schritt
in der Karriere, nicht mehr und auch nicht weniger.
Selbst
die Probleme, denen die USA in Vietnam gegenüberstanden,
wurden in gewisser Weise vom langen Boom erzeugt.
Die Tet-Offensive war es, die den Krieg 1968
auf die Mitte der Weltbühne rückte.
Aber Tet stellte nicht die durchschlagende Niederlage
der US-Streitkräfte dar. Damals brüsteten
sich die Vereinigten Staaten mit der Rückeroberung
der Kontrolle über die Städte - obwohl
ein General sich in einem Fall zum Eingeständnis
gezwungen sah: „Wir mussten die Stadt
vernichten, um sie zu retten." Tet bildete
den Wendepunkt im Krieg, weil er Schlüsselbereiche
des großen Geldes davon überzeugte,
dass die USA einfach nicht die Kosten aufbringen
konnten, die die Aufrechterhaltung der Kontrolle
über das Land erforderte. Die USA gaben
für den Krieg nicht mehr aus, als sie es
in Korea getan hatten. Aber der inzwischen eingesetzte
Boom hatte den Aufstieg des japanischen und
des deutschen Kapitalismus miterlebt, und die
Vereinigten Staaten konnten es sich nicht leisten,
sich den Herausforderungen ihrer wirtschaftlichen
Konkurrenz zu stellen und gleichzeitig die Kosten
eines Landkrieges in Vietnam zu bezahlen. Wie
die Dinge standen, verhinderte der Krieg Präsident
Johnsons Projekt eines 'Great Society‘-Programms
von Sozialausgaben, von dem er sich Ansehen
und für die USA langfristige Stabilität
erhoffte.
Schließlich
hatte der lange Boom in allen fortgeschrittenen
kapitalistischen Ländern zu einer gewaltigen
Zunahme der Studentenzahlen geführt. Überall
förderte der Staat eine erhebliche Ausweitung
der höheren Bildung, weil er versuchte,
die Konkurrenzfähigkeit seines nationalen
Kapitalismus zu stärken. In Britannien,
wo es während des Ausbruchs des Zweiten
Weltkrieges 69.000 Studenten gab, waren es 1964
fast 300.000. Das Wachstum erzeugte auch einen
qualitativen Wandel in der Zusammensetzung der
Studentenschaft. Stammte sie in der Vergangenheit
überwiegend aus der herrschenden Klasse
und ihrem Anhang, sollte sie sich nun hauptsächlich
aus Kindern des Mittelstandes und in geringerem
Maße der Arbeiterklasse rekrutieren. Die
Universitäten, an denen die Masse der Studenten
studierte, waren zunehmend groß und nach
gleichem Muster gebaut und konzentrierten die
Studenten auf dieselbe Weise, wie die Arbeiter
in den Betrieben konzentriert wurden. Die Studentenaktivisten
im kalifornischen Berkeley beklagten sich über
diese „Wissensfabriken".
An
diesen Orten kamen die Studenten nur drei oder
vier Jahre zusammen, ehe sie sich zu äußerst
unterschiedlichen Klassenpositionen in der breiteren
Gesellschaft begaben. Aber die Lage, in der
sie sich wiederfanden, konnte eine Gefühls-
und Interessensgemeinschaft hervorbringen, die
sie zu kollektivem Handeln veranlassen konnte.
Etwas anderes konnte dieselbe Wirkung erzeugen
- die ideologischen Spannungen in der breiteren
Gesellschaft. In konzentrierter Form existierten
diese in einem Milieu, in dem von Tausenden
Jugendlichen - als Studenten der Soziologie,
Literatur-, Geschichts- oder Wirtschaftswissenschaften
- erwartet wurde, ideologische Themen aufzunehmen
und wiederzugeben.
Das
bedeutete, dass die Fragen, die die breitere
Gesellschaft aufwarf, an den Universitäten
explosiv werden konnten. So entstanden die Studentenkämpfe
in Berlin während eines Staatsbesuches
des despotischen Schahs von Iran aus der Ermordung
eines Demonstranten durch die Polizei heraus,
in den USA aus den Schrecken des Krieges gegen
Vietnam und aus der Solidarität mit den
Kämpfen der Schwarzen, in Polen aus den
Protesten gegen die Verhaftung von Regimekritikern,
in der Tschechoslowakei als Teil des Widerstandes
gegen die russische Besatzung.
|
Paris
1968 |
Kämpfe,
die sich an Studentenfragen entzündet hatten,
verallgemeinerten sich rasant, bis sie den Gesamtcharakter
der Gesellschaft in Angriff nahmen. Am dramatischsten
zeigte sich das in Frankreich. Auf kleine Studentenproteste
gegen die Lernbedingungen reagierten die Behörden
mit der Schließung der ganzen Universität
Paris und der Entsendung der Polizei. Entsetzt
von der Polizeigewalt beteiligte sich eine zunehmende
Zahl Studenten an den Protesten, bis die Polizei
in der 'Nacht der Barrikaden‘ (am 10.
Mai) kurzfristig aus den linken Stadtteilen
vertrieben wurde. Die Studentenbewegung stand
schnell als Symbol für den erfolgreichen
Widerstand gegen die gesamte Ordnung, über
die de Gaulle mit seinen autoritären Methoden
und seiner Bereitschaft herrschte, bewaffnete
Polizei zur Zerschlagung von Streiks und Protesten
einzusetzen. Als Reaktion auf den Druck von
unten riefen die Führer der rivalisierenden
Gewerkschaften zu einem eintägigen Generalstreik
am 13. Mai auf - und waren selbst von der Beteiligung
überrascht. Durch den Erfolg des Generalstreiks
ermutigt begannen jugendliche Arbeiter am nächsten
Tag mit der Besetzung des Sud Aviation-Betriebes
in Nantes. Andere Arbeiter folgten dem Beispiel,
und innerhalb zweier Tage durchlief das ganze
Land eine Wiederholung der Besetzungen von 1936
- allerdings in viel größerem Maßstab.
Zwei Wochen war die Regierung wie gelähmt,
und der Großteil der Berichterstattung
in den Medien, die weiterhin erschienen, drehte
sich um die zutage tretende 'Revolution‘.
Ein völlig verzweifelter de Gaulle floh
unter Geheimhaltung zu den Generälen, die
die französischen Streitkräfte in
Deutschland kommandierten, nur um mitgeteilt
zu bekommen, es sei seine Aufgabe, die Agitation
zu beenden. Das schaffte er schließlich,
weil den Gewerkschaften und vor allem der Kommunistischen
Partei die Zusicherung von Lohnerhöhungen
und einer neuen Wahl aureichte, um die Menschen
zur Rückkehr an die Arbeit zu drängen.
|
Paris
1968, Manifestation der Arbeiter |
Berlin
1968
Selbst
vor den Maiereignissen führte die Ausweitung
der internationalen Studentenkämpfe zu
einer Popularität der revolutionären
Sprache. Aber bis zum Mai stand eine derartige
Sprache unter dem Einfluss von den Vorstellungen
von Menschen wie Herbert Marcuse, die Abschied
von den Arbeitern genommen hatten. Das veränderte
der Mai. Von da an herrschte eine wachsende
Neigung vor, eine Verbindung zum Geschehen in
den Jahren 1848, 1871, 1917 und 1936 herzustellen
- und manchmal zu den Ereignissen von 1956.
Marxistische Ideen, die 20 Jahre oder mehr dazu
verdammt waren, eine Randexitenz im etablierten
Geistesleben im Weten zu fristen, kamen
plötzlich in Mode. Und 30 Jahre später
sollten alternde Intellektuelle in der gesamten
westlichen Welt noch immer von den Auswirkungen
'der Sechziger‘ schwärmen oder sie
beklagen.
|
Berlin,
1968 - aus einer Reihe von APO-Polit-Postkarten
1967/68 |
Nicht
nur die Kultur im engen intellektuellen Sinn
wurde von 1968 beeinflusst. So geschah es auch
vielen Elementen der breiteren 'Massen‘-
oder 'Jugend‘-Kultur. Die Vorurteile,
mit denen Jugendliche aufwachsen, wurden in
Frage gestellt. Es kam zu radikalen Veränderungen
in der Kleidung und dem Haarschnitt und der
breiten Übernahme von Mode, die bisher
nur mit Minderheiten der 'Subkultur‘ in
Verbindung gebracht wurde. Der Konsum von Drogen
(hauptsächlich Marihuana, Amphetaminen
und LSD) fand weite Verbreitung. Wichtiger noch,
eine wachsende Zahl Hollywoodfilme stellte den
Amerikanischen Traum eher in Frage als ihn zu
propagieren, und die Pop-Musik griff zunehmend
andere Themen auf als sexuelles Verlangen und
romantische Liebe.
In
den Vereinigten Staaten ebneten die ursprünglichen
'Bewegungen‘ - die Bürgerrechts-
und Black Liberation-Bewegung, die Antikriegs-
und die Studentenbewegung - anderen Bewegungen
den Weg. Sie inspirierten die Indianer, den
Kampf gegen ihre Unterdrückung aufzunehmen,
und die Homosexuellen in New York, sich gegen
die Überfälle auf ihre Clubs zu wehren.
Die Erfahrung der Bewegungen brachte auch Tausende
Frauen dazu, die untergeordnete Rolle abzulehnen,
die ihnen in der US-Gesellschaft zugeteilt war
- und viel zu oft auch innerhalb der Bewegungen.
Sie gründeten die Women's Liberation Movement
und erhoben Forderungen, die die Unterdrückung
hinterfragten, die die Frauen seit Entstehung
der Klassengesellschaften zu erleiden hatten,
womit sie auf den Widerhall bei jenen Frauen
stießen, die keine direkte Verbindung
zur Bewegung besaßen. Der Umstand, dass
die Mehrheit der Frauen allmählich ein
Leben lang zur berufstätigen Arbeitskraft
gehörte und die damit verbundene Unabhängigkeit
genoss, verschaffte sich Ausdruck.
Die
neue Sackgasse
Die
Welle der Radikalisierung verebbte nicht 1968.
Die größten Studentenproteste in
den USA ereigneten sich 1970. Nachdem Truppen
der Nationalgarde Studenten an der Kent State
University in Ohio erschossen hatten, weil sie
gegen Präsident Nixons Ausweitung des Vietnamkrieges
nach Kambodscha demonstriert hatten, wurden
im ganzen Land Universitäten besetzt. In
Griechenland brach die Studentenbewegung 1973
mit der Besetzung des Polytechnicums in Athen
aus, die die Militärjunta erschütterte,
welche das Land sechs Jahre lang beherrscht
hatte, und zu deren Sturz sieben Monate später
beitrug. In Westdeutschland stachen die Universitäten
noch weitere Jahre als Ghettos für linke
(hauptsächlich maoistische) Agitation inmitten
eines sonst apolitischen Landes hervor.
|
Beim
Kent-State-Massaker wurden am 4. Mai 1970
an der Kent State University in den USA
vier Studenten erschossen, und neun teils
schwer verletzt, als die Nationalgarde
während einer Demonstration gegen
den Vietnamkrieg das Feuer auf die Menge
unbewaffneter Demonstranten eröffnete. |
Trotzdem
kam es nach 1968 in verschiedenen Ländern
zu bedeutenden Verlagerungen. Die Studenten
bildeten nicht mehr das Zentrum der linken Opposition.
In Italien wurde die Arbeiterbewegung nach dem
'Heißen Herbst‘ von 1969 ausschlaggebend,
als die Metallarbeiter ihre Betriebe während
Lohnkämpfen besetzten. Auch in Spanien
spielte die Arbeiterbewegung Ende des Jahres
1970 die zentrale Rolle und schwächte so
das Regime in den letzten Jahren im Leben Francos,
das seine Nachfolger fast schon im Moment seines
Sterbens 1975 im Eilschritt 'demokratischen‘
Reformen unterzogen. In Britannien beschädigte
die gewerkschaftliche Aktivität, die gegen
den Willen der Gewerkschaftsführer stattfand,
die konservative Regierung Edward Heath's so
nachhaltig, dass er Anfang 1974 eine Wahl unter
dem Titel „Wer hat das Sagen im Land?"
anberaumte - und unterlag.
Beizeiten
vermochten die Studenten Kämpfe zu entfachen,
die die Arbeiter einschlossen, aber wie die
Kämpfe endeten, hing von den Arbeiterorganisationen
ab. Deutlich zeigte sich das im französischen
Mai 1968, als es den Gewerkschaften und der
Kommunistischen Partei gelang, den Generalstreik
trotz der Einwände des bekanntesten Studentenführers
zu beenden. 1975-76 zeigte sich das wieder in
Italien, Britannien und Spanien. Die italienischen
Christdemokraten, die britischen Konservativen
und Franco in Spanien konnten die Arbeiterkämpfe
nicht selbst drosseln. Das gelang Regierungen
nur mit der Unterzeichnung von Vereinbarungen
mit den Gewerkschaftsführern und Arbeiterparteien
- was in Italien als 'historischer Kompromiss‘,
in Britannien als 'Sozialvertrag‘ und
in Spanien als 'Moncloa-Pakt‘ bezeichnet
wurde.
Noch
während der lange Boom sich seinem Ende
neigte, wirkte sich das in jedem einzelnen Fall
als Eindämmung der Aktionen der Arbeiterklasse
aus und veringerte die Aufmerksamkeit der Menschen,
als man zum K.o.-Schlag gegen sie ausholte.
Auch
in einer weiteren Weltregion führte der
studentische Radikalismus Ende der 60er Jahre
zu einer Welle von Arbeiterkämpfen in den
70ern - dem südlichen 'Zapfen‘ Lateinamerikas.
Die späten 60er Jahre erlebten einen Beinahe-Aufstand
im argentinischen Cordoba mit, und eine Welle
Landbesetzungen setzte den christdemokratischen
Präsidenten Chiles unter Druck. In beiden
Fällen wurde das Verlangen nach Veränderung
in verfassungsmäßige Bahnen gelenkt.
In
Argentinien konzentrierte es sich auf die Forderung
nach der Rückkehr des Nachkriegsdiktators
Peron aus dem Exil. Er hatte in einer Zeit geherrscht,
als sich die hohen Weltmarktpreise für
argentinische Landwirtschaftsexporte in relativ
hohen Löhnen und einer Sozialfürsorge
für die Arbeiter niederschlugen. Die Menschen
hofften, seine Rückkehr würde auch
die gute alte Zeit zurückbringen. Diese
Botschaft wiederholten die rivalisierenden linken
und rechten Peron-Anhänger - und selbst
eine mächtige Stadtguerilla-Organisation,
die Montoneros. Seine schließliche Rückkehr
brachte allerdings keine Verbesserungen für
die Arbeiter, sondern entfesselte einen Angriff
durch die Rechte und das Militär, der die
Linke völlig unvorbereitet traf. Nach Perons
Tod fühlte das Militär sich stark
genug, die Macht direkt in die eigenen Hände
zu nehmen. Eine ganze Generation linker Aktivisten,
deren Zahl in die Zehntausende ging, wurde ermordet
oder 'verschwand‘ einfach.
In
Chile war die parlamentarische Sozialistische
Partei Nutznießerin der neuen Radikalität.
Salvador Allende, einer ihrer Führer, wurde
1970 zum Präsidenten gewählt, und
die rechte Parlamentsmehrheit gab seiner Amtsübernahme
ihre Zustimmung gegen eine verfassungsmäßige
Garantie, dass er die militärische Befehlskette
nicht antasten würde. Wichtige Geschäftslobbyisten
aus den USA wollten sich damit nicht zufriedengeben,
und nach zwei Jahren von Allendes Amtszeit gesellten
sich ihnen die ausschlaggebenden Teile der chilenischen
herrschenden Klasse hinzu. Ein Versuch, ihn
durch einen 'Streik der Bosse‘ zum Rücktritt
zu zwingen, wurde 1972 von den Lastwagenbesitzern
angeführt. Die Arbeiter vereitelten ihn
mit der Übernahme der Fabriken und der
Errichtung von cordones - die den Arbeiterräten
von 1917 und 1956 ähnelten -, die als Bindeglieder
zwischen den Fabriken fungierten. Ein Putschversuch
im Juni 1973 scheiterte an Spaltungen innerhalb
der Streitkräfte und an massiven Protesten
auf der Straße. Aber die Kommunistische
Partei und bedeutende Bereiche der Sozialistischen
Partei wiesen die Menschen an, die cordones
herunterzufahren und der 'Verfassungstreue‘
der Armee zu vertrauen. Im Glauben, er beschwichtige
damit die Rechte und erhalte gleichzeitig die
Ordnung aufrecht, nahm Allende Generäle
einschließlich Augusto Pinochet in seine
Regierung auf. Im September inszenierte Pinochet
einen Putsch, bombardierte Allende in seinem
Präsidentenpalast und ermordete Tausende
Arbeiteraktivisten. Während die Arbeiterbewegung
in Europa von ihren eigenen Führern in
den Schlaf gewiegt wurde, wurde sie in Lateinamerika
in Blut ertränkt.
Die
1968 entzündete Flamme sollte noch einmal
in Europa aufflackern. Seit Ende der 20er Jahre
war Portugal eine Diktatur mit faschistischen
Charakterzügen. Aber Mitte der 70er verlor
es den Krieg zur Kontrolle seiner afrikanischen
Kolonien. Im April 1974 stürzte ein Putsch
den Diktator Caetano und ersetzte ihn durch
Spinola, einen konservativen General, den die
wichtigen Monopole des Landes unterstützten
und der eine Regelung der Kriege aushandeln
wollte.
Der
Zusammenbruch der Diktatur setzte eine wahre
Kampfeswelle frei. Die großen Werften
von Lisnave und Setnave wurden besetzt. Bäcker,
Post- und Flughafenarbeiter traten in Streik.
Viele Armeegeneräle, die das Risiko der
Putschorganisation getragen hatten, waren viel
radikaler als Spinola und verlangten die sofortige
Beendigung des Krieges, während Spinola
ihn in die Länge ziehen wollte, bis die
Befreiungsbewegungen die Bedingungen akzeptierten,
die die portugiesischen Geschäftsinteressen
wahren sollten. Die einzig angemessen organisierte
Untergrundpartei war die Kommunistische Partei.
Ihre Führer schlossen einen Pakt mit Spinola
zur Beilegung der Streiks (womit sie sich das
Misstrauen der meisten mächtigen Arbeitergruppen
im Bezirk Lissabon einhandelten), traten der
Regierung bei und versuchten, ihre mittelständischen
Anhänger in einflussreiche Positionen innerhalb
der Streitkräfte und der Medien zu hieven.
Ihr Ziel bestand im eigenen Machtzuwachs durch
einen Balanceakt zwischen den Arbeitern und
den Generälen, bis sie stark genug waren,
ein Regime zu installieren, das dem Muster Osteuropas
nach dem Krieg folgte.
Das
stellte sich allerdings als undurchführbares
Manöver heraus. Die Kommunistische Partei
konnte die Militanz der Lissabonner Arbeiter
nicht ersticken, die Unzufriedenheit in der
Armee, die zum Wachstum der linken Kräfte
führte, nicht beenden und die Panik innerhalb
des westlichen Kapitalismus angesichts der revolutionären
Ereignisse an seiner Türschwelle nicht
beruhigen.
Zwei
gescheiterte rechte Putschversuche führten
zur Amtsenthebung Spinolas und zu einer weiteren
Radikalisierung der Arbeiter und Armeeränge.
Mit Unterstützung der CIA und der sozialdemokratischen
Regierungen Westeuropas organisierte die Rechte
eine Serie von Beinahe-Aufständen im ländlichen
Portugal. Die Armeegeneräle, die tatsächlich
die militärische Macht ausübten, pendelten
von einer politischen Option zur nächsten.
Im November 1975 gelang es einem ranghohen Offizier
mit sozialdemokratischem Hintergrund, die linken
Offiziere zu einem halbherzigen Versuch der
Machtübernahme zu provozieren, den er als
Rechtfertigung benutzte, mehrere hundert disziplinierte
Truppen nach Lissabon in Marsch zu setzen, um
die unzufriedenen Regimenter zu entwaffnen.
Die Kommunistische Partei, die noch vor ein
paar Wochen - als ein ihr nahestehender Offizier
das Amt des Premierministers bekleidete - einen
so machtvollen Anschein erweckt hatte, unternahm
keinen Versuch zur Organisation des Widerstandes
der Arbeiter. Eine Revolution, die den Führern
des europäischen und amerikanischen Kapitalismus
im Sommer 1975 Sorgen bereitet hatte, nahm ihre
Niederlage im Herbst mit kaum vernehmbarem Murren
hin.
A
hard rain
Der
lange Boom fand im Herbst 1973 sein abruptes
Ende, als die Wirtschaftssysteme des Westens
zum ersten Mal seit den 30er Jahren gleichzeitig
in eine Krise eintraten und die Arbeitslosigkeit
sich verdoppelte. Das reichte aus, um allerorts
Panik in den Regierungen und Geschäftskreisen
zu erzeugen. Die etablierten Wirtschaftswissenschaftler
hatten nie vermocht zu erklären, wie die
Krise der 30er Jahre entstehen konnte, und keiner
von ihnen konnte sich sicher sein, dass man
nicht vor einer ähnlichen Situation stand.
Die
wirtschaftliche Dynamik lief zwar auch im 'Bleiernen
Zeitalter‘ weiter, aber statt der Masse
der Bevölkerung verbesserte Lebensbedingungen
zu bieten wie im langen Boom, drohte sie, ihr
zu entreißen, was sie sich in der Vergangenheit
erarbeitet hatte. Ganze Industriezweige verschwanden,
und Städte verödeten. Sozialleistungen
wurden auf das Niveau von 50 Jahren zuvor gestutzt
- oder in einigen US-Staaten direkt ganz abgeschafft.
Gleichzeitig feierte eine neue Sorte strammer
rechter Politiker, die man als 'Thatcheristen‘
oder 'Neoliberale‘ kennt, das freie Wirken
der Marktkräfte und fand damit Anklang
bei einer Schicht sozialdemokratischer Politiker,
die eine Rückkehr zu diesen Glaubenssätzen
aus der Politik des 19. Jahrhunderts als Beweis
ihrer 'Modernität‘ ansahen.
Der
Ruck nach rechts übte seinen Einfluss auf
die radikale Linke aus, die durch ihre Niederlagen
Mitte der 70er Jahre noch immer demoralisiert
war - und manchmal auch durch die Entdeckung
der Wahrheit über China und das blutige
Regime, das die prochinesischen Roten Khmer
in Kambodscha installiert hatten. Einige zogen
den Schluss, das ganze revolutionäre Unternehmen
sei ein einziges Missverständnis gewesen.
Einige hielten ihre Kritik am parlamentarischen
Reformismus für überzogen. Einige
schlussfolgerten, der Klassenkampf gehöre
der Vergangenheit an.
Tatsächlich
ereigneten sich in den 80er Jahren große
und teils gewaltsame Klassenkonfrontationen,
als die Arbeiter versuchten, die Dezimierung
ihrer Stellen in den alten Industriebranchen
zu verhindern - der Kampf der Stahlarbeiter
in Frankreich und Belgien, der ein Jahr währende
Streik von 150.000 britischen Bergarbeitern
und ein ebenso langer Streik der britischen
Drucker, ein fünftägiger Generalstreik
in Dänemark, ein Streik der Verwaltungsarbeiter
in den Niederlanden und Britisch-Kolumbien und
ein eintägiger Generalstreik in Spanien.
Aber
alle diese Kämpfe wurden besiegt, und eine
Erbschaft aus diesen Niederlagen war der wachsende
Glaube, die 'altmodischen‘ Methoden des
Klassenkampfes funktionierten nicht mehr. Er
veranlasste eine Schicht von Arbeiteraktivisten,
ihre Hoffnungen wieder einmal auf die Versprechen
der Parlamentspolitiker zu setzen. Er ermutigte
auch linke Intellektuelle, schon die Konzepte
Klasse und Klassenkampf aufzugeben. Sie nahmen
zu einem Modetrend Zuflucht, der sich 'Postmodernismus‘
nennt und behauptet, jede Interpretation der
Realität sei genauso wertvoll wie eine
beliebige andere, es gebe keine objektive Grundlage
für Begriffe wie Klasse, und jeder Versuch,
die Funktionsweise der Gesellschaft zu verändern
sei 'totalitär‘, weil er darauf hinauslaufe,
eine Gesamtauffassung von der Welt über
andere zu stellen. Postmodernisten lehnten die
Vorstellung von einem Kampf für gesellschaftliche
Veränderung ab, gerade als die gefährliche
Instabilität der Gesellschaft sich immer
deutlicher abzeichnete.
Chris
Harman ist Mitglied der britischen SWP, International
Socialist Tendency |