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Ernest
Mandels Aktualität
von
Gilbert Achcar* aus INPREKORR 406/407, September/Oktober
2005
*
Gilbert Achcar ist Dozent für Politikwissenschaft
an der Universität Paris-VIII (Saint-Denis)
und Mitarbeiter von Le Monde diplomatique
und Inprecor; er war an der Vorbereitung
des Seminars über Ernest Mandels
Beitrag zur marxistischen Theorie beteiligt,
das im Juli 1996 in Amsterdam stattfand;
die meisten Beiträge erschienen später
in einem von ihm herausgegebenen Sammelband
(Gerechtigkeit und Solidarität, Köln:
Neuer ISP Verlag, 2003). Er hat an der
ersten Ausgabe des Atlas der Globalisierung
mitgearbeitet (Berlin 2003); auf deutsch
liegt von ihm außerdem vor: Der
Schock der Barbarei – Der 11. September
und die „neue Weltordnung“
(Köln: Neuer ISP Verlag, 2002). Letzte
Buchveröffentlichung: Eastern Cauldron
– Islam, Afghanistan, Palestine
and Irak (London: Pluto Press, 2004). |
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Ernest
Mandel starb am 20. Juli 1995, in der
Mitte des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts.
Eine Zeit der Flaute für die weltweite
marxistische Bewegung: Die neoliberale
Offensive des globalen Kapitalismus war
dermaßen gewaltig, dass Clinton
die Politik Reagans fortführte und
die europäischen Sozialdemokraten
bald dort weitermachten, wo ihre konservativen
Gegenspieler begonnen hatten, und das
obwohl ihre Wahlerfolge als Gegenreaktion
auf die Folgen dieser Offensive zu verstehen
waren. Die stalinistischen Staaten des
ehemaligen Sowjetblocks brachen in einer
ebenso erstaunlich wie völlig überraschenden
Veranschaulichung der – umgekehrten
– „Domino Theorie“ zusammen.
Eine ganze Reihe politischer Ideologen,
für die die UdSSR mit dem Marxismus
ebenso untrennbar verbunden war wie der
Vatikan mit dem Katholizismus –
egal ob sie Moskau nun hassten oder zu
ihren Fans und Befürwortern zählten
–, verkündeten, dass Marx dieses
Mal tatsächlich tot sei.
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Dieser
politische und ideologische Kontext lastete
schwer auf der Wahrnehmung von Mandels
Tod. Es gab eine natürliche Tendenz,
in ihm vor allen einen Repräsentanten
jener Generation zu sehen, die von der
Erfahrung der Sowjetunion, die sie selbst
erlebt hatte, entscheidend geprägt
war – einer Generation, die in den
frühen Jahren des russischen „kommunistischen“
Regimes geboren worden war und zum Zeitpunkt
seines endgültigen Untergangs starb.
Mandel konnte daher leicht als Repräsentant
eines für das 20. Jahrhundert spezifischen
Marxismus wahrgenommen werden, |
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der sich hauptsächlich mit der
Sowjetunion befasste, sei es nun als
Anhänger oder Kritiker. Jene, die
einen marxistisch inspirierten Kampf
gegen den Kapitalismus fortsetzen wollten,
sprachen sich für eine Rückkehr
zu Marx aus (der selbstverständlich
lebendig und stimulierend war, wie sich
recht bald herausstellte). Für
manche bestand diese im Grunde darin
sich über das Vermächtnis
des „Sowjetischen Marxismus“
ebenso hinwegzusetzen wie über
seine Kritiker während andere versuchten
einen Marx neuen Looks mit Formen eines
kritisch philosophischen Denkens zu
kombinieren, das ebenso weitab von der
UdSSR-Problematik war, wie sie selbst
von dem aktuellen Klassenkampf –
und die daher von dem entscheidenden
historischen Wandel völlig unberührt
waren.
In
Wirklichkeit kann jegliche Sichtweise,
die Ernest Mandels Vermächtnis
auf ein Kapitel in der Geschichte des
Marxismus reduziert, das im Zusammenhang
mit der Existenz der Sowjetunion steht,
nur aus einer völligen Unkenntnis
seiner Schriften herrühren. Wie
immer man die zahlreichen Beiträge
Mandels über die Sowjetunion bewerten
mag – die im Übrigen als
der am wenigsten originelle Teil seiner
Arbeit gelten können, da sie sich
zum Großteil einer orthodoxen
Verteidigung der Analyse Trotzkis widmeten
– so machten diese nur einen geringen
Teil seines umfassenden Werkes aus.
Ernest Mandel verwehrte sich immer energisch
– und zu Recht –gegen jeglichen
Versuch das von ihm inspirierte theoretische
und politische Profil der internationalen
Bewegung und somit sein eigenes Profil
als vorrangig – wenn nicht gar
als bloß – „anti-
stalinistisch“ zu definieren.
Er bestand immer darauf, dass es ihm
vor allem um den Kampf gegen den Kapitalismus
ginge und, dass der Stalinismus ein
weitaus ephemereres Phänomen als
der Kapitalismus sei.
Tatsache
ist, dass wenn die „Rückkehr
zu Marx“ als charakteristisches
Merkmal für den heutigen Marxismus
anzusehen ist, Ernest Mandel der relevanteste
unter den jüngsten Marxisten ist.
Das Hauptgewicht von Mandels Werk liegt
auf einer direkten Wiederaneignung und
Neubewertung des ursprünglichen
Marxismus. Dazu zählen viele seiner
wichtigsten theoretischen Arbeiten,
insbesondere die Marxistische Wirtschaftstheorie,
Entstehung und Entwicklung der ökonomischen
Lehre von Karl Marx (1843–1863),
und die Einleitungen zu der Penguin-
Ausgabe der drei Bände von Marx’
Kapital.1 So etablierte sich
Mandel zu einem der wichtigsten modernen
Interpreten der Wirtschaftstheorie von
Karl Marx, und keine ernsthafte „Rückkehr
zu Marx“ – im wirtschaftlichen
Bereich zumindest – wird darauf
verzichten können, Mandel zu lesen,
als eine der nützlichsten und informativsten
Anleitung zu Marx’ wirtschaftlichem
Denken. Hätte Mandel nur die oben
erwähnten Arbeiten geschrieben,
so wäre seine Bedeutung für
den heutigen Marxismus bereits erwiesen.
Doch er tat noch weitaus mehr als das:
Ernest Mandel war der Verfasser des
Werks, das Perry Anderson, der beste
Kenner der marxistischen Ideengeschichte,
in seinem Essay Über den westlichen
Marxismus als „die erste mit Hilfe
der klassischen marxistischen Kategorien
entworfene theoretische Analyse der
weltweiten Entwicklung der kapitalistischen
Produktionsweise seit dem Zweiten Weltkrieg“
bezeichnet hat.2 Zwar ist Der
Spätkapitalismus, Mandels Meisterwerk,
nicht der erste Versuch die Dynamik
des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg
zu interpretieren, aber doch der erste
– und bis heute einzige –
Versuch dieser kniffligen Aufgabe in
verständlicher Weise gerecht zu
werden. Mandel bemühte sich, die
marxschen Kategorien zu aktualisieren,
und wendete diese nicht nur für
eine Analyse des wirtschaftlichen Bereichs,
sondern ebenso für den sozialen,
politischen und ideologischen Bereich
an. Es gelang ihm tatsächlich,
für die Zeit nach dem Zwei-ten
Weltkrieg eine Analyse der „kapitalistischen
Produktionsweise“, im engsten
Sinn dieser marxistischen Formel, anzubieten.
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Mandel
entwickelte darüber hinaus wichtige
Instrumente, um das Stadium, in das der
weltweite Kapitalismus nach dem langen
Nachkriegsboom eingetreten war, zu analysieren;
entscheidend war insbesondere seine Rolle
bei der Rehabilitierung und Aktualisierung
der Theorie der „langen Wellen“
der kapitalistischen Entwicklung. Er formulierte
weiters eine grundlegende Analyse zur
Natur der lang anhaltenden Rezession des
globalen Kapitalismus seit den 1970er
Jahren. |
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Seine Interpretation zählt zu den
anregensten und seriösesten Versuchen,
die historische Dynamik des weltweiten
Kapitalismus über eine lange Spanne
zu erklären, und ist unverzichtbar,
wenn man entscheidende Aspekte der theoretischen,
marxistischen Auseinandersetzung im Wirtschaftsbereich
nicht verabsäumen möchte. In
diesem Sinn bestand einer der wichtigsten
Beiträge Mandels darin, auf die Bedeutung
des Klassenkampfs und Formen der bourgeoisen
Herrschaft, als entscheidende Faktoren
in der historischen Dynamik kapitalistischer
Wirtschaft, besonders hinzuweisen. |
Er
sah zu Recht, dass der Erfolg kapitalistischer
Bestrebungen eine neue Form der (De-)Regulierung
in der Weltwirtschaft durchzusetzen –
heute gemeinhin als kapitalistische „Globalisierung“
bezeichnet – weitgehend vom sozialen
Kräfteverhältnis abhängen
würde. Mit Blick auf die europäische
Fraktion des globalen Kapitalismus, schloss
er sein Buch, das als letztes vor seinem
Tod herausgekommen ist, die aktualisierte
Ausgabe von Long Waves of Capitalist Development
aus dem Jahr 1995 3, mit der
folgenden, nach wie vor sehr relevanten
Prognose: Wenn lange Perioden des Wohlstands
bessere Voraussetzungen für Kompromiss
und „Konsens“ schaffen, begünstigen
lange Perioden der Depression Konflikte,
bei denen alle Kontrahenten sich weigern
weitgehende Konzessionen zu machen. Statt
einer erfolgreichen Regulierung, herrschen
tendenziell steigende Widersprüche
und Streitigkeiten vor. Daher wird es
keine „sanfte Landung“ aus
der langen Depression geben, nur Phasen
der Expansion kurzer Zyklen gefolgt von
neuen Rezessionen bei ständigem Ansteigen
der Arbeitslosigkeit und langfristigen
durchschnittlichen Wachstumsraten weit
unter jenen des „Nachkriegsbooms“.4
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Mandel,
in diesem Bereich Marx treu ergeben, sah
im Klassenkampf den entscheidenden Faktor
der Wirtschaftsgeschichte und –prognose,
statt eine marxistische Adaptation des
klassischen bourgeoisen wirtschaftlichen
Glaubens an eine allmächtige „unsichtbaren
Hand“ des Marktes oder der merkantilistischen
Vision einer Weltwirtschaft, in der konkurrierende
Staaten der entscheidende Faktor sind,
zu entwickeln. Er teilte die Sichtweise
Marx’, weil er wie Marx selbst zutiefst
im Klassenkampf engagiert war –
mit einem Salonmarxisten hatte er nicht
das Geringste gemein. Er war sein Leben
lang ein hingebungsvoller Aktivist der
ArbeiterInnenbewegung, der den Großteil
seiner Zeit politischen Interventionen
verschiedenster Art der konkreten Bewegung
widmete. |
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Es
ist bedauerlich, dass Mandel nicht lang
genug lebte, um Zeuge des Aufstiegs der
neuen weltweiten Bewegung gegen Neoliberalismus
und imperialistische Kriege zu sein. Wäre
er noch unter uns und bei guter Gesundheit,
so besteht kein Zweifel, dass er mit vollem
Einsatz dazu beigetragen hätte, die
Bewegung aufzubauen, indem er nicht nur
sein immenses Wissen und seine Erfahrung
eingebracht hätte, sondern ebenso
seinen unstillbaren revolutionären
Enthusiasmus. In vielfältiger Weise
wäre er mit der neuen Bewegung und
der neuen Welle der Radikalisierung der
Jugend in Einklang gewesen, so wie er
vollkommen im Einklang mit der 1968er
Welle gewesen war, zu einem Zeitpunkt,
als er immerhin schon 45 Jahre alt war.
|
Tatsächlich
harmoniert Ernest Mandels Vermächtnis
weitaus mehr mit der jungen Komponente
der neuen weltweiten Bewegung als zahlreiche
ihrer älteren aktuellen TeilnehmerInnen.
Und zwar deshalb, weil sein revolutionäres
Engagement immer zutiefst ethisch war:
Weitab von der zynischen Sichtweise der
Welt der Bürokraten und professionellen
Gauner war Mandels Inspiration durch und
durch ethisch. |
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Sein
revolutionärer Humanismus –
eine Eigenschaft, die er mit jener Ikone
jugendlich revolutionärer Leidenschaft
teilte, mit dem er befreundet war und
den selben Vornamen gemein hatte, Ernesto
Che Guevara – war eines der charakteristischen
Merkmale von Mandels Persönlichkeit
und theoretischer Produktion. Er harmonierte
zudem ganz besonders mit der jüngeren
Generation, da Freiheit und Demokratie
zu den höchsten Werten zählten,
zu denen er sich bekannte. In diesem Sinn
war Mandel vermutlich unter den Marxisten
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts,
der der jener Frau geistig am Nächsten
stand, die er zutiefst bewunderte und
die der Zeit in bewundernswerter Weise
standgehalten hat: Rosa Luxemburg. Wer
mit den politischen Schriften Mandels
vertraut ist, weiß dass er in vielerlei
Hinsicht ein „Luxemburgist“
war, nicht nur wegen seines tiefen Glaubens
an das revolutionäre Potential der
Massen, sondern auch wegen seines intensivst
empfundenen Internationalismus und seiner
Überzeugung, dass demokratische Freiheiten
ebenso unabdingbar für die revolutionäre
Bewegung sind wie die Luft zum Atmen für
die Menschen. |
Ernest
Mandel ist eine unentbehrliche Quelle
für die Entwicklung eines Marxismus
des 21. Jahrhunderts.
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29.
Juni 2005 Übersetzung aus dem Englischen:
Sandra Kleinlercher. |
1
Einleitungen zu den Bänden
1 bis 3 von Capital (Harmondsworth,
Middlesex: Penguin Books,
1976, 1978, 1981, [The
Pelican Marx Library,
published in association
with New Left Review]).
Deutsche Ausgabe, erweitert
um Vorwort vom Frühjahr
1991 sowie Nachwort: Ernest
Mandel, Kontroversen um
„Das Kapital",
Berlin: Dietz Verlag,
1991, (Bibliothek „Soziales
Denken des 19. und 20.
Jahrhunderts").
2
Perry Anderson, Über
den westlichen Marxismus,
Frankfurt/M.: Syndikat,
1978, S. 145.
3
Die beiden im wesentlichen
identischen Auflagen der
deutschen Ausgabe (Ernest
Mandel, Die Langen Wellen
im Kapitalismus. Eine
marxistische Erklärung,
Frankfurt/M.: isp-Verlag,
1983, sowie 2. Aufl. 1987)
beruhen auf der ersten
englischsprachigen Ausgabe
(Long Waves of Capitalist
Development. The Marxist
Interpretation, Cambridge
usw.: University Press;
Paris: Editions de la
Maison des Sciences de
l’Homme, 1980).
4
Ernest Mandel, Long Waves
of Capitalist Development.
A Marxist Interpretation,
2. Ausg., London u. New
York: Verso, 1995, S.
137/138 |
|
Gilbert
Achcar (Hrsg.),
Gerechtigkeit
und Solidarität.
Ernest Mandels Beitrag zum
Marxismus
287 S., 18,00 Euro ISBN
3-929008-44-0
In diesem Band wird das
intellektuelle Porträt
von Ernest Mandel gezeichnet.
Die meisten Beiträge
gehen auf ein Seminar zurück,
das ein Jahr nach seinem
Tode im Juli 1996 in Amsterdam
stattfand. Mit Beiträgen
von Jesús Albarracín
/ Pedro Montes, Robin Blackburn,
Norman Geras, Michel Husson,
Francisco Louçã,
Michael Löwy, Charles
Post, Catherine Samary.
Im Anhang zwei Artikel von
Ernest Mandel, u. a. "Zur
Lage und Zukunft des Sozialismus"
(1990).
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