1973
beginnt in der französischen Stadt Besançon
ein soziales Experiment: Weil die Arbeiter der
Uhrenfabrik Lip um ihre Arbeitsplätze fürchten,
besetzen sie ihre Fabrik und übernehmen
die Uhrenproduktion in Eigenregie. Zwei Jahre
führen sie die Produktion weiter, erproben
Konzepte selbst bestimmter und gleichberechtigter
Arbeit und verhindern Entlassungen — bis
die Fabrik unter dem Druck der Konkurrenz endgültig
dicht macht. Lip ist das prominenteste Beispiel
für das „68 der Arbeiter” —
ihre Entschlossenheit, sich den paternalistisch-autoritären
Stil im Betrieb nicht mehr gefallen zu lassen.
Ihr Wahlspruch lautet: „Es ist möglich:
wir produzieren, wir verkaufen, wir bezahlen
uns.” Das Beispiel Lip steht bis heute
einmalig für eine betriebliche Kommunikationskultur
und eine Form der Interessenvertretung, die
dem einzelnen Belegschaftsmitglied die volle
Kontrolle über den eigenen Kampf gibt und
dadurch eine unerhörte Schlagkraft bewiesen
hat, ein zukunftsweisendes Modell. Der nachstehende
Beitrag ist eine überarbeitete Version
einer Bilanz des Streikführers bei Lip,
Charles Piaget, aus dem Jahr 2006.
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Charles
Piaget
(vorne) während der Werksbesetzung |
Als
ich 1948 anfing, bei Lip zu arbeiten, schafften
dort 1000 Beschäftigte, verstreut über
verschiedene Gebäudeteile, isoliert voneinander.
Wir durften unseren Arbeitsplatz ohne Genehmigung
nicht verlassen. Treffen konnten wir uns nur
bei Arbeitsbeginn und -ende und in der Pause
(10 Minuten am Morgen). Der Boss, Fred Lip,
war ein Patriarch; vor allem in der Nachkriegszeit
hingen die Arbeiter und ihre Familien stark
von seinen Wohltaten ab. Nach und nach entließ
er alle früheren Arbeiterführer, die
aus der Résistance kamen. Er fertigte
seine eigene Belegschaftszeitung und richtete
jeden Freitag nach Feierabend das Wort an die
Belegschaft.
Die Gewerkschaftsvertreter wurden von den Meistern
überwacht. Wer dem Boss nicht passte, flog.
Es gab schwarze Listen. Die Arbeiter wurden
auch durch eine besondere Einstellungspolitik
unter Druck gesetzt: Im Monat August wurden
viele eingestellt, im Januar viele entlassen.
Ein Luxus: in jedem Büro und jeder Werkstatt
gab es einen Lautsprecher. So lernten wir die
Bedeutung der Kommunikation kennen.
Von den Gewerkschaften gab es die CGT und die
christliche CFTC, ihre Vertreter waren jedoch
kaum bekannt, die Strukturen äußerst
schwach, das kollektive Leben der Belegschaft
dämmerte vor sich hin. Anfang der 50er
Jahre kam ein Schwung junger Arbeiter in den
Betrieb, die das Gewerkschaftsleben neu organisierten.
1950 gab es in der Uhrenindustrie in Besançon
einen zehntägigen Streik um höhere
Löhne. Bei Lip wurde er nur von einem Teil
der Belegschaft befolgt, und auch bei ihnen
beschränkte er sich darauf, morgens um
10 Uhr zu einer Streikversammlung geladen zu
werden und dann nach Hause zu gehen. Der Streik
scheiterte, danach war kein Mensch mehr zu einer
kollektiven Aktion bereit.
Ich arbeitete in der Werkstatt, wo die Uhrenwerke
hergestellt wurden. Die Meister dort waren hoch
qualifiziert und sehr individualistisch, sie
wollten ihr Wissen nicht weitergeben, im Gegenteil,
eifersüchtig behielten sie ihre Kniffe
für sich. Das Uhrmacherhandwerk ist sehr
schwer, die Lehrzeit reicht nicht, um komplexe
Gegenstände herzustellen. Wir jungen Mechaniker
fanden einen Ausweg: wir bauten eine regelmäßige
Kommunikation untereinander über Erfolge
und Misserfolge bei unserer Arbeit auf. Zu acht
schafften wir es acht mal schneller. So erfuhren
wir zum ersten Mal, was Austausch, Solidarität
und Kollektivität bei der Arbeit heißt.
1953:
eine neue Generation
In
meiner Werkstatt wurde die Leistungszulage gestrichen.
Für die Meister war das ein Pappenstiel,
bei ihren Löhnen fiel das nicht auf. Die
Jungen aber setzten sich zur Wehr und traten
sofort in den Streik. Zwei von uns haben die
Verhandlungen geführt und die Rücknahme
der Streichung durchgesetzt. Bei den nachfolgenden
Gewerkschaftswahlen stellte mich die CFTC auf,
weil sie vom Streik Wind bekommen hatte, und
ich wurde gewählt.
In der CGT und in der CFTC im Betrieb gab es
jetzt eine Reihe von Jüngeren. Wegen der
großen Schwächen unserer Gewerkschaften
wurden wir oft vom Personalchef gehänselt.
Wir mussten uns eingestehen, dass wir so gut
wie keine Verbindung mit dem Gros der Belegschaft
hatten. Beiläufig entdeckten wir, dass
der Betriebsrat Arbeiterinnen gescholten hatte,
weil sie sich weigerten, samstags Überstunden
zu machen. Er schrieb sogar an den Boss: „Geben
Sie uns nicht mehr Geld, wir haben das vom letzten
Jahr noch nicht ausgegeben.” Dabei waren
die Arbeitsbedingungen unerträglich, der
Lärm, der Schmutz, der Befehlston, die
ständige Überwachung, das Verbot sich
zu unterhalten, die Arbeitsunfälle.
Die jungen Vertreter in beiden Gewerkschaften
fingen an, sich Fragen zu stellen. Wie konnten
wir eine bessere Kommunikation im Betrieb herstellen?
Wie konnten wir in Erfahrung bringen, was in
anderen Werkstätten und Büros lief?
Wir lernten unseren Betrieb besser kennen und
wurden dadurch auch bekannter; unsere Flugblätter
wurden besser. Schließlich haben wir angefangen,
einmal im Monat die Delegierten aus den verschiedensten
Teilen des Betriebs im Gewerkschaftsbüro
zusammenzurufen. Mit den Jungen von der CGT
arbeiteten wir dabei eng zusammen, sie stellten
sich dieselbe Frage wie wir: Wie können
wir die Notwendigkeit kollektiver Aktionen glaubwürdig
vermitteln? Wir haben praktisch alle diese Treffen
gemeinsam organisiert, so haben wir uns kennen
gelernt und den Grundstock für unsere Einheit
gelegt. Wir vertrauten uns; das Vertrauen hat
noch zugenommen, als mehrere von uns später
der Union de la Gauche Socialiste beigetreten
sind, einer Vorläuferorganisation der PSU
(Parti Socialiste Unifié).
Die
Kraft des Kollektivs entdecken
Unser
erster Erfolg war, als wir entdeckten, dass
eine Leistungszulage bei der Berechnung der
Überstunden nicht berücksichtigt worden
war. Wir informierten uns über die Rechtslage,
veröffentlichten den Rechtsbruch durch
ein Flugblatt, beriefen uns auf Gerichtsurteile
und riefen die Gewerbeaufsicht zu Hilfe. Fred
Lip musste kapitulieren; das war ein Paukenschlag,
denn wir hatten Nachforderungen von einem ganzen
Jahr, das war ein schöner Batzen Geld.
Allmählich zeigte sich, dass sich kollektiver
Widerstand bezahlt macht.
Wir stellten das Lohngeheimnis in Frage. Über
den Lohnstreifen wurde nicht geredet, das war
tabu. Jeder wähnte sich etwas privilegiert.
Bis einige damit einverstanden waren, dass ihr
Streifen ohne Namensangabe veröffentlicht
wurde. Das war ein Aufruhr! Die Chefs wurden
herbei zitiert und die Geschäftsleitung
musste etwas Ordnung in die Lohnpolitik bringen,
Mindest- und Höchstgrenzen festlegen. Das
war der Beginn der Lohnstufen und der Einführung
von Transparenz. Den Arbeitern ging Klarheit
jetzt vor Geheimnistuerei.
Noch später mischten wir uns in die Personalpolitik
ein. Die Produktionsleiter wurden stark unter
Druck gesetzt, länger als zwei Jahre hielten
sie es in der Regel bei Lip nicht aus. Als einer
von ihnen wieder einmal entlassen werden sollte,
legte eine Abteilung die Arbeit nieder. Wir
wurden aufgefordert, dazu was zu sagen. Wir
schlossen uns dem Streik an, thematisierten
aber alle Entlassungen, nicht nur die eine dieses
Direktors. Es gab einen Kompromiss.
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Kundgebung
bei Lip in Besançon |
Staatsstreich
1958
De
Gaulle putschte und übte eine diktatorische
Macht aus, die keinen Widerspruch duldete. Die
Unternehmer beeilten sich, seinen Führungsstil
nachzuahmen. 1959 verloren wir einen Lohnstreik,
doch ohne große Lohneinbußen.
Wir holten uns einen Wirtschaftsprüfer
und studierten die regionale, die schweizerische
und die weltweite Uhrenindustrie. Wir begannen,
uns für Wirtschaftsfragen zu interessieren,
an dem Punkt war die CGT zurückhaltender.
Wir setzten auch durch, dass die Gewerkschaftswahlen
einmal im Jahr stattfanden, so bekamen wir ein
getreueres Abbild von der Belegschaft.
1960 entstand in Palente ein neues Werk, mit
zwei großen, untereinander verbundenen
Gebäuden. Wir besorgten uns einen detaillierten
Plan vom Werk und begannen, die Fabrik systematisch
mit einem Netz von Korrespondenten zu überziehen.
1964 wurde aus der CFTC die CFDT. Wir trafen
uns in regelmäßigen Abständen
nach der Arbeit bei dem einen oder dem anderen,
um grundlegendere Fragen durchzugehen. Die Hauptfrage
war dabei immer wieder: Wie können wir
die Kommunikation mit allen Beschäftigten
verbessern?
Ohne uns dessen bewusst zu werden, wurden wir
allmählich zu einer ziemlich untypischen
Gewerkschaftsgliederung: Wir befolgten nicht
die Order unserer Gewerkschaft und dachten mit
unserem eigenen Kopf. Wir wurden politische
aktiv, z.B. protestierten wir gegen einen Empfang
für den NATO-Generalstabschef; ich folgte
auch, mit der CGT zusammen, einer Einladung
in die UdSSR, obwohl mein Gewerkschaftsvorsitzender
am Ort dagegen war...
1968:
der erste Werksstreik
68
war für uns ein großartiger Moment
des demokratischen Kampfes. Wir von der CFDT
bereiteten den Streik sorgfältig und zusammen
mit der CGT vor, es herrschte volle Übereinstimmung.
Am 20.Mai wurden die Eingänge zu den wichtigsten
Betrieben in Besançon von Gewerkschaftsgruppen
blockiert; das war der Streik. Die Lip-Beschäftigten
forderten wir auf, sich um 8 Uhr morgens in
der Kantine einzufinden, um gemeinsam über
die Lage der Nation zu reden. Um 8 Uhr sprachen
zwei Redner zur Sache, dann ging das Mikro rum...
Niemand wollte das Wort ergreifen. Die Leitenden
sind auch dabei, niemand traut sich. Zum Glück
hatten wir das einkalkuliert, wir verkünden
eine Pause, Diskussion in Kleingruppen, danach
soll es eine Abstimmung geben. Das war ein voller
Erfolg. Vor der Abstimmung stellten wir klar,
dass die Meinung derer, die sich enthalten wollten
oder ein Minderheitenvotum abgaben, respektiert
werden müsse. Eine große Mehrheit
stimmte für den Streik. Niemand buhte die
Gegner aus.
Sofort wurde ein Streikkomitee mit Delegierten
aus jeder Abteilung aufgebaut, gleich ob Gewerkschaftsmitglied
oder nicht, nur das Vertrauen zählte. Aus
anderen Betrieben kamen Delegationen zu uns
und staunten darüber, was wir machten.
Unser Vorgehen traf auf vollständiges Unverständnis.
Für die Besetzung des Betriebs gab es klare
Regeln: Die Geschäftsleitung durfte bleiben,
sofern sie sich in einer begrenzten Zone aufhielt
und nichts gegen den Streik unternahm. Über
den Gebrauch der Maschinen bestimmten wir, auch
über die Verwendung des vorrätigen
Papiers.
Fred Lip rastete mehrmals aus. Er trug ständig
eine automatische Pistole bei sich. Jeder Zwischenfall
wurde entschlossen vom Streikkomitee geregelt;
das haben einige Vertreter der CFDT schwer verdaut.
Es ist uns nicht gelungen, den Betrieb für
die Studenten oder für andere zu öffnen.
Die Stimmung war nicht danach und es überwog
die Furcht. Aber wir lernten uns besser kennen,
und das vergisst man nicht. Fred Lip hat sehr
schnell ein Abkommen unterzeichnet, aber wir
haben gesagt: „Das tritt erst in Kraft,
wenn der Konflikt auf nationaler Ebene vorbei
ist."
Wir konnten die Freiheit der Information durchsetzen.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Arbeiter
konnten sich Beschäftigte jetzt im Betrieb
auf einer Informationstafel frei äußern.
Diese Tafel sollte sich in den folgenden Jahren
als ein erstrangiges Instrument erweisen. So
wie der Arbeitsablauf organisiert war, hatten
die Beschäftigten nicht mehr als zwei Minuten
abends und morgens, um unsere Informationen
zu lesen. Wir schrieben in Großbuchstaben;
die Tafel war ständig umlagert, die Macht
der Arbeiter formierte sich. In der Stadt interessierten
sich leider nur wenige für dieses Kampfmittel.
Außerdem bekamen wir einmal im Quartal
eineinhalb Stunden, um die gesamte Belegschaft
zu informieren, was wir voll nutzten. Die Infotafel
war Fred Lip ein Dorn im Auge. Eines Tages hat
er den Personalleiter geschickt, ein Plakat
abzureißen. Wir ließen uns das von
einem Gesetzesvertreter des bestätigen
und machten es, mitsamt dem Gesetz, das gebrochen
worden war, öffentlich... Fred Lip wagte
das nie wieder.
Unsere kurze Erfahrung freier Rede und kollektiver
Debatte, reichte aus, dass die Beschäftigten
gewisse Arbeitsbedingungen nicht mehr hinnahmen.
Überall im Betrieb brachen kleine Konflikte
aus, die Arbeiter wollten respektiert und gerecht
behandelt werden. Die Gewerbeaufsicht forderte
uns auf, all diese Konflikte sofort zu beenden.
Das lehnten wir ab: „Das entscheiden die
Werkstätten und Büros allein.”
Wenn irgendwo ein Konflikt war, gingen zwei
Gewerkschaftsvertreter hin, es gab eine gemeinsame
Diskussion mit der gesamten Werkstatt, die Beschäftigten
entwickelten ihre Forderungen, die Gewerkschaftsvertreter
brachten zusätzliche Informationen ein.
Wenn es Verhandlungen geben sollte, wurde darüber
gesprochen, was und wie verhandelt werden sollte,
eine Verhandlungsdelegation wurde gewählt,
begleitet von den zwei Gewerkschaftsvertretern.
Das Ergebnis wurde dann wieder von der Versammlung
der Werkstatt begutachtet. Es gab etwa 15 solcher
Konflikte.
1969:
Werksblockade
Fred
Lip kündigte das Abkommen von Mai 68, fror
trotz starker Inflation die Löhne ein und
drohte mit Werkstilllegung. Einige bekommen
Angst, eine Minderheit will den Betrieb sofort
besetzen. Zum Glück erinnern einige an
die Regeln, die wir uns gegeben haben: Eine
Minderheitenaktion würde der Belegschaft
sehr schaden, also müssen wir eine für
alle akzeptable Lösung finden. Es entsteht
der Vorschlag, eine Schlange zu bilden und durch
den Betrieb zu ziehen. Wenn die Schlange durch
ihre Werkstatt kommt, scheren diejenigen, die
für den Streik sind, aus und reden mit
ihren Kollegen. Nach der Diskussion bekommt
die Schlange manchmal Zulauf, es gibt Beifall
und man zieht weiter. Nach drei Tagen gibt es
eine deutliche Mehrheit für den Streik.
Aber es ist Juni und bald beginnen die Ferien.
Dann sagen einige: „Wir müssen die
Auslieferung blockieren. Um diese Zeit werden
die meisten Uhren verkauft.” 30 Arbeiter
riegeln die Auslieferung ab. Fred Lip sucht
die Kraftprobe, sammelt ein paar leitende Angestellte
und will die Auslieferung erzwingen. Ein Moment
höchster Gefahr. Eine Gruppe Gewerkschaftsvertreter
geht dazwischen. Langsam zieht sich die Gruppe
um den Boss zurück. Fred Lip versteht:
Diese Belegschaft steht zusammen.
1970/71:
Übernahme
1970
übernimmt die schweizerische Ebauches SA
43% der Aktien von Lip. Fred Lip erarbeitet
einen Umstrukturierungsplan. Die beiden Werkstätten,
in denen die kämpferischsten Belegschaftsmitglieder
arbeiten, werden gestrichen. Ein langer Kampf
beginnt, jedoch ohne Streik. Statt dessen herrscht
allgemeiner Ungehorsam im gesamten Betrieb.
Wir nutzen dazu Ministerpräsident Chaban-Delmas‘
neues Gesetz über die Betriebsräte:
im Betrieb dürfen keine Veränderungen
ohne vorherige Konsultation des Betriebsrats
vorgenommen werden. Fred Lip setzt sich jedoch
darüber hinweg. Wir sind nun die, die das
Gesetz verteidigen und machen die Sache überall
bekannt. Kein Streik, aber beim Zeichen eines
der Gewerkschaftsvertreter blockieren alle Mechaniker
den befohlenen Abtransport der Maschinen; der
Betriebsrat rügt die Geschäftsleitung.
Die anderen Werkstätten und Büros
solidarisieren sich. Der Plan wird fallen gelassen,
Fred Lip wird von seinem Vorstandsposten entfernt.
1973:
Das Werk in Eigenregie
Am
12.Juni erfährt die Belegschaft, dass Ebauches
SA von Lip nur noch den Markennamen, das Vertriebsnetz
und die Uhrenmontage erhalten will. Alles andere
soll abgeschafft werden. Das ist ein Plan, die
Gewerkschaften bei Lip zu schleifen. Die Unternehmensleitung
legt eine sehr schlechte Bilanz vor und kündigt
Entlassungen und Lohnkürzungen an. Der
Betrieb wird sofort besetzt. In der Nacht werden
die fertigen Uhren und das Produktionsmaterial
beschlagnahmt.
Bei Lip beginnt nun der Kampf gegen die Schicksalsergebenheit,
welche die Bilanz verbreitet. Nach einem Klausurwochenende
legen die Gewerkschaftsdelegierten einen Plan
für die Gegenwehr vor. Je zwei Delegierte
von jeder Abteilung ziehen durch alle Werkstätten
und Büros, am Nachmittag gibt es gemeinsame
Debatte. Jemand macht den Vorschlag für
einen Generalstreik; nach weiterer Debatte wird
er fallen gelassen zugunsten des Vorschlags,
das Arbeitstempo zu reduzieren, damit mehr Zeit
bleibt für den Kampf.
Am 18.Juni beschließt eine Vollversammlung,
die Produktion in Eigenregie wieder aufzunehmen,
um einen „Lohn zum Überleben”
zu sichern. Die Losung heißt: „Es
ist möglich: wir produzieren, wir verkaufen,
wir bezahlen uns.” Der Beschluss, auf
eigene Faust weiter zu produzieren, ist eine
Antwort auf das drohende Ausbleiben der Löhne.
Einigen CFDT-Mitgliedern geht das Duo CFDT—CGT
nicht weit genug, sie wollen ein Aktionskomitee
bilden. Die Vollversammlung wird der Ort, wo
alle Forderungen und die Rahmenbedingungen des
Kampfes entschieden werden, wo festgelegt wird,
wie Gefahren umschifft und demokratische Grundregeln
eingehalten werden. Es gibt zahlreiche Arbeitsgruppen,
die den gesamten Produktionsbetrieb regeln.
Die Lage hat sich nun vollständig geändert:
Jetzt sind alle Versammlungen öffentlich,
die Presse ist immer dabei. Einige Journalisten
schlafen im Betrieb. So ist der Kampf sehr bekannt
geworden. Die Unterstützung von außen
war enorm.
Lip wurde nun zu einem ständigen Forum,
und immer mehr Beschäftigte wurden in die
allgemeine Dimension ihres Kampfes hineingezogen.
60 Belegschaftsmitglieder begleiteten immer
die Verhandlungskommission, egal wohin. Und
immer mehr Beschäftigte mussten nach draußen,
durch die Lande, um den Konflikt zu erklären.
Arbeiter wurden so zu politischen Aktivisten;
vor allem die Frauen sind hier hervorgetreten.
Am 15.August wird der Betrieb von der Polizei
besetzt, die Arbeiter vertrieben. Die Polizei
bleibt dort bis zum Februar 1974, bis das PSU-
Mitglied Claude Neuschwander den Betrieb übernimmt.
850 Arbeiter werden wieder eingestellt. Der
Streik ist zu Ende.
1974:
Das Ende
Der
Ölschock und die erste schwere Wirtschaftskrise
führen überall zu Massenentlassungen
und zahlreichen Betriebsschließungen.
Am 8.Februar 1976 legt Neuschwander wegen zunehmender
wirtschaftlicher und politischer Schwierigkeiten
seine Funktion nieder. Er erklärt: „Bis
Lip lebten wir in einem Kapitalismus, in dem
das Unternehmen das Herz der Ökonomie bildete.
Danach leben wir in einem Kapitalismus, in dem
Finanz und das Geld das Herz der Ökonomie
bilden."
Am 5.Mai 1976 besetzen 620 Beschäftigte
erneut die Fabrik und kurbeln die Produktion
wieder an. Es gibt verschiedene Projekte, u.a.
die Aufnahme von Lip in einen regionalen Strukturplan;
das scheitert am mangelnden politischen Willen.
Am 12.September 1977 wird Lip endgültig
liquidiert. Nach langen Debatten werden auf
dem Werksgelände verschiedene Genossenschaften
angesiedelt; sieben bleiben davon am Schluss
übrig, darunter Les Industries de Palente
(LIP). Sie müssen das Werksgelände
Palente jedoch verlassen.
1990 kauft Jean-Claude Sensemat den Markennamen
und beginnt eine neue Uhrenproduktion auf der
Basis von Versandhandel. Firmensitz ist Lectoure
in Südfrankreich. Ein Teil der Fertigung
läuft heute in China.
(Übersetzung: Angela Klein.) |