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Vor 100 Jahren:

Drei Strategien in der russischen Revolution 1905

von B.B. aus Inprekorr Nr. 408/409 Nov./Dez. 2005

 

Die russische Revolution von 1905 setzte in ganz Europa das Problem der revolutionären Strategie neu auf die Tagesordnung. Es war während des unaufhaltsamen Aufstiegs der internationalen Sozialdemokratie, der um die Jahrhundertwende vor dem Hintergrund einer lang anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungphase stattfand und welche die beharrliche Organisationsarbeit in den Vordergrund rückte, völlig verdrängt worden. In der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands wurden 1905 drei unterschiedliche Strategien entwickelt, um auf den revolutionären Prozess einzuwirken: die der Menschewiki, die der Bolschewiki und die von Parvus-Trotzki, welche die menschewistische Organisation in der russischen Hauptstadt St. Petersburg leiteten. Heute, wo sich fast alle Linken bis hin zu ihrem sozialistischen Flügel auf Sofortforderungen, d. h. auf die „Taktik“, beschränken, ist es angebracht, an die „Strategie“ zu erinnern.

Der Blutsonntag am 9. Januar 19051 , als eine Demonstration in der Hauptstadt St. Petersburg dem Zaren eine Protestresolution überreichen wollte und Hunderte niedergeschossen wurden, löste die erste russische Revolution aus und erschütterte die letzten Illusionen der ArbeiterInnenklasse in den Zarismus.


Petersburg 1905

Ausgehend von der Hauptstadt durchrasten Wellen von Streiks das russische Reich. In zwei Monaten streikten in 122 Städten über eine Million ArbeiterInnen. Die meisten Proteste fanden in den Randgebieten des Riesenreiches wie dem Kaukasus, Polen oder im Baltikum statt, aber ihr Zentrum lag in St. Petersburg. Die Streiks trafen die Monarchie auch deshalb, weil sich Russland mitten im Krieg mit Japan befand.


Demonstranten am Petersburger Blutsonntag

SPALTUNG WÄHREND DER REVOLUTION

Zwar enthielt das Manifest der DemonstrantInnen vom 9. Januar 1905 auch sozialdemokratische Forderungen wie die nach Wahlen zu einer parlamentarischen Versammlung auf der Grundlage allgemeinen, geheimen, direkten und gleichen Stimmrechts. Aber nicht zufällig stand an der Spitze der DemonstrantInnen zum Zaren mit dem Popen Gapon ein Agent des zaristischen Geheimdienstes Ochrana.

Denn die Sozialdemokratie war gerade mit sich selbst beschäftigt. Während in Russland mit den Massenstreiks eine neue Kampfform entstand, spalteten sich im April 1905 die beiden maßgebenden Fraktionen der SozialdemokratischenArbeiterpartei Russlands (SDAPR) in zwei unabhängig voneinander agierende Parteien. Die Mehrheit (Bolschewiki) nannte sich SDAPR/ZK (Zentralkomitee) und hielt vom 12. bis zum 27. April ihren III. Parteitag in London ab. Die Minderheit (Menschewiki) bezeichnete sich als SDAPR/OK (Organisationskomitee) und richtete im Mai ihre Konferenz in Genf aus2 . Während entscheidender Monate der Revolution weilten die führenden Parteimitglieder im Ausland. Das schuf Raum für andere. Als einziger bekannter Funktionär aus dem Exil traf im Februar 1905 ein fünfundzwanzigjähriger junger Mann in Russland ein – Leo Trotzki. Er hatte 1903 zur Fraktion der Menschewiki gehört, sie aber wegen strategischer Differenzen verlassen. Ohne fraktionelle Anbindung und Verpflichtungen hatte Trotzki die Zeit, sich in der Revolution zu engagieren, und die Offenheit, mit beiden sozialdemokratischen Richtungen zusammenzuarbeiten.

REVOLUTIONÄRE KRITIK ODER PÄDAGOGIK?

Im Unterschied zu Westeuropa hatte in Russland keine bürgerliche Revolution stattgefunden. Die von den bürgerlichen Revolutionen in Westeuropa gestellten demokratischen Aufgaben wie Sturz der Adelsherrschaft und Errichtung der Republik, Enteignung des Großgrundbesitzes im Interesse der Masse der Bauernschaft, Gleichberechtigung der bisher unterdrückten Nationalitäten usw. waren ungelöst. Gleichsam als liege die kommende Revolution in der Luft, begannen Ende 1904 die Diskussionen über die revolutionäre Strategie (siehe Kasten) auch innerhalb der SDAPR. Doch erst im Verlauf der Revolution von 1905, nachdem sich die Partei bereits gespalten hatte, bildeten sich die strategischen Unterschiede deutlich innerhalb der Sozialdemokratie heraus.

Der II. Parteitag der SDAPR von 1903 hatte entgegen dem Willen Plechanows und Lenins eine Resolution von Potressow, Axelrod und Martow angenommen, die unter bestimmten Bedingungen Bündnisse mit den Liberalen, den späteren Konstitutionellen Demokraten bzw. „Kadetten“, für zulässig hielt. Als im Herbst 1904 die Liberalen in Russland Veranstaltungen der Semstwos, der Verwaltungsgremien der Gouvernements, organisierten, schlugen die Menschewiki eine Kampagne vor, die die liberale Semstwokampagne unterstützen und weitertreiben sollte. Das lehnten Lenin und die Bolschewiki ab. Sie kritisierten am menschewistischen „Plan“, dass er, um die bürgerliche Opposition zu beeinflussen, seinen Schwerpunkt darauf lege, die Gegensätze zwischen der revolutionären Sozialdemokratie und den bürgerlichen Liberalen abzuschwächen. Das werde zur Klassenversöhnung führen. Um die Liberalen zu beeinflussen, müsse die revolutionäre Kritik an ihren Halbheiten im Mittelpunkt stehen3.

STREITPUNKTE REGIERUNGSBETEILIGUNG UND PARLAMENTARISMUS

Einen weiteren Streitpunkt warf der Menschewik Martynow mit der Frage auf, ob sich die SDAPR an einer „provisorischen revolutionären Regierung“ beteiligen dürfe. Martynow verneinte eine solche Regierungsbeteiligung. Nach seiner Ansicht könne die Sozialdemokratie als Partei des Proletariats die Macht nicht in den Händen halten, ohne den Versuch zu machen, ihr Maximalprogramm zu verwirklichen, d. h. ohne zu versuchen, die sozialistische Umwälzung durchzuführen. Entsprechend dem Schema, dass es sich in Russland um eine bürgerliche Revolution handle, prophezeite Martynow in diesem Fall eine unvermeidliche Niederlage. Die Beteiligung an einer „provisorischen revolutionären Regierung“ würde ungewollt der Reaktion in die Hände arbeiten4. Lenin bejahte dagegen die Beteiligung an einer Regierung, die aus dem revolutionären Sturz des Zarismus hervorgehe.

Hinter der Frage der Regierungsbeteiligung stand die Frage der Klassenzusammenarbeit. Angesichts der Sozialstruktur Russlands lehnten die SozialdemokratInnen keineswegs die Klassenzusammenarbeit ab, sondern hielten ihre Bejahung für eine der Grundbedingungen für den Sturz des Zarismus. Die Frage war nur, welche Klassen in der Revolution zusammenarbeiten sollten, um die zaristische Herrschaft, die sich auf 130 000 Gutsbesitzer und eine ausgedehnte Staatsbürokratie stützte, zu beseitigen?

Die Industrie in Russland war zwar modern, hochkonzentriert und auf dem neusten Stand der Technik, aber die Bourgeoisie als Klasse war politisch schwach. Zudem stand sie unter der Fuchtel des Auslandskapitals.

Die Klasse der Bauern bestand aus verschiedenen Schichten. Von 10 Mio. Bauernhöfen besaßen 3 Millionen keine Pferde. Für Lenin war der pferdlose Bauer „ein Proletarier“, der sich mit Lohnarbeit durchschlagen müsse. Dreieinhalb Millionen Höfe – die Dorfarmut – besaßen nur je ein Pferd. Etwa zwei Millionen Höfe besaßen je 2 Pferde und waren damit Mittelbauern. Anderthalb Millionen reiche Bauernhöfe besaßen durchschnittlich je 5 Pferde5.

Auch die ArbeiterInnenklasse war alles andere als homogen. 1890 beschäftigten die kapitalistischen Großbetriebe 1.432 Mio. Lohnabhängige. Zusätzlich malochten rund 1,2 Mio. ArbeiterInnen auf den Hütten, Bergwerken und bei der Eisenbahn. Dazu kamen ca. 4 Mio. Kustare, formal Selbständige, tatsächlich aber abhängig Beschäftigte, die in der Hausindustrie für Arbeitslohn arbeiteten. Außerdem mussten zur ArbeiterInnenklasse die acht oder neun Millionen Wanderarbeiter gerechnet werden, die „nur dem Namen nach Bauern, in Wirklichkeit aber Lohnarbeiter“ waren und noch eine Million Knechte6. Nach Lenin umfasste die Arbeiterklasse des Zarenreiches also nicht nur die FabrikarbeiterInnen, sondern immerhin rund 14,5 bis 15,5 Mio. Menschen. Es ist ein weit verbreiteter historischer Irrtum die ArbeiterInnenklasse Russlands auf die bloße Fabrikarbeiterschaft zu reduzieren.

Um die zaristische Herrschaft zu stürzen und die bürgerliche Revolution durchzuführen, sollte nach Meinung der Menschewiki die ArbeiterInnenklasse mit dem Bürgertum zusammengehen. Welche Sogwirkung auf die Bauernschaft diese Bündniskonstellation auch immer unterstellte: Sie fußte auf dem Zusammengehen zweier absoluter Minderheiten der Gesellschaft und war damit im Kern undemokratisch und ... unrealistisch. Dagegen schworen die Bolschewiki auf die „revolutionär- demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, die aber über eine bürgerliche Republik nicht hinausgehen sollte. Ihre Bündnisvorstellung umfasste die Mehrheit der Bevölkerung.

DIE ARBEITERRÄTE UND LENIN


Der strategischen Debatte widmete Lenin seine bekannte Schrift „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution“. Im Juli 1905 erschienen, war sie bereits nach wenigen Monaten veraltet, weil die Revolution längst weiter fortgeschritten war. Womit Lenin nicht gerechnet hatte und auch nicht rechnen konnte, war das Entstehen von Arbeiterräten. Die Streikwellen hatten im September 1905 anlässlich der geplanten Dumawahl7 zu dem Vorschlag dermenschewistischen Parteiorganisation von St. Petersburg geführt, die Duma zu boykottieren, aber „in den Fabriken, Werkstätten und Betriebsabteilungen ebenso wie seinerzeit in die Schidlowski-Kommission Vertreter zu wählen“ 8. Lenin war gegen diese Delegiertenwahl. Erst am 5. November sprach er sich in einem Brief an die Petersburger Zeitung der Bolschewiki Nowaja Shisn für die Unterstützung der Arbeiterräte aus und korrigierte damit seine eigene Position. Zu den Räten sollten alle außer den Schwarzhundertern9 zugelassen werden. Lenin sprach sich auch dagegen aus, „vom Sowjet der Arbeiterdeputierten die Annahme des sozialdemokratischen Programms und den Eintritt in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands zu verlangen“10. Nun erschienen ihm für den politischen Kampf Sowjet und politische Partei gleichermaßen notwendig. Die Petersburger Bolschewiki, die vom Arbeiterrat die Anerkennung der Führungsrolle der SDAPR verlangt hatten, veröffentlichten Lenins Brief nicht einmal.

Strategie und Taktik

Hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die revolutionären MarxistInnen in ihren Debatten bis 1917 zwar inhaltlich zwischen Strategie und Taktik unterschieden, aber für beide Inhalte den gleichen Begriff der „Taktik“ benutzten. Taktik und Strategie kommen aus der altgriechischen Militärsprache, und verhalten sich wie die einzelne Schlacht zum Feldzug, der den Sieg bringen soll. In der marxistischen Debatte geht es um die nächsten praktischen Schritte (Taktik) im Verhältnis zum gesamten Weg der Veränderung (Strategie), der zur sozialistischen Revolution führt.


Aber auch die führenden menschewistischen Funktionäre wie Martow, Dan u.a., die im Herbst vom Ausland in die Hauptstadt Russlands eilten, spielten im Arbeiterrat von Petersburg keine große Rolle. Sogar ihre eigene menschewistische Parteiorganisation in St. Petersburg war ihnen entglitten. Dort gaben Parvus und Trotzki den Ton an. Letzterer amtierte als stellvertretender Vorsitzender des Arbeiterrates. Sie verfügten über die Zeitungen Russkaja Gaseta und Natschalo (Der Anfang), welche weit erfolgreicher und verbreiteter waren als die bolschewistische Zeitung Nowaja Shisn. Parvus und Trotzki gaben den Kurs der Petrograder Menschewiki vor, die für eine Arbeiterregierung eintraten. Dem entsprach Parvus’ und Trotzkis Konzeption der permanenten Revolution, nach der die Revolution mit der Lösung demokratischer Aufgaben beginne, um mit sozialistischen zu enden. In die Revolution mit ihren Streikwellen, der Bildung von Räten und dem bewaffneten Aufstand trat damit eine dritte strategische Konzeption, die mehr noch als die der Bolschewiki dem revolutionären Prozess entsprach. Auch wenn Lenin keine Differenzen zu Parvus-Trotzki im konkreten revolutionären Prozess sah (siehe Kasten), so ging er doch nicht so weit wie das revolutionäre Tandem, das unmittelbar die Diktatur des Proletariats anstrebte.

DIE AUSEINANDERSETZUNG UM DEN 8-STUNDEN- TAG


Der Parteiführung der menschewistischen SDAPR/OK ging diese revolutionäre Konzeption entschieden zu weit. Für sie trugen die Ereignisse nicht einen proletarisch-sozialistischen, sondern bürgerlich- demokratischen Charakter, und sie wollte sich mit dem Freiheitsmanifest des Zaren vom 17. Oktober 190511 und einer Duma begnügen. Die Menschewiki Martow, Plechanow, Dan und Tscherewanin sahen die Gefahr der „Selbstisolierung des Proletariats“ durch zu radikale Forderungen.

Die Differenzen weiteten sich ausgerechnet beim Kampf um den 8-Stunden- Tag aus. Diese Forderung ging unmittelbar aus den Streiks in Petersburg hervor, in denen die ArbeiterInnen nicht auf die unmittelbare Verbesserung ihrer materiellen Lage verzichten wollten. Sie verkürzten die Arbeitszeit in den Streikbetrieben eigenmächtig auf 8 Stunden und beendeten dann die Arbeit. Der Arbeiterrat von Petersburg unterstützte diese Aktionen, dekretierte Anfang November die Einführung des 8- Stunden-Tages und rief zum Generalstreik zu seiner Einführung auf.

Die menschewistische Parteiführung kritisierte im Unterschied zu ihrer eigenen Petersburger Lokalorganisation und den Bolschewiki den Kampf um die Arbeitszeitverkürzung aus strategischen Gründen. Im Allgemeinen waren natürlich auch die Menschewiki für den 8-Stunden- Tag. Aber in ihren Augen musste die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung die Fabrikbesitzer gegen die ArbeiterInnenklasse aufbringen und in die Arme des Zarismus treiben. Damit sahen die Menschewiki ihr strategisches Bündnis mit dem liberalen Bürgertum gegen den Zarismus gefährdet. Das Proletariat würde sich mit seinem Kampf nur isolieren. Als dann die Fabrikanten mit Aussperrung antworteten und die ArbeiterInnen den Streik abbrechen mussten, war das für die menschewistische Parteiführung nur eine Bestätigung ihrer Warnungen.

Während die russische Revolution von 1905 die Menschewiki in ihren Bündnisvorstellungen mit dem Bürgertum bestärkte, heilte sie das liberale Bürgertum von allen Bündnisabsichten mit den ArbeiterInnen. Dass der verlorene Kampf die Forderung nach dem 8-Stunden- Tag in das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse ein für allemal tief einbrannte, empfanden die Menschewiki eher als störend, auch wenn sie sich in der Praxis nicht gegen die Stimmung der ArbeiterInnenklasse stellen wollten. Dagegen stand ihre Petersburger Lokalorganisation mit Parvus und Trotzki an der Spitze des Kampfes für den 8- Stunden-Tag. Wie Lenin hielten beide das Bürgertum für gegenrevolutionär.

BEWAFFNETER AUFSTAND UND PARLAMENTARISCHER KAMPF


Der menschewistischen Parteiführung der SDAPR/ OK passte es auch nicht, dass die Bildung des Arbeiterdelegiertenrates keinen Spielraum für die Bildung einer Duma ließ. Ein entsprechender Versuch des zaristischen Innenministers Bulygin war im Herbst 1905 am Boykott der ArbeiterInnenklasse gescheitert.

Offensichtlich wurden die Differenzen zwischen der SDAPR/OK einerseits und der SDAPR/ZK und den Petersburger Menschewiki um Parvus-Trotzki andererseits, als es um die Frage des bewaffneten Aufstands ging. Nachdem der Vorsitzende des Petersburger Sowjets, Chrustalew, am 8. Dezember verhaftet worden war, wählte der Arbeiterdelegiertenrat ein provisorisches Präsidium, um den bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Dazu kam es in St. Petersburg nicht, weil der Arbeiterdelegiertenrat verhaftet wurde. In Moskau brach der bewaffnete Aufstand am 20. Dezember aus. Die Barrikadenkämpfe dauerten eine ganze Woche, bevor sie von zarentreuen Truppen niedergeschlagen werden konnten.

Die menschewistische Parteiführung war fassungslos. Der rechte Menschewik Tscherewanin erklärte, die „Taktik“ des Aufstandes sei „grundfalsch“. Auch Plechanow dozierte: „Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen“! Wie stellten sich die Menschewiki die „revolutionäre“ Entwicklung vor? „Das Proletariat konnte nur dadurch zum Sieg gelangen, dass es die Reichsduma als einen Hebelpunkt zum weiteren Kampf ausnützte. Nur mittels der Duma und nur durch diese konnte es die notwendige organische Verbindung mit dem Bauerntum und der Armee gewinnen, um den völligen Sturz des alten Regimes vorzubereiten und die Bahn zur vollständigen Volksherrschaft zu ebnen“12 . Während die Menschewiki die Freiheiten für die Parlamentsarbeit nutzen wollten, hatten die Bolschewiki sie zur Vorbereitung des bewaffneten Aufstand es genutzt.

Das Parlament war also der entscheidende Hebel, mit dem die Menschewiki das Zarenregime aus den Angeln heben wollten. Es war auch das ideale Organ, in dem sie mit den bürgerlichen Liberalen zusammenarbeiten konnten. Die Bolschewiki argumentierten nicht grundsätzlich gegen die Forderungen nach einer Konstituierenden Versammlung und nach demokratischen Rechten, wie sie die Menschewiki aufstellten. Aber sie konzentrierten sich auf ihre „Hauptforderungen des Jahres 1905: 1. Den Grund und Boden für die Bauern! 2. Den Achtstundentag für die Arbeiter! 3. Die Republik für sämtliche Bürger!“ 13 , die in den folgenden Jahren in Anlehnung an ein Märchen als die „drei Walfische“ populär wurden.

DIE STRATEGISCHEN UNTERSCHIEDE IN DER AGRARFRAGE

Mit der Verhaftung des Arbeiterdelegiertenrates in St. Petersburg und der Niederschlagung des bewaffneten Aufstands in Moskau hatte die russische Revolution ihren Höhepunkt überschritten, aber sie war noch nicht beendet. Wie sich die Wellen in konzentrischen Kreisen weiter ausdehnen, nachdem der ins Wasser geworfene Stein schon längst versunken ist, so breitete sich die Revolution erst auf dem Lande aus, nachdem sie in den Städten geschlagen war. In vielen Gouvernements kam es 1906 und 1907 zu Bauernaufständen, die ihr Echo in Erhebungen meist bäuerlicher Soldaten fanden (z. B. Aufstand der Garnison von Sveaborg Mitte 1906). Die Ausläufer der Revolution fanden ihren Abschluss mit dem Staatsstreich vom 16. Juni 1907, als die Periode der Stolypinschen Reaktion begann.

Die Bauernaufstände stellten die Agrarfrage auf die Tagesordnung. Von den 240 Mio. Desjatinen Ländereien im europäischen Russland besaß die Zarenfamilie 7 Mio., die Kirche 6 Mio., die Städte 2 Mio. und die 16.000 Großgrundbesitzer 65 Mio. Desjatinen14 . Somit gehörten dem Adel und dem Kapital ein Drittel aller Ländereien.

Der Stockholmer Vereinigungsparteitag der SDAPR vom April 1906 debattierte und entschied erneut über die Position der Sozialdemokratie in der Agrarfrage. Sowohl die menschewistische Mehrheit wie die bolschewistische Minderheit sprachen sich für die Enteignung des Großgrundbesitzes aus. Die Debatte drehte sich darum, wie der enteignete Grundbesitz aufgeteilt werden sollte. Die Delegierten der bolschewistischen Fraktion vertraten einheitlich die Forderung nach Nationalisierung des gesamten Grund und Bodens. Aber ihre Stimmen verteilten sich auf drei unterschiedliche Konzepte, von denen eines die Aufteilung des Landes an die Bauern vorsah. Während Lenin die Gründung von Bauernkomitees zur Verteilung des Bodens vorschlug, erhielt auf dem Parteitag die menschewistische Fraktion für ihre Forderung der „Munizipalisierung“ die Mehrheit, d. h. für die Übergabe des enteigneten Bodens an die Semstwoverwaltungen. Diese eingeschränkten Selbstverwaltungsorgane der ländlichen Kreise gehörten seit langem zu den Bastionen des Liberalismus mit seiner als „das dritte Element“ bezeichneten demokratischen Intelligenz und den liberalen Großgrundbesitzern. Die menschewistische Mehrheit in der wiedervereinigten Partei suchte auch in der Agrarfrage das strategische Bündnis mit dem Bürgertum.

Martow über Parvus - Trotzki

Julius Martow, der Theoretiker der Menschewiki, zur Stellung von Parvus-Trotzki in der russischen Revolution 1905: „Für Trotzki gab es in Russland keine sozialen Kräfte, die stark genug waren, die Ereignisse anders als in der radikalsten Weise zu lösen: die Bauernschaft sei zersplittert, unfähig zu einer selbständigen Organisation und spiele nur die Rolle des zerstörenden Faktors; die fortschrittlichen Elemente der städtischen Bourgeoisie seien gezwungen, entweder dem Proletariat zu folgen, oder den bürgerlichen Liberalismus zu unterstützen, der seinem Wesen nach konterrevolutionär sei. Wenn deshalb, nach dem Erscheinen des Proletariats auf der politischen Bühne, die Aufgabe einer radikalen Umwälzung auf die Tagesordnung gestellt sei, so münde nach dem 22. Januar auch die spontane Bewegung der Massen, die bei der Straßenmanifestation und beim politischen Streik geschlagen wurde, unmittelbar in den bewaffneten Aufstand aus. Dieser müsse deshalb von der Arbeiterpartei zum Mittelpunkt ihrer gesamten agitatorischen und organisatorischen Arbeit gemacht werden. (…) Parvus und Trotzki ergänzten diese Schlussfolgerung in der weiteren Polemik noch dahin, dass das Proletariat den Übergang der Gewalt in seine Hände nicht nur dazu benützen würde, um eine demokratische Reform durchzuführen, sondern auch um diese in einen unmittelbaren Prolog zu einer radikalen sozialen Umgestaltung zu verwandeln. Auf diese Weise sagten sich die beiden Autoren völlig von dem offiziellen Parteiprogramm los, soweit sie den ihm zugrunde liegenden Gedanken preisgaben, dass in Russland eine bürgerliche Revolution unvermeidlich sei“ 1
1 Martow, Julius, Geschichte der russischen Sozialdemokratie, Erlangen 1973 (Berlin 1926), S. 116 f.



LENIN UND TROTZKI

In der kommenden Zerfallsund Reaktionsperiode von 1907-1911 trat die Frage der Strategie gegenüber der Organisationsfrage in den Hintergrund. Erst mit dem revolutionären Aufschwung von 1912-1913 und erneut mit der Februar- und Oktoberrevolution von 1917 gewann die Strategiedebatte wieder die ihr zukommende Bedeutung.


Trotz gewisser Unterschiede zeigte sich in der Revolution von 1905 die Ähnlichkeit der Strategien Lenins und Trotzkis. Beide traten für den bewaffneten Aufstand ein. Forderten die Bolschewiki die „Revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“, so strebten Parvus-Trotzki die „Diktatur des Proletariats“ an. Setzten sich die Bolschewiki für eine „provisorische revolutionäre Regierung“ ein, so forderten Parvus-Trotzki eine „Arbeiterregierung“.

Die Suche nach dem Bündnis mit dem Bürgertum einschließlich der schwerpunktmäßigen Orientierung auf die Parlamentsarbeit führte die Menschewiki in das Lager der Gegenrevolution. Dagegen ermöglichten ähnliche strategische Vorstellungen nicht nur die organisatorische Vereinigung von Lenins Bolschewiki mit Trotzkis „Zwischenbezirksorganisation“, sondern auch die Verschmelzung zu einer einheitlichen Strategie in der Oktoberrevolution.


Natschalo

Der rechte Menschewik Tscherewanin über die Position von Parvus-Trotzki (beide nicht namentlich genannt) und ihre Petersburger Zeitung Natschalo: „Um in diesem gefährlichen, verhängnisvollen Moment die Kluft zwischen dem Proletariat und den Massen der Bourgeoisie und bürgerlichen Demokratie noch tiefer und klaffender zu machen, ließ die Sozialdemokratie in ihrem einflussreichsten Organ ,Natschalo‘ die Idee einer Revolution in Permanenz und des unmittelbaren Überganges der bürgerlichen Revolution in eine soziale Revolution auftauchen“. Tscherewanin zitiert weiter aus dem Artikel in Natschalo „Die Bauernfrage und die Revolution“, der entweder von Trotzki oder von Parvus stammt: „Die Position des Proletariats als Avantgarde im revolutionären Kampf, die unmittelbare Verbindung und Fühlung zwischen ihm und dem revolutionären Bauerntum, die Zaubermacht, die ihm die Armee hinzuzieht, das alles führt das Proletariat unvermeidlich zum Machtbesitz. Der vollständige Sieg der Revolution bedeutet den Sieg des Proletariats. Letzterer aber bedeutet einerseits eine Revolution in Permanenz. Das Proletariat verwirklicht die Grundaufgaben der Demokratie, und die Logik seines unmittelbaren Kampfes um die Sicherung seiner politischen Machtstellung stellt im gegebenen Moment rein sozialistische Probleme vor ihm auf. Die Revolution in Permanenz nimmt zwischen dem Minimumprogramm und dem Maximumprogramm Platz. Das ist nicht ein ,Ansturm‘, nicht ein Tag und nicht ein Monat – das ist eine ganze historische Epoche. Es wäre Unsinn, sie im voraus zu berechnen“. Tscherewanin schließt mit der Bemerkung: „So gestaltete sich die Ideologie, die das einflussreichste Organ der Sozialdemokratie, der damaligen Führerin des Proletariats, geltend machte1.“
1 Tscherewanin, S. 74 f.


Lenin über die Haltung des Natschalo:

„Die Taktik der Epoche des 'Wirbelsturms' hat die beiden Flügel der Sozialdemokratie nicht voneinander entfernt, sondern einander näher gebracht. Anstatt der einstigen Meinungsverschiedenheiten kam es zu einer einheitlichen Auffassung in der Frage des bewaffneten Aufstands. Sozialdemokraten beider Fraktionen arbeiteten in den Sowjets der Arbeiterdeputierten, diesen eigenartigen Organen einer embryonalen revolutionären Macht, zogen Soldaten und Bauern zu diesen Sowjets heran und gaben gemeinsam mit den kleinbürgerlichen revolutionären Parteien revolutionäre Manifeste heraus. Die einstigen Streitigkeiten der Epoche vor der Revolution wurden von der Solidarität in praktischen Fragen abgelöst. Das Ansteigen der revolutionären Welle rückte die Meinungsverschiedenheiten in den Hintergrund, erzwang die Anerkennung einer kämpferischen Taktik, schob die Frage der Duma beiseite, setzte die Frage des Aufstands auf die Tagesordnung und brachte die Sozialdemokratie und die revolutionäre bürgerliche Demokratie in der unmittelbaren nächstliegenden Arbeit näher zusammen. Im Sewerny Golos (Stimme des Nordens [A. d. Red.]) riefen die Menschewiki gemeinsam mit den Bolschewiki zum Streik und zum Aufstand auf, riefen sie die Arbeiter auf, den Kampf nicht einzustellen, solange die Macht nicht in ihren Händen sein wird. Die revolutionäre Situation selbst diktierte die praktischen Losungen. Man stritt sich lediglich um Einzelheiten in der Einschätzung der Ereignisse: Das Natschalo (Der Anfang) betrachtete zum Beispiel die Sowjets der Arbeiterdeputierten als Organe der revolutionären Selbstverwaltungen, die Nowaja Shisn (Neues Leben) dagegen sah in ihnen embryonale Organe der revolutionären Macht, die das Proletariat und die revolutionäre Demokratie vereinten. Das Natschalo neigte zur Diktatur des Proletariats. Die Nowaja Shisn setzte sich für die demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft ein. Aber zeigt uns denn nicht jede beliebige Periode in der Entwicklung jeder beliebigen europäischen sozialistischen Partei solche und ähnliche Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Sozialdemokratie?“1
1 Lenin-Werke, Bd. 10, S. 249 ff.

 

1 In Russland galt bis zur Oktoberrevolution
1917 der Julianische Kalender. Zu seiner Datierung
mussten im 20. Jahrhundert 13 Tage hinzugezählt werden,
um auf unsere heutige Zeitrechnung nach dem Gregorianischen
Kalender zu kommen. Nach der alten
Zeitrechnung fand der Blutsonntag am 9. Januar,
nach der neuen am 22. Januar statt. Die Februarrevolution
1917 wäre nach unserer heutigen Zeitrechnung im
März erfolgt, die Oktoberrevolution im November.

2 Außerdem existierten im russischen
Zarenreich der Algemeyne
Yidishe Arbeyte Bund in Lite,
Poylen un Rusland (Bund), die
Sozialdemokratische Partei Polens
und Litauens (SDPuL – die
Partei von Leo Jogiches, Adolf
Warskis und Rosa Luxemburgs),
die Lettische Sozialdemokratische
Arbeiterpartei (SDAPL) und
die Sozialdemokratische Partei
Finnlands als damals im Verhältnis
zur Bevölkerung stärkste sozialdemokratische
Partei Europas.

3 Lenin, W. I., Die Semstwokampagne
und er Plan der Iskra, in:
Lenin-Werke, Bd. 7, 1. Auflage,
Ostberlin 1956, S. 505 f.

4 Lenin, W. I., Die revolutionäre
demokratische Diktatur des Proletariats
und der Bauernschaft,
in: Lenin-Werke, Bd. 8, 2. Auflage,
Ostberlin 1959, S. 289.

5 LW Bd. 6, S. 380 ff.

6 LW, Bd. 3, S. 512f.; Bd. 1, S. 202;
Bd. 6, S. 383ff.

7 Duma = Parlament

8 LW, Bd. 9, S. 301 f. Die Kommission
des zaristischen Senators
Schidlowski hatte die Arbeiter
verpflichtet, in den Fabriken Delegierte
zu wählen, die ihr die Beschwerden
der Arbeiterschaft
vortragen sollten.

9 Eine von den zaristischen Repressionsorganen
ausgehaltene und
ausgerüstete Organisation, die
Pogrome unter der jüdischen Bevölkerung
veranstaltete und Terror
gegen die ArbeiterInnenbewegung
verbreitete.

10 LW, Bd. 10, S. 4 ff.

11 Einen Tag nachdem das Zarenregime
das Freiheitsmanifest vom
17. Oktober erlassen hatte, organisierte
die Regierung mit Hilfe
der Schwarzhunderterbanden in
85 Städten Pogrome gegen die jüdische
Bevölkerung und die Arbeiterbewegung.

12 A. Tscherewanin, Das Proletariat
und die russische Revolution,
Stuttgart 1908, S. 92. Im Folgenden
zitiert: Tscherewanin.

13 Flugblatt des Petersburger Komitees
der sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Russlands und des
Zentralkomitees der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Russlands
zur IV. Duma, in: Der Bote
des Organisationskomitees der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei
Russlands, Die Lage der
Sozialdemokratie in Russland,
Berlin 1912, S. 46.

14 LW, Bd. 6, S. 374 ff. 1 Desjatine
= ca. 1 Hektar.