Die
russische Revolution von 1905 setzte in ganz
Europa das Problem der revolutionären Strategie
neu auf die Tagesordnung. Es war während
des unaufhaltsamen Aufstiegs der internationalen
Sozialdemokratie, der um die Jahrhundertwende
vor dem Hintergrund einer lang anhaltenden wirtschaftlichen
Aufschwungphase stattfand und welche die beharrliche
Organisationsarbeit in den Vordergrund rückte,
völlig verdrängt worden. In der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Russlands wurden 1905 drei unterschiedliche
Strategien entwickelt, um auf den revolutionären
Prozess einzuwirken: die der Menschewiki, die
der Bolschewiki und die von Parvus-Trotzki,
welche die menschewistische Organisation in
der russischen Hauptstadt St. Petersburg leiteten.
Heute, wo sich fast alle Linken bis hin zu ihrem
sozialistischen Flügel auf Sofortforderungen,
d. h. auf die „Taktik“, beschränken,
ist es angebracht, an die „Strategie“
zu erinnern.
Der
Blutsonntag am 9. Januar 19051
, als
eine Demonstration in der Hauptstadt St. Petersburg
dem Zaren eine Protestresolution überreichen
wollte und Hunderte niedergeschossen wurden,
löste die erste russische Revolution aus
und erschütterte die letzten Illusionen
der ArbeiterInnenklasse in den Zarismus.
Petersburg 1905
Ausgehend von der Hauptstadt durchrasten Wellen
von Streiks das russische Reich. In zwei Monaten
streikten in 122 Städten über eine
Million ArbeiterInnen. Die meisten Proteste
fanden in den Randgebieten des Riesenreiches
wie dem Kaukasus, Polen oder im Baltikum statt,
aber ihr Zentrum lag in St. Petersburg. Die
Streiks trafen die Monarchie auch deshalb, weil
sich Russland mitten im Krieg mit Japan befand.
Demonstranten am Petersburger
Blutsonntag
SPALTUNG
WÄHREND DER REVOLUTION
Zwar enthielt das Manifest der DemonstrantInnen
vom 9. Januar 1905 auch sozialdemokratische
Forderungen wie die nach Wahlen zu einer parlamentarischen
Versammlung auf der Grundlage allgemeinen, geheimen,
direkten und gleichen Stimmrechts. Aber nicht
zufällig stand an der Spitze der DemonstrantInnen
zum Zaren mit dem Popen Gapon ein Agent des
zaristischen Geheimdienstes Ochrana.
Denn die Sozialdemokratie war gerade mit sich
selbst beschäftigt. Während in Russland
mit den Massenstreiks eine neue Kampfform entstand,
spalteten sich im April 1905 die beiden maßgebenden
Fraktionen der SozialdemokratischenArbeiterpartei
Russlands (SDAPR) in zwei unabhängig voneinander
agierende Parteien. Die Mehrheit (Bolschewiki)
nannte sich SDAPR/ZK (Zentralkomitee) und hielt
vom 12. bis zum 27. April ihren III. Parteitag
in London ab. Die Minderheit (Menschewiki) bezeichnete
sich als SDAPR/OK (Organisationskomitee) und
richtete im Mai ihre Konferenz in Genf aus2
. Während entscheidender
Monate der Revolution weilten die führenden
Parteimitglieder im Ausland. Das schuf Raum
für andere. Als einziger bekannter Funktionär
aus dem Exil traf im Februar 1905 ein fünfundzwanzigjähriger
junger Mann in Russland ein – Leo Trotzki.
Er hatte 1903 zur Fraktion der Menschewiki gehört,
sie aber wegen strategischer Differenzen verlassen.
Ohne fraktionelle Anbindung und Verpflichtungen
hatte Trotzki die Zeit, sich in der Revolution
zu engagieren, und die Offenheit, mit beiden
sozialdemokratischen Richtungen zusammenzuarbeiten.
REVOLUTIONÄRE
KRITIK ODER PÄDAGOGIK?
Im Unterschied zu Westeuropa hatte in Russland
keine bürgerliche Revolution stattgefunden.
Die von den bürgerlichen Revolutionen in
Westeuropa gestellten demokratischen Aufgaben
wie Sturz der Adelsherrschaft und Errichtung
der Republik, Enteignung des Großgrundbesitzes
im Interesse der Masse der Bauernschaft, Gleichberechtigung
der bisher unterdrückten Nationalitäten
usw. waren ungelöst. Gleichsam als liege
die kommende Revolution in der Luft, begannen
Ende 1904 die Diskussionen über die revolutionäre
Strategie (siehe Kasten) auch innerhalb der
SDAPR. Doch erst im Verlauf der Revolution von
1905, nachdem sich die Partei bereits gespalten
hatte, bildeten sich die strategischen Unterschiede
deutlich innerhalb der Sozialdemokratie heraus.
Der II. Parteitag der SDAPR von 1903 hatte entgegen
dem Willen Plechanows und Lenins eine Resolution
von Potressow, Axelrod und Martow angenommen,
die unter bestimmten Bedingungen Bündnisse
mit den Liberalen, den späteren Konstitutionellen
Demokraten bzw. „Kadetten“, für
zulässig hielt. Als im Herbst 1904 die
Liberalen in Russland Veranstaltungen der Semstwos,
der Verwaltungsgremien der Gouvernements, organisierten,
schlugen die Menschewiki eine Kampagne vor,
die die liberale Semstwokampagne unterstützen
und weitertreiben sollte. Das lehnten Lenin
und die Bolschewiki ab. Sie kritisierten am
menschewistischen „Plan“, dass er,
um die bürgerliche Opposition zu beeinflussen,
seinen Schwerpunkt darauf lege, die Gegensätze
zwischen der revolutionären Sozialdemokratie
und den bürgerlichen Liberalen abzuschwächen.
Das werde zur Klassenversöhnung führen.
Um die Liberalen zu beeinflussen, müsse
die revolutionäre Kritik an ihren Halbheiten
im Mittelpunkt stehen3.
STREITPUNKTE
REGIERUNGSBETEILIGUNG UND PARLAMENTARISMUS
Einen weiteren Streitpunkt warf der Menschewik
Martynow mit der Frage auf, ob sich die SDAPR
an einer „provisorischen revolutionären
Regierung“ beteiligen dürfe. Martynow
verneinte eine solche Regierungsbeteiligung.
Nach seiner Ansicht könne die Sozialdemokratie
als Partei des Proletariats die Macht nicht
in den Händen halten, ohne den Versuch
zu machen, ihr Maximalprogramm zu verwirklichen,
d. h. ohne zu versuchen, die sozialistische
Umwälzung durchzuführen. Entsprechend
dem Schema, dass es sich in Russland um eine
bürgerliche Revolution handle, prophezeite
Martynow in diesem Fall eine unvermeidliche
Niederlage. Die Beteiligung an einer „provisorischen
revolutionären Regierung“ würde
ungewollt der Reaktion in die Hände arbeiten4.
Lenin bejahte dagegen die Beteiligung an einer
Regierung, die aus dem revolutionären
Sturz des Zarismus hervorgehe.
Hinter der Frage der Regierungsbeteiligung stand
die Frage der Klassenzusammenarbeit. Angesichts
der Sozialstruktur Russlands lehnten die SozialdemokratInnen
keineswegs die Klassenzusammenarbeit ab, sondern
hielten ihre Bejahung für eine der Grundbedingungen
für den Sturz des Zarismus. Die Frage war
nur, welche Klassen in der Revolution zusammenarbeiten
sollten, um die zaristische Herrschaft, die
sich auf 130 000 Gutsbesitzer und eine ausgedehnte
Staatsbürokratie stützte, zu beseitigen?
Die Industrie in Russland war zwar modern, hochkonzentriert
und auf dem neusten Stand der Technik, aber
die Bourgeoisie als Klasse war politisch schwach.
Zudem stand sie unter der Fuchtel des Auslandskapitals.
Die Klasse der Bauern bestand aus verschiedenen
Schichten. Von 10 Mio. Bauernhöfen besaßen
3 Millionen keine Pferde. Für Lenin war
der pferdlose Bauer „ein Proletarier“,
der sich mit Lohnarbeit durchschlagen müsse.
Dreieinhalb Millionen Höfe – die
Dorfarmut – besaßen nur je ein Pferd.
Etwa zwei Millionen Höfe besaßen
je 2 Pferde und waren damit Mittelbauern. Anderthalb
Millionen reiche Bauernhöfe besaßen
durchschnittlich je 5 Pferde5.
Auch die ArbeiterInnenklasse war alles andere
als homogen. 1890 beschäftigten die kapitalistischen
Großbetriebe 1.432 Mio. Lohnabhängige.
Zusätzlich malochten rund 1,2 Mio. ArbeiterInnen
auf den Hütten, Bergwerken und bei der
Eisenbahn. Dazu kamen ca. 4 Mio. Kustare, formal
Selbständige, tatsächlich aber abhängig
Beschäftigte, die in der Hausindustrie
für Arbeitslohn arbeiteten. Außerdem
mussten zur ArbeiterInnenklasse die acht oder
neun Millionen Wanderarbeiter gerechnet werden,
die „nur dem Namen nach Bauern, in Wirklichkeit
aber Lohnarbeiter“ waren und noch eine
Million Knechte6.
Nach Lenin umfasste die Arbeiterklasse des Zarenreiches
also nicht nur die FabrikarbeiterInnen, sondern
immerhin rund 14,5 bis 15,5 Mio. Menschen. Es
ist ein weit verbreiteter historischer Irrtum
die ArbeiterInnenklasse Russlands auf die bloße
Fabrikarbeiterschaft zu reduzieren.
Um die zaristische Herrschaft zu stürzen
und die bürgerliche Revolution durchzuführen,
sollte nach Meinung der Menschewiki die ArbeiterInnenklasse
mit dem Bürgertum zusammengehen. Welche
Sogwirkung auf die Bauernschaft diese Bündniskonstellation
auch immer unterstellte: Sie fußte auf
dem Zusammengehen zweier absoluter Minderheiten
der Gesellschaft und war damit im Kern undemokratisch
und ... unrealistisch. Dagegen schworen die
Bolschewiki auf die „revolutionär-
demokratische Diktatur des Proletariats und
der Bauernschaft“, die aber über
eine bürgerliche Republik nicht hinausgehen
sollte. Ihre Bündnisvorstellung umfasste
die Mehrheit der Bevölkerung.
DIE ARBEITERRÄTE UND LENIN
Der strategischen Debatte widmete Lenin seine
bekannte Schrift „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie
in der demokratischen Revolution“. Im
Juli 1905 erschienen, war sie bereits nach wenigen
Monaten veraltet, weil die Revolution längst
weiter fortgeschritten war. Womit Lenin nicht
gerechnet hatte und auch nicht rechnen konnte,
war das Entstehen von Arbeiterräten. Die
Streikwellen hatten im September 1905 anlässlich
der geplanten Dumawahl7
zu dem Vorschlag dermenschewistischen Parteiorganisation
von St. Petersburg geführt, die Duma zu
boykottieren, aber „in den Fabriken, Werkstätten
und Betriebsabteilungen ebenso wie seinerzeit
in die Schidlowski-Kommission Vertreter zu wählen“
8.
Lenin war gegen diese Delegiertenwahl. Erst
am 5. November sprach er sich in einem Brief
an die Petersburger Zeitung der Bolschewiki
Nowaja Shisn für die Unterstützung
der Arbeiterräte aus und korrigierte damit
seine eigene Position. Zu den Räten sollten
alle außer den Schwarzhundertern9
zugelassen werden. Lenin sprach sich auch dagegen
aus, „vom Sowjet der Arbeiterdeputierten
die Annahme des sozialdemokratischen Programms
und den Eintritt in die Sozialdemokratische
Arbeiterpartei Russlands zu verlangen“10.
Nun erschienen ihm für den politischen
Kampf Sowjet und politische Partei gleichermaßen
notwendig. Die Petersburger Bolschewiki, die
vom Arbeiterrat die Anerkennung der Führungsrolle
der SDAPR verlangt hatten, veröffentlichten
Lenins Brief nicht einmal.
Strategie
und Taktik
Hier
sei noch einmal darauf hingewiesen, dass
die revolutionären MarxistInnen in
ihren Debatten bis 1917 zwar inhaltlich
zwischen Strategie und Taktik unterschieden,
aber für beide Inhalte den gleichen
Begriff der „Taktik“ benutzten.
Taktik und Strategie kommen aus der altgriechischen
Militärsprache, und verhalten sich
wie die einzelne Schlacht zum Feldzug,
der den Sieg bringen soll. In der marxistischen
Debatte geht es um die nächsten praktischen
Schritte (Taktik) im Verhältnis zum
gesamten Weg der Veränderung (Strategie),
der zur sozialistischen Revolution führt.
|
Aber auch die führenden menschewistischen
Funktionäre wie Martow, Dan u.a., die im
Herbst vom Ausland in die Hauptstadt Russlands
eilten, spielten im Arbeiterrat von Petersburg
keine große Rolle. Sogar ihre eigene menschewistische
Parteiorganisation in St. Petersburg war ihnen
entglitten. Dort gaben Parvus und Trotzki den
Ton an. Letzterer amtierte als stellvertretender
Vorsitzender des Arbeiterrates. Sie verfügten
über die Zeitungen Russkaja Gaseta und
Natschalo (Der Anfang), welche weit erfolgreicher
und verbreiteter waren als die bolschewistische
Zeitung Nowaja Shisn. Parvus und Trotzki gaben
den Kurs der Petrograder Menschewiki vor, die
für eine Arbeiterregierung eintraten. Dem
entsprach Parvus’ und Trotzkis Konzeption
der permanenten Revolution, nach der die Revolution
mit der Lösung demokratischer Aufgaben
beginne, um mit sozialistischen zu enden. In
die Revolution mit ihren Streikwellen, der Bildung
von Räten und dem bewaffneten Aufstand
trat damit eine dritte strategische Konzeption,
die mehr noch als die der Bolschewiki dem revolutionären
Prozess entsprach. Auch wenn Lenin keine Differenzen
zu Parvus-Trotzki im konkreten revolutionären
Prozess sah (siehe Kasten), so ging er doch
nicht so weit wie das revolutionäre Tandem,
das unmittelbar die Diktatur des Proletariats
anstrebte.
DIE AUSEINANDERSETZUNG UM DEN 8-STUNDEN- TAG
Der Parteiführung der menschewistischen
SDAPR/OK ging diese revolutionäre Konzeption
entschieden zu weit. Für sie trugen die
Ereignisse nicht einen proletarisch-sozialistischen,
sondern bürgerlich- demokratischen Charakter,
und sie wollte sich mit dem Freiheitsmanifest
des Zaren vom 17. Oktober 190511
und einer Duma begnügen. Die Menschewiki
Martow, Plechanow, Dan und Tscherewanin sahen
die Gefahr der „Selbstisolierung des Proletariats“
durch zu radikale Forderungen.
Die Differenzen weiteten sich ausgerechnet beim
Kampf um den 8-Stunden- Tag aus. Diese Forderung
ging unmittelbar aus den Streiks in Petersburg
hervor, in denen die ArbeiterInnen nicht auf
die unmittelbare Verbesserung ihrer materiellen
Lage verzichten wollten. Sie verkürzten
die Arbeitszeit in den Streikbetrieben eigenmächtig
auf 8 Stunden und beendeten dann die Arbeit.
Der Arbeiterrat von Petersburg unterstützte
diese Aktionen, dekretierte Anfang November
die Einführung des 8- Stunden-Tages und
rief zum Generalstreik zu seiner Einführung
auf.
Die menschewistische Parteiführung kritisierte
im Unterschied zu ihrer eigenen Petersburger
Lokalorganisation und den Bolschewiki den Kampf
um die Arbeitszeitverkürzung aus strategischen
Gründen. Im Allgemeinen waren natürlich
auch die Menschewiki für den 8-Stunden-
Tag. Aber in ihren Augen musste die Forderung
nach Arbeitszeitverkürzung die Fabrikbesitzer
gegen die ArbeiterInnenklasse aufbringen und
in die Arme des Zarismus treiben. Damit sahen
die Menschewiki ihr strategisches Bündnis
mit dem liberalen Bürgertum gegen den Zarismus
gefährdet. Das Proletariat würde sich
mit seinem Kampf nur isolieren. Als dann die
Fabrikanten mit Aussperrung antworteten und
die ArbeiterInnen den Streik abbrechen mussten,
war das für die menschewistische Parteiführung
nur eine Bestätigung ihrer Warnungen.
Während die russische Revolution von 1905
die Menschewiki in ihren Bündnisvorstellungen
mit dem Bürgertum bestärkte, heilte
sie das liberale Bürgertum von allen Bündnisabsichten
mit den ArbeiterInnen. Dass der verlorene Kampf
die Forderung nach dem 8-Stunden- Tag in das
Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse ein für
allemal tief einbrannte, empfanden die Menschewiki
eher als störend, auch wenn sie sich in
der Praxis nicht gegen die Stimmung der ArbeiterInnenklasse
stellen wollten. Dagegen stand ihre Petersburger
Lokalorganisation mit Parvus und Trotzki an
der Spitze des Kampfes für den 8- Stunden-Tag.
Wie Lenin hielten beide das Bürgertum für
gegenrevolutionär.
BEWAFFNETER AUFSTAND UND PARLAMENTARISCHER KAMPF
Der menschewistischen Parteiführung der
SDAPR/ OK passte es auch nicht, dass die Bildung
des Arbeiterdelegiertenrates keinen Spielraum
für die Bildung einer Duma ließ.
Ein entsprechender Versuch des zaristischen
Innenministers Bulygin war im Herbst 1905 am
Boykott der ArbeiterInnenklasse gescheitert.
Offensichtlich wurden die Differenzen zwischen
der SDAPR/OK einerseits und der SDAPR/ZK und
den Petersburger Menschewiki um Parvus-Trotzki
andererseits, als es um die Frage des bewaffneten
Aufstands ging. Nachdem der Vorsitzende des
Petersburger Sowjets, Chrustalew, am 8. Dezember
verhaftet worden war, wählte der Arbeiterdelegiertenrat
ein provisorisches Präsidium, um den bewaffneten
Aufstand vorzubereiten. Dazu kam es in St. Petersburg
nicht, weil der Arbeiterdelegiertenrat verhaftet
wurde. In Moskau brach der bewaffnete Aufstand
am 20. Dezember aus. Die Barrikadenkämpfe
dauerten eine ganze Woche, bevor sie von zarentreuen
Truppen niedergeschlagen werden konnten.
Die menschewistische Parteiführung war
fassungslos. Der rechte Menschewik Tscherewanin
erklärte, die „Taktik“ des
Aufstandes sei „grundfalsch“. Auch
Plechanow dozierte: „Man hätte nicht
zu den Waffen greifen sollen“! Wie stellten
sich die Menschewiki die „revolutionäre“
Entwicklung vor? „Das Proletariat konnte
nur dadurch zum Sieg gelangen, dass es die Reichsduma
als einen Hebelpunkt zum weiteren Kampf ausnützte.
Nur mittels der Duma und nur durch diese konnte
es die notwendige organische Verbindung mit
dem Bauerntum und der Armee gewinnen, um den
völligen Sturz des alten Regimes vorzubereiten
und die Bahn zur vollständigen Volksherrschaft
zu ebnen“12
. Während die Menschewiki die Freiheiten
für die Parlamentsarbeit nutzen wollten,
hatten die Bolschewiki sie zur Vorbereitung
des bewaffneten Aufstand es genutzt.
Das Parlament war also der entscheidende Hebel,
mit dem die Menschewiki das Zarenregime aus
den Angeln heben wollten. Es war auch das ideale
Organ, in dem sie mit den bürgerlichen
Liberalen zusammenarbeiten konnten. Die Bolschewiki
argumentierten nicht grundsätzlich gegen
die Forderungen nach einer Konstituierenden
Versammlung und nach demokratischen Rechten,
wie sie die Menschewiki aufstellten. Aber sie
konzentrierten sich auf ihre „Hauptforderungen
des Jahres 1905: 1. Den Grund und Boden für
die Bauern! 2. Den Achtstundentag für die
Arbeiter! 3. Die Republik für sämtliche
Bürger!“ 13
, die in den folgenden Jahren in Anlehnung an
ein Märchen als die „drei Walfische“
populär wurden.
DIE
STRATEGISCHEN UNTERSCHIEDE IN DER AGRARFRAGE
Mit der Verhaftung des Arbeiterdelegiertenrates
in St. Petersburg und der Niederschlagung des
bewaffneten Aufstands in Moskau hatte die russische
Revolution ihren Höhepunkt überschritten,
aber sie war noch nicht beendet. Wie sich die
Wellen in konzentrischen Kreisen weiter ausdehnen,
nachdem der ins Wasser geworfene Stein schon
längst versunken ist, so breitete sich
die Revolution erst auf dem Lande aus, nachdem
sie in den Städten geschlagen war. In vielen
Gouvernements kam es 1906 und 1907 zu Bauernaufständen,
die ihr Echo in Erhebungen meist bäuerlicher
Soldaten fanden (z. B. Aufstand der Garnison
von Sveaborg Mitte 1906). Die Ausläufer
der Revolution fanden ihren Abschluss mit dem
Staatsstreich vom 16. Juni 1907, als die Periode
der Stolypinschen Reaktion begann.
Die Bauernaufstände stellten die Agrarfrage
auf die Tagesordnung. Von den 240 Mio. Desjatinen
Ländereien im europäischen Russland
besaß die Zarenfamilie 7 Mio., die Kirche
6 Mio., die Städte 2 Mio. und die 16.000
Großgrundbesitzer 65 Mio. Desjatinen14
. Somit gehörten dem Adel und dem Kapital
ein Drittel aller Ländereien.
Der Stockholmer Vereinigungsparteitag der SDAPR
vom April 1906 debattierte und entschied erneut
über die Position der Sozialdemokratie
in der Agrarfrage. Sowohl die menschewistische
Mehrheit wie die bolschewistische Minderheit
sprachen sich für die Enteignung des Großgrundbesitzes
aus. Die Debatte drehte sich darum, wie der
enteignete Grundbesitz aufgeteilt werden sollte.
Die Delegierten der bolschewistischen Fraktion
vertraten einheitlich die Forderung nach Nationalisierung
des gesamten Grund und Bodens. Aber ihre Stimmen
verteilten sich auf drei unterschiedliche Konzepte,
von denen eines die Aufteilung des Landes an
die Bauern vorsah. Während Lenin die Gründung
von Bauernkomitees zur Verteilung des Bodens
vorschlug, erhielt auf dem Parteitag die menschewistische
Fraktion für ihre Forderung der „Munizipalisierung“
die Mehrheit, d. h. für die Übergabe
des enteigneten Bodens an die Semstwoverwaltungen.
Diese eingeschränkten Selbstverwaltungsorgane
der ländlichen Kreise gehörten seit
langem zu den Bastionen des Liberalismus mit
seiner als „das dritte Element“
bezeichneten demokratischen Intelligenz und
den liberalen Großgrundbesitzern. Die
menschewistische Mehrheit in der wiedervereinigten
Partei suchte auch in der Agrarfrage das strategische
Bündnis mit dem Bürgertum.
Martow
über Parvus - Trotzki
Julius
Martow, der Theoretiker der Menschewiki,
zur Stellung von Parvus-Trotzki in der
russischen Revolution 1905: „Für
Trotzki gab es in Russland keine sozialen
Kräfte, die stark genug waren, die
Ereignisse anders als in der radikalsten
Weise zu lösen: die Bauernschaft
sei zersplittert, unfähig zu einer
selbständigen Organisation und spiele
nur die Rolle des zerstörenden Faktors;
die fortschrittlichen Elemente der städtischen
Bourgeoisie seien gezwungen, entweder
dem Proletariat zu folgen, oder den bürgerlichen
Liberalismus zu unterstützen, der
seinem Wesen nach konterrevolutionär
sei. Wenn deshalb, nach dem Erscheinen
des Proletariats auf der politischen Bühne,
die Aufgabe einer radikalen Umwälzung
auf die Tagesordnung gestellt sei, so
münde nach dem 22. Januar auch die
spontane Bewegung der Massen, die bei
der Straßenmanifestation und beim
politischen Streik geschlagen wurde, unmittelbar
in den bewaffneten Aufstand aus. Dieser
müsse deshalb von der Arbeiterpartei
zum Mittelpunkt ihrer gesamten agitatorischen
und organisatorischen Arbeit gemacht werden.
(…) Parvus und Trotzki ergänzten
diese Schlussfolgerung in der weiteren
Polemik noch dahin, dass das Proletariat
den Übergang der Gewalt in seine
Hände nicht nur dazu benützen
würde, um eine demokratische Reform
durchzuführen, sondern auch um diese
in einen unmittelbaren Prolog zu einer
radikalen sozialen Umgestaltung zu verwandeln.
Auf diese Weise sagten sich die beiden
Autoren völlig von dem offiziellen
Parteiprogramm los, soweit sie den ihm
zugrunde liegenden Gedanken preisgaben,
dass in Russland eine bürgerliche
Revolution unvermeidlich sei“
1
1
Martow, Julius, Geschichte der russischen
Sozialdemokratie, Erlangen 1973 (Berlin
1926), S. 116 f. |
LENIN
UND TROTZKI
In der kommenden Zerfallsund Reaktionsperiode
von 1907-1911 trat die Frage der Strategie gegenüber
der Organisationsfrage in den Hintergrund. Erst
mit dem revolutionären Aufschwung von 1912-1913
und erneut mit der Februar- und Oktoberrevolution
von 1917 gewann die Strategiedebatte wieder
die ihr zukommende Bedeutung.
Trotz gewisser Unterschiede zeigte sich in der
Revolution von 1905 die Ähnlichkeit der
Strategien Lenins und Trotzkis. Beide traten
für den bewaffneten Aufstand ein. Forderten
die Bolschewiki die „Revolutionär-demokratische
Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“,
so strebten Parvus-Trotzki die „Diktatur
des Proletariats“ an. Setzten sich die
Bolschewiki für eine „provisorische
revolutionäre Regierung“ ein, so
forderten Parvus-Trotzki eine „Arbeiterregierung“.
Die Suche nach dem Bündnis mit dem Bürgertum
einschließlich der schwerpunktmäßigen
Orientierung auf die Parlamentsarbeit führte
die Menschewiki in das Lager der Gegenrevolution.
Dagegen ermöglichten ähnliche strategische
Vorstellungen nicht nur die organisatorische
Vereinigung von Lenins Bolschewiki mit Trotzkis
„Zwischenbezirksorganisation“, sondern
auch die Verschmelzung zu einer einheitlichen
Strategie in der Oktoberrevolution.
Natschalo
Der rechte Menschewik Tscherewanin
über die Position von Parvus-Trotzki
(beide nicht namentlich genannt) und ihre
Petersburger Zeitung Natschalo: „Um
in diesem gefährlichen, verhängnisvollen
Moment die Kluft zwischen dem Proletariat
und den Massen der Bourgeoisie und bürgerlichen
Demokratie noch tiefer und klaffender
zu machen, ließ die Sozialdemokratie
in ihrem einflussreichsten Organ ,Natschalo‘
die Idee einer Revolution in Permanenz
und des unmittelbaren Überganges
der bürgerlichen Revolution in eine
soziale Revolution auftauchen“.
Tscherewanin zitiert weiter aus dem Artikel
in Natschalo „Die Bauernfrage und
die Revolution“, der entweder von
Trotzki oder von Parvus stammt: „Die
Position des Proletariats als Avantgarde
im revolutionären Kampf, die unmittelbare
Verbindung und Fühlung zwischen ihm
und dem revolutionären Bauerntum,
die Zaubermacht, die ihm die Armee hinzuzieht,
das alles führt das Proletariat unvermeidlich
zum Machtbesitz. Der vollständige
Sieg der Revolution bedeutet den Sieg
des Proletariats. Letzterer aber bedeutet
einerseits eine Revolution in Permanenz.
Das Proletariat verwirklicht die Grundaufgaben
der Demokratie, und die Logik seines unmittelbaren
Kampfes um die Sicherung seiner politischen
Machtstellung stellt im gegebenen Moment
rein sozialistische Probleme vor ihm auf.
Die Revolution in Permanenz nimmt zwischen
dem Minimumprogramm und dem Maximumprogramm
Platz. Das ist nicht ein ,Ansturm‘,
nicht ein Tag und nicht ein Monat –
das ist eine ganze historische Epoche.
Es wäre Unsinn, sie im voraus zu
berechnen“. Tscherewanin schließt
mit der Bemerkung: „So gestaltete
sich die Ideologie, die das einflussreichste
Organ der Sozialdemokratie, der damaligen
Führerin des Proletariats, geltend
machte1.“
1 Tscherewanin, S. 74 f.
|
Lenin
über die Haltung des Natschalo:
„Die Taktik der Epoche
des 'Wirbelsturms' hat die beiden Flügel
der Sozialdemokratie nicht voneinander
entfernt, sondern einander näher
gebracht. Anstatt der einstigen Meinungsverschiedenheiten
kam es zu einer einheitlichen Auffassung
in der Frage des bewaffneten Aufstands.
Sozialdemokraten beider Fraktionen arbeiteten
in den Sowjets der Arbeiterdeputierten,
diesen eigenartigen Organen einer embryonalen
revolutionären Macht, zogen Soldaten
und Bauern zu diesen Sowjets heran und
gaben gemeinsam mit den kleinbürgerlichen
revolutionären Parteien revolutionäre
Manifeste heraus. Die einstigen Streitigkeiten
der Epoche vor der Revolution wurden von
der Solidarität in praktischen Fragen
abgelöst. Das Ansteigen der revolutionären
Welle rückte die Meinungsverschiedenheiten
in den Hintergrund, erzwang die Anerkennung
einer kämpferischen Taktik, schob
die Frage der Duma beiseite, setzte die
Frage des Aufstands auf die Tagesordnung
und brachte die Sozialdemokratie und die
revolutionäre bürgerliche Demokratie
in der unmittelbaren nächstliegenden
Arbeit näher zusammen. Im Sewerny
Golos (Stimme des Nordens [A. d. Red.])
riefen die Menschewiki gemeinsam mit den
Bolschewiki zum Streik und zum Aufstand
auf, riefen sie die Arbeiter auf, den
Kampf nicht einzustellen, solange die
Macht nicht in ihren Händen sein
wird. Die revolutionäre Situation
selbst diktierte die praktischen Losungen.
Man stritt sich lediglich um Einzelheiten
in der Einschätzung der Ereignisse:
Das Natschalo (Der Anfang) betrachtete
zum Beispiel die Sowjets der Arbeiterdeputierten
als Organe der revolutionären Selbstverwaltungen,
die Nowaja Shisn (Neues Leben) dagegen
sah in ihnen embryonale Organe der revolutionären
Macht, die das Proletariat und die revolutionäre
Demokratie vereinten. Das Natschalo neigte
zur Diktatur des Proletariats. Die Nowaja
Shisn setzte sich für die demokratische
Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft
ein. Aber zeigt uns denn nicht jede beliebige
Periode in der Entwicklung jeder beliebigen
europäischen sozialistischen Partei
solche und ähnliche Meinungsverschiedenheiten
innerhalb der Sozialdemokratie?“1
1 Lenin-Werke, Bd. 10, S. 249 ff. |
1
In Russland galt bis zur Oktoberrevolution
1917 der Julianische Kalender. Zu seiner Datierung
mussten im 20. Jahrhundert 13 Tage hinzugezählt
werden,
um auf unsere heutige Zeitrechnung nach dem
Gregorianischen
Kalender zu kommen. Nach der alten
Zeitrechnung fand der Blutsonntag am 9. Januar,
nach der neuen am 22. Januar statt. Die Februarrevolution
1917 wäre nach unserer heutigen Zeitrechnung
im
März erfolgt, die Oktoberrevolution im
November.
2
Außerdem existierten im russischen
Zarenreich der Algemeyne
Yidishe Arbeyte Bund in Lite,
Poylen un Rusland (Bund), die
Sozialdemokratische Partei Polens
und Litauens (SDPuL – die
Partei von Leo Jogiches, Adolf
Warskis und Rosa Luxemburgs),
die Lettische Sozialdemokratische
Arbeiterpartei (SDAPL) und
die Sozialdemokratische Partei
Finnlands als damals im Verhältnis
zur Bevölkerung stärkste sozialdemokratische
Partei Europas.
3
Lenin, W. I., Die Semstwokampagne
und er Plan der Iskra, in:
Lenin-Werke, Bd. 7, 1. Auflage,
Ostberlin 1956, S. 505 f.
4
Lenin, W. I., Die revolutionäre
demokratische Diktatur des Proletariats
und der Bauernschaft,
in: Lenin-Werke, Bd. 8, 2. Auflage,
Ostberlin 1959, S. 289.
5
LW Bd. 6, S. 380 ff.
6
LW, Bd. 3, S. 512f.; Bd. 1, S. 202;
Bd. 6, S. 383ff.
7
Duma = Parlament
8
LW, Bd. 9, S. 301 f. Die Kommission
des zaristischen Senators
Schidlowski hatte die Arbeiter
verpflichtet, in den Fabriken Delegierte
zu wählen, die ihr die Beschwerden
der Arbeiterschaft
vortragen sollten.
9
Eine von den zaristischen Repressionsorganen
ausgehaltene und
ausgerüstete Organisation, die
Pogrome unter der jüdischen Bevölkerung
veranstaltete und Terror
gegen die ArbeiterInnenbewegung
verbreitete.
10
LW, Bd. 10, S. 4 ff.
11
Einen Tag nachdem das Zarenregime
das Freiheitsmanifest vom
17. Oktober erlassen hatte, organisierte
die Regierung mit Hilfe
der Schwarzhunderterbanden in
85 Städten Pogrome gegen die jüdische
Bevölkerung und die Arbeiterbewegung.
12
A. Tscherewanin, Das Proletariat
und die russische Revolution,
Stuttgart 1908, S. 92. Im Folgenden
zitiert: Tscherewanin.
13
Flugblatt des Petersburger Komitees
der sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Russlands und des
Zentralkomitees der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Russlands
zur IV. Duma, in: Der Bote
des Organisationskomitees der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei
Russlands, Die Lage der
Sozialdemokratie in Russland,
Berlin 1912, S. 46.
14
LW, Bd. 6, S. 374 ff. 1 Desjatine
= ca. 1 Hektar. |