Bildung:
Bologna
Bildungspolitik
des Spätkapitalismus
von
Peter Streckeisen, Dezember 2003
„Bologna“
heisst das Zauberwort, um das sich zu Beginn
des neuen Jahrtausends sozial-demokratische,
liberale und konservative BildungspolitikerInnen
zu scharen vermögen. Die einen versprechen
sich davon mehr Effizienz und eine bessere Qualität
des „Rohstoffs Bildung“, andere
setzen auf die Entstehung eines liberalisierten
Bildungsmarkts auf europäischer Ebene und
nicht wenige erhoffen sich eine Stärkung
des „Leistungs- und Selektionsprinzips“.
Jedenfalls sind sich alle einig: Diese Reform
der Hochschulen muss jetzt umgesetzt werden.
Ein genaueres Hinsehen zeigt nicht nur, dass
es sich um das Gegenteil einer Reform handelt,
sondern auch, dass die Dynamik über den
tertiären Bereich hinaus geht und das gesamte
Bildungswesen erfasst.
Im Frühsommer 1999 trafen sich in Bologna
die BildungsministerInnen aus ganz Europa, um
eine Erklärung zur Zukunft der europäischen
Hochschulbildung zu unterzeichnen. Für
die Schweiz war Staatssekretär Charles
Kleiber aus dem Departement von Ruth Dreifuss
(SP) mit von der Partie. Seither führen
alle Wege nach Bologna, und wer sich in der
Diskussion nicht der kompatiblen Ausdrücke
und Vorstellungen bedient, wird im besten Fall
mit Mitleid bedacht, in der Regel jedoch abgekanzelt
und als Ewiggestriger angegriffen. Einige Universitäten
- allen voran die Hochschule St. Gallen (HSG)
– haben Bologna bereits eingeführt,
die meisten befinden sich im Planungsstadium
1.
Nun haben die europäischen Bildungsminister
keine vollständig neuen Ideen in die Welt
gesetzt, sondern sich weitgehend bestehender
Konzepte bedient, um ihr Programm für die
Zukunft zu formulieren. Das neue Modell lässt
sich im Wesentlichen an den folgenden Elementen
festmachen: (1) Gibt es heute nur einen Hochschulabschluss
(in der Schweiz: Lizentiat oder Diplom), so
werden nun wie in den USA und in Grossbritannien
die zwei Stufen bachelor (B.A.) und master (M.A.)
eingeführt. Bologna orientiert sich am
angelsächsischen Hochschulmodell, bei dem
die Mehrheit der Studierenden nach dem B.A.
das Bildungssystem verlässt. Damit entstehen
ein Zwischenabschluss, denn der M.A. wird in
etwa den heutige Abschlüssen entsprechen,
und eine neue Selektionsstufe. (2) Bildung soll
in standardisierte Einzelteile (Module) zerlegt
werden, wodurch die Grundlage für einen
europäischen Bildungsmarkt gelegt wird,
auf dem öffentliche und private Anbieter
konkurrieren, sowie für eine möglicherweise
rentable Massenproduktion von Bildung. Als europäische
„Bildungseinheitswährung“ dient
das Kreditpunktesystem ECTS (European Credit
Transfer System), über das Studienleistungen
an- und abgerechnet werden. (3) Bildungspolitik
muss den Anforderungen der „Wettbewerbsfähigkeit“
untergeordnet werden. Sie zielt darauf ab, die
employability der Arbeitskräfte sicherzustellen.2
Diese soll am Erwerb konkreter Fähigkeiten
(skills) gemessen werden, welche die einzelnen
Bildungsmodule vermitteln.
Vor diesem Hintergrund drängen sich einige
Überlegungen zu den folgenden drei Fragen
auf: (1) Was ist daran neu im Vergleich zur
ersten Hälfte der 1990er Jahre? (2) Was
hat es mit anderen Bereichen des Bildungswesens
zu tun? (3) Inwiefern spiegelt es Grundzüge
der kapitalistischen Entwicklungsdynamik?
Vom Markt zur Planung
Eine Gruppe junger Genossinnen und Genossen
hat 1996 ein Buch mit dem trefflichen Titel
„Wenn der Markt Schule macht“ veröffentlicht,
in dem sie die schweizerische Bildungspolitik
der ersten Hälfte der 1990er Jahre analysieren
und interpretieren.3 Anschaulich
wird beschrieben, dass die Exponenten der Bourgeoisie
das Ende der (in der Schweiz sehr bescheiden
gebliebenen) „Demokratisierung“
des Bildungswesens im Allgemeinen und des Hochschulzugangs
im Besonderen fordern, und wie die Behörden
diese Forderung durch verschiedene Massnahmen
(Studiengebühren, Numerus Clausus, Stipendienabbau,
u.a.) umzusetzen beginnen. Darüber hinaus
werden die Aufwertung der Berufsbildung (angesichts
der Lehrstellenkrise) und Privatisierungsschritte
als die wichtigsten Punkte auf der Agenda der
Wirtschaftskapitäne und ihrer behördlichen
und akademischen Wasserträger identifiziert.
Gefahren für die Errungenschaften der Frauen
im Bildungswesen kommen ebenfalls zur Sprache.
Das Alles bleibt aktuell. Denken wir nur an
die gegenwärtigen Auseinandersetzungen
um weitere Studiengebührenerhöhungen
und die Ausweitung des Numerus Clausus auf neue
Fächer an verschiedenen Universitäten
4, oder an die Stärkung
des „Leistungs- und Selektionsprinzips“
und die Förderung der „Hochbegabtenförderung“
in der Volksschule. Am meisten ist in den letzten
Jahren vielleicht in der Berufsbildung geschehen
(Entstehung der Fachhochschulen und Revision
des Berufsbildungsgesetzes 5
). So lässt sich argumentieren, auch „Bologna“
sei eine Kombination von Selektion, Markt und
Privatisierung, und stelle keine Neuheit dar.
Das scheint mir sowohl richtig als auch falsch
zu sein. Richtig ist es, wenn das neue Modell
in seinen einzelnen Bestandteilen betrachtet
wird. Aber so lässt sich die Bedeutung
des Ganzen nicht erfassen, denn wir haben es
erstmals mit einem umfassenden, schlüssigen,
konkreten und umsetzbaren Konzept für alle
Hochschulen Europas zu tun. Mit „Bologna“
schreiten die „ReformerInnen“ von
der Einführung einzelner Marktelemente
zum Versuch, den Markt insgesamt auf europäischer
Ebene zu planen und zu institutionalisieren.
Sie gehen von der Destabilisierung des traditionellen
Systems zur Entwicklung der Fundamente eines
neuen über, das die Wettbewerbsfähigkeit
Europas im Vergleich mit den USA unterstützen
soll. In diesem Sinne ist Bologna das Pendant
zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
bzw. ein Element davon, an dem sich „die
Schweiz“ ohne Vorbehalte beteiligt.
Der Kern des Modells lässt sich als „kapitalistische
Rationalisierung“ im öffentlichen
Sektor beschreiben. Es geht nicht mehr nur darum,
die Selektion zu verschärfen, einzelne
Institutionen zu privatisieren oder die Bildungsinhalte
„auf den Markt“ auszurichten. Umfassender
sollen die Produktion und der Konsum von Bildung
„kapitalistisch“ gestaltet werden,
wofür Metaphern wie „Humankapital“
oder „Rohstoff Bildung“6
auf der ideologischen Ebene seit einiger Zeit
schon den Weg bereitet haben. Im öffentlichen
Sektor wird so etwas wie eine „kapitalistische
Produktion ohne Kapitalisten“ angestrebt.
Daraus ergeben sich auch der bisweilen etwas
künstliche Anstrich der „Reformen“
und der ununterbrochene Appell an das „unternehmerische
Denken“ des Lehrpersonals und der Studierenden.
Die Behörden verordnen, es sei so zu handeln,
wie wenn man sich in der Privatwirtschaft befinden
würde (so tun als ob). Ein Blick auf die
Organisationsstruktur der Uni Basel zum Beispiel
zeigt inzwischen auch erstaunliche Ähnlichkeiten
mit dem Organigramm des Novartis-Konzerns, obwohl
der Verwaltungsrat hier Universitätsrat
heisst und der CEO (chief executive officer)
Rektor. In der Tat lässt sich das New Public
Management als Anwendung der Grundmechanismen
der industriellen Restrukturierungen der letzten
Jahrzehnte auf den öffentlichen Sektor
betrachten. Desgleichen ähnelt die Modularisierung
der Bildungsprogramme den Prinzipien der flexiblen
automatisierten Produktion in den führenden
Industriezweigen, bei der erst die abschliessende
Kombination (Montage in der Autoindustrie) der
in grossen Mengen hergestellten Standardmodule
zur Differenzierung der Ware führt.7
Das Bildungswesen soll eine Palette von skills
profiles produzieren, deren Individualität
sich bei genauerem Hinsehen ebenso als Schein
entpuppt wie jene der FIAT- oder Toyota-Modelle.
Gehört die Zukunft
der skills card?
Es gibt keinen Grund zu glauben, das Bologna-Modell
lasse sich nur auf den Hochschulsektor anwenden,
auch wenn zurzeit auf internationaler Ebene
kein umfassendes Konzept für das gesamte
Bildungswesen vorliegt.8
Viele Elemente des Modells sind schon an der
Volksschule zu beobachten, und in mancher Hinsicht
haben die Hochschulen die Rolle des Wegbereiters
gespielt. Das gilt zum Beispiel für die
Teilautonomie der Schulen und das New Public
Management im Allgemeinen. Die Modularisierung,
die verschärfte Selektion bzw. Einführung
zusätzlicher Selektionsstufen und die Privatisierung
bzw. die staatliche Unterstützung von Privatschulen
sind ebenfalls ein Thema.9
Was die Berufsschule und den Bereich der Weiterbildung
angeht, so sind sie seit jeher weitgehend dem
Einfluss der politischen und rechtsstaatlichen
Grundsätze entzogen, die dem neuen Modell
im Wege stehen könnten, und werden zu guten
Teilen durch Private betrieben.
Doch darüber hinaus ist auf dem Arbeitsmarkt
eine Dynamik zu beobachten, die dem Prinzip
der Module und Kreditpunkte auf breiter Basis
zum Durchbruch verhelfen könnte. Die Industriellen
aller Länder werden nicht müde zu
betonen, dass sie den Diplomen des öffentlichen
Bildungssystems nur noch eine begrenzte Aussagekraft
zurechnen: Einerseits habe sich die Qualität
der Bildung auf Grund von „Demokratisierung“,
Vermassung, Einwanderung und Verlust von traditionellen
Werten und Tugenden verschlechtert. Andererseits
führe der rasche technologische Wandel
dazu, dass jedes einmal erworbene Wissen in
kurzer Zeit seine Bedeutung verliere. In der
Tat zeichnet sich auf dem Arbeitsmarkt eine
gewisse Entkoppelung von Schulbildung, Qualifikation
und Lohn ab: Das Salär wird immer weniger
mit direktem Bezug auf das Bildungsniveau der
Beschäftigten festgelegt, sondern zunehmend
auf der Grundlage des „konkreten Inhalts
der Arbeit“ (analytische Arbeitsplatzbewertung,
Funktionsstufen) und der „individuellen
Leistung“. Schulbildung vermittelt im
Betrieb immer weniger Rechte. Auch die Entwicklung
der Gesamtarbeitsverträge spiegelt diesen
Trend deutlich.10 Es gibt
allerdings gute Gründe zu glauben, dies
habe mehr mit Veränderungen der Kräfteverhältnisse
zwischen antagonistischen sozialen Klassen als
mit sinkender Qualität der Bildung und
technologischem Wandel zu tun.
Die Unternehmer hätten gerne ein System
der Zertifizierung konkreter Fähigkeiten,
das ihnen präzisere Informationen über
einzelne Arbeitskräfte vermittelt als die
Diplome des öffentlichen Schulsystems.
Diese Idee zirkuliert unter dem Begriff der
skills card und wurde von der EU-Kommission
in ihrem Weissbuch von 1995 aufgegriffen, das
den schönen Titel „Lehren und Lernen:
auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft“
trägt.11 Das Prinzip
ist einfach: Jede/r hat eine individuelle Karte,
auf der ihre/seine persönlichen Fähigkeiten
(Sprachkenntnisse, Beherrschung von Computerprogrammen,
Sozialkompetenz, Managementwissen, Berufserfahrung,
usw.) gespeichert sind. Notwendig ist allerdings
die Standardisierung dieser Fähigkeiten
und ein internationales System der Anerkennung
und Akkreditierung. Die Ähnlichkeit mit
dem Bologna-Modell, seinen Modulen und Kreditpunkten
ist offensichtlich. Bereits gibt es eine skills
card im Computerbereich, die International Computer
Driving Licence. Sie „gilt“ in 54
Ländern. Unter ihnen befinden sich die
Schweiz, Frankreich und Deutschland, nicht aber
die USA.
In den Augen der „ReformerInnen“
hat die skills card noch einen Vorteil: Wenn
sie auf breiter Basis durchgesetzt wird, bricht
sie das weitgehende Monopol der nationalen öffentlichen
Bildungssysteme auf die Zertifizierung von Kenntnissen
und Fähigkeiten und wird zur universellen
Währung in einem international integrierten
Bildungsmarkt, auf dem private und staatliche
Anbieter gleichberechtigt um die effiziente
Produktion standardisierter Bildungsmodule konkurrieren,
und die grossen Konzerne flexibel Arbeitskräfte
mit gewünschtem skills profile auswählen
können. Eine solche Entwicklung dürfte
auch die Abwertung der schulischen Abschlüsse
auf dem Arbeitsmarkt fördern.
Angriff auf den Wert der Ware Arbeitskraft
Doch wie ist es möglich, dass ausgerechnet
im Zeitalter der „Wissensgesellschaft“
Bildungstitel an Wert verlieren? Woher kommt
es, dass die BesitzerInnen des scheinbar so
entscheidenden „Humankapitals“12
verschlechterte Arbeitsbedingungen hinnehmen
müssen?
In der Soziologie hat sich als Antwort auf solche
Fragen das Erklärungsmuster der „Bildungsinflation“
oder des „Fahrstuhleffekts“ eingebürgert:
Wird das Bildungsniveau allgemein angehoben,
verändert sich die relative Position der/s
Einzelnen nicht, da sie an die Sozialstruktur
der Gesellschaft gebunden bleibt. In dieser
Optik wird eine zunehmende Diskrepanz zwischen
der teilweise „demokratisierten“
Struktur des Bildungssystems und der pyramidenförmigen
Struktur der gesellschaftlichen Positionen zum
Thema. Es lässt sich anfügen: Wenn
„Allgemeinbildung“ wirklich allgemein,
das heisst allen zugänglich wird, verliert
sie ihren Unterscheidungswert und das Kapital
tendiert dazu, die Lohnabhängigen nach
anderen Fähigkeiten zu klassifizieren.
„Allgemeinbildung“ ist deswegen
aber nicht unwichtig geworden, sondern wird
nun einfach stillschweigend vorausgesetzt, was
all jene schmerzlich erfahren müssen, die
doch nicht ausreichend darüber verfügen.
Sie vermittelt aber an sich keinen Anspruch
auf Rechte oder Positionen mehr. Heute umfasst
sie bei weitem nicht mehr nur das Lesen, Schreiben
und Rechnen, sondern zum Beispiel auch die Fähigkeit,
mit bestimmten Geräten (allen voran mit
dem Computer) umzugehen.13
Doch in den letzten Jahrzehnten, im Zuge der
fortschreitenden Dynamik der Mechanisierung,
Automatisierung und Computerisierung der Produktion
ist nicht nur die Bildung, sondern auch die
Arbeit „allgemeiner“ geworden sind:
Ein wachsender Teil der Arbeitsplätze verlangt
nach Fähigkeiten und Kenntnissen, die auch
an anderen Arbeitsplätzen und in anderen
Industriezweigen notwendig sind und zu guten
Teilen durch das Bildungssystem vermittelt werden.
Denken wir an das Wachstum der öffentlichen
und privaten Verwaltungen seit dem Zweiten Weltkrieg:
Die konkrete Arbeit von Verwaltungsangestellten
in der Maschinenindustrie unterscheidet sich
nicht grundsätzlich von der Tätigkeit
ihrer KollegInnen bei einer Grossbank oder in
einem Spital. In dem Masse, wie die Ausführung
spezifischer Tätigkeiten auf Maschinen
übertragen wird und menschliche Arbeit
immer mehr daraus besteht, Maschinen zu bedienen,
programmieren, überwachen und reparieren,
nimmt die Arbeit einen „allgemeinen“
Charakter an. Marx hat diese historische Tendenz
in den Grundrissen und im Kapital hervorgehoben
und die Möglichkeit erkannt, dass in einer
Gesellschaft jenseits des Kapitalismus „frei
assoziierte Produzenten“ nicht lebenslänglich
an eine Funktion oder Arbeit gebunden sein müssten,
sondern abwechselnd verschiedene Tätigkeiten
ausüben könnten.
Heute verfügt allerdings das Kapital über
die Mobilität und Flexibilität der
Lohnabhängigen, und das Erklärungsmuster
der Bildungsinflation hat seine Schwächen.
Wie jedem theoretischen Modell, das sich am
Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage orientiert,
gehen ihm zwei wichtige Aspekte durch die Maschen:
(1) Die Bildungsinflation erscheint als unvermeidliches
Phänomen, das sich automatisch aus veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen ergibt. In Wirklichkeit
findet aber ein stetiger Kampf zwischen Unternehmern
und Lohnabhängigen um Qualifikationen statt,
das heisst um die Anerkennung bzw. stillschweigende
Voraussetzung von Fähigkeiten und Kenntnissen.
Im einen Fall schlägt sich Bildung in Lohn
und Status nieder, im anderen nicht. (2) Weil
sich das Erklärungsmuster auf relative
Positionen konzentriert, gerät der „absolute“
Wert der Ware Arbeitskraft aus dem Blickfeld.
Wie in der vorherrschenden ökonomischen
Preistheorie werden nur relative Schwankungen
erklärt, nicht aber der Punkt, um den herum
sie sich bewegen. Doch die Arbeitskraft hat
wie jede andere Ware auch einen „absoluten“
Wert, der sich aus der zu ihrer Herstellung,
Entwicklung und Erhaltung verausgabten Arbeit
ergibt.14 Im Zuge der
Expansion des Bildungswesens, in dem gerade
solche Arbeit verrichtet wird, ist dieser „absolute“
Wert der durchschnittlichen Arbeitskraft stark
angestiegen.
Wenn sich der Spätkapitalismus durch einen
steigenden Anteil von Beschäftigung ausserhalb
der direkten Produktion und eine zunehmende
Bedeutung der Planung und Verwaltung der Produktion
auszeichnet 15, kann es
in den Industrieländern allen Gegenreformen
zum Trotz kein Zurück zu einer Bildungspolitik
im Stile der letzten Jahrhundertwende geben.
Das Kapital tendiert im Zusammenhang mit seiner
unablässigen „Revolutionierung der
Produktivkräfte“ (Marx) dazu, zunehmend
hoch und allgemein gebildete Arbeitskraft auszubeuten.
Deshalb hat zumindest seit Beginn der anhaltenden
wirtschaftlichen Strukturkrise in den 1970er
Jahren die Dynamik der industriellen Restrukturierungen
auch die Dienstleistungs- und Verwaltungseinheiten
erfasst bzw. sich zunehmend auf sie konzentriert.
Auf die radikale Reorganisation des „Überbaus“
der Grosskonzerne folgte dann der Siegeszug
des New Public Management im öffentlichen
Sektor.
Der „kapitalistischen Rationalisierung“
des Bildungswesens kommt in dieser Hinsicht
eine besondere Bedeutung zu, da sie zugleich
einen umfassenden Angriff auf den Wert der Ware
Arbeitskraft darstellt. So wie eine neuen Technik
ihr Potenzial für Produktivitätssteigerungen
erst dann voll entwickelt, wenn die entsprechenden
Maschinen selbst maschinell, also relativ kostengünstig
hergestellt werden können, enthält
das Projekt einer standardisierten Massenproduktion
von hoch und allgemein gebildeter Arbeitskraft
das Verspechen einer sprunghaften Steigerung
der „Wettbewerbsfähigkeit“
durch eine Senkung des Werts der Arbeitskraft
auf breiter Front. Darin liegt letztlich auch
die Bedeutung der Forderung des Präsidenten
des Novartis Venture Fund, François L’Eplattenier,
die Maturität sei mit 18, das Lizentiat
mit 22 und das Doktorat mit 25 Jahren zu erlangen.16
Denn mutatis mutandis gilt: je kürzer die
Bildungszeit, desto günstiger die Arbeitskraft
und tiefer der Lohn.
Tatsachen und Forderungen
Die Hochschulen entkommen dieser Restrukturierungsdynamik
nicht, weil sie schon lange kein exklusiver
Ort der sozialen Reproduktion der Bourgeoisie
mehr sind. Die Bildungsexpansion hat dazu geführt,
dass heute die Mehrheit der StudentInnen zukünftige
Lohnabhängige (und darunter nur zum Teil
eigentliche „Führungskräfte“)
sind. Die Universität ist heute kein vor
Konkurrenz- und Rationalisierungsdruck geschütztes,
den gesellschaftlichen Eliten vorenthaltenes
Feld mehr: So gesehen hat sie sich im Verlauf
des 20. Jahrhunderts den anderen Bereichen des
Bildungssystems angenähert.17
Doch weil die Hochschulen die „höchste“
allgemeine Bildung anbieten, sind sie sowohl
das Ziel par excellence als auch die pièce
de résistance der kapitalistischen Industrialisierung
der Produktion von Kenntnissen und Fähigkeiten.18
Nachdem die weit verbreitete Illusion, Dienstleistungen
könnten nicht rationalisiert werden, verflogen
bzw. auf dem harten Boden der Realität
gelandet ist, sollte die Umsetzungsmacht des
Kapitals in Bezug auf seine Vorhaben im Bildungswesen
nicht unterschätzt werden. Der populäre
Ausspruch: „Bildung ist keine Ware!“
ist keine Beschreibung von Tatsachen, sondern
eine politische Forderung. Allerdings ist es
eine wichtige und richtige Forderung, für
die zu kämpfen es sich lohnt.
Peter
Streckeisen, 5. Dezember 2003
1
Die Folgekonferenz der europäischen Bildungsminister
im September 2003 in Berlin hat nun wenig überraschend
verlauten lassen, der Bologna-Prozess sei unumkehrbar.
Bis ins Jahr 2005 sollen alle Länder ein
System der Qualitätssicherung und Akkreditierung
einrichten. Am 4. Dezember 2003 hat die Schweizerische
Universitätskonferenz nationale Richtlinien
für die Umsetzung des Bologna-Prozesses
verabschiedet. Die Umstellung auf das neue System
soll demnach in der Schweiz bis 2010 vollzogen
werden.
2 Der Begriff der employability ist wichtig
im Wortschatz des newspeak (cf. Orwell, 1984)
der neokonservativ-sozialliberalen Bildungspolitik.
Er bezeichnet die Nützlichkeit der Arbeitskräfte
für das Kapital, ihre Eignung zur Ausbeutung
durch das Kapital.
3 Alternative Solidaire (1996): Quand le marché
fait école. La redéfinition néo-libérale
du système de formation suisse. Enjeux,
conséquences et ripostes. Editions d’en
bas, Lausanne.
4 Der Numerus Clausus wurde Ende der 90er Jahre
in der Humanmedizin (Deutschschweiz) erstmals
eingeführt. Die Behörden stützten
sich auf eine alarmierende Kampagne von Halb-
und Unwahrheiten über die Kosten im Gesundheitswesen
und die „Explosion der Studierendenzahlen“.
In Wirklichkeit war die AbsolventInnenzahl in
der Humanmedizin seit Ende der 70er Jahre rückläufig.
5 Das neue Gesetz hält an dem für
die Schweiz und Deutschland charakteristischen
dualen Bildungssystem fest, bei dem der Lehre
im Betrieb eine zentrale Bedeutung zukommt.
Zugleich werden die Aufgaben des Staates erweitert
und durch einen Ausbau der allgemeinen und theoretischen
Bildung der Dynamik des „technologischen
Wandels“ Rechnung getragen.
6 Die SP vertritt an vorderster Front das Anliegen,
die Schweiz müsse in ihren „einzigen
Rohstoff“ investieren, um in der internationalen
Konkurrenz mithalten zu können. Diese Haltung
gilt als fortschrittlich, sozial und vernünftig:
Sie liege im Klassen übergreifenden Interesse
aller beteiligten Akteure. Dass die Auszubildenden
damit auf den Status einer Ware (zukünftige
Arbeitskraft) reduziert werden und Bildungspolitik
ganz dem Ziel der Wettbewerbsfähigkeit
unterworfen wird, scheint an der SP-Spitze niemanden
zu stören.
7 Vgl. dazu das hervorragende Buch von Marcelle
Stroobants (1993): Savoir-faire et compétences
au travail. Une sociologie de la fabrication
des aptitudes. Editions de l’Université
de Bruxelles, S. 157ff.
8 Die berühmt gewordene PISA-Studie könnte
allerdings zu einem entscheidenden Schritt in
diese Richtung werden. Vgl. dazu den Artikel
von Dario Lopreno in Debatte 2-3 (Juli-August
2002), S. 26ff.
9 In Basel wird zur Zeit darüber diskutiert,
dass Noten wieder eingeführt und die SchülerInnen
früher nach Leistungsniveau getrennt werden
sollen; in Zürich läuft die Diskussion
über die Suche von privaten Investoren
für den Bau von Schulhäusern an (vgl.
die Public Private Initiative von T. Blair in
England); usw.
10 Ein typisches Beispiel für diese Entwicklung
ist der Gesamtarbeitsvertrag der Basler Chemie.
Er galt lange Zeit als „bester GAV der
Schweiz“ und Gegenstück zum Friedensabkommen
in der Maschinenindustrie. Heute regelt er weder
Lohn noch Arbeitszeit. Jeder Betrieb hat ein
eigenes Lohnsystem, in dem der „individuellen
Leistung“ eine sehr grosse Bedeutung zukommt
und das Bildungsniveau der Beschäftigten
nur noch von untergeordneter Bedeutung ist (vgl.
P. Streckeisen (2001): Die Chemie der Arbeit.
Universität Zürich, S. 93ff.).
11 Für eine kurze Analyse dieses Dokuments
vgl. P. Streckeisen: „Auf ins kognitive
Europa!“, in uninet, 4/2000.
12 Gewisse Autoren gehen so weit zu behaupten,
die Beschäftigten seien heute am Unternehmenskapital
beteiligt, da es sich in Zeiten der „Wissensgesellschaft“
weitgehend aus „Humankapital“ und
immer weniger aus „Sachkapital“
zusammensetze. Diese absurde Vorstellung, eine
neue Variante der von Marx kritisierten Theorie
der Produktionsfaktoren und des Postulats der
„gemeinsamen Interessen von Kapital und
Arbeit“, ist auch bei André Gorz
zu finden (vgl. Misères du présent,
Richesse du possible, 1997). Doch die richtigen
Kapitalisten zeichnen sich im Gegensatz zu den
„Unternehmern in Sachen Arbeitskraft“
(Lohnabhängige) eben gerade durch die Verfügungsgewalt
über deren Köpfe und Hände im
Produktionsprozess aus.
13 Kein Industrieller in Westeuropa oder in
den USA träumt im Ernst davon, mehrheitlich
Arbeitskräfte ohne gute Allgemeinbildung
zu beschäftigen. Viel sagend ist allerdings,
was sich die herrschende Klasse unter dem Begriff
vorstellt. Im oben erwähnten Weissbuch
der EU-Kommission von 1995 wird Allgemeinbildung
zum Beispiel als „der erste Faktor der
Anpassung an die Entwicklung der Wirtschaft
und des Arbeitsmarkts“ bezeichnet (S.
15), also als Fähigkeit, sich den Wünschen
der Grosskonzerne anzupassen und zu unterwerfen.
14 „Absolut“ bedeutet nicht natürlich,
unveränderbar oder sogar wissenschaftlich.
Marx betonte stets das moralische und historische
Element, das in die Bestimmung des Werts der
Arbeitskraft eingeht (vgl. das Kapitel über
den Lohn im ersten Band des Kapitals). Aber
es kann theoretisch unterschieden werden zwischen
dem Wert der Arbeitskraft und den Schwankungen
ihres Preises, die sich aus den Konkurrenzverhältnissen
und Auseinandersetzungen auf dem Arbeitsmarkt
ergeben.
15 Vgl. Ernest Mandel (1972): Der Spätkapitalismus.
Versuch einer marxistischen Erklärung.
Suhrkamp Verlag.
16 Zitiert in Charles Kleiber (2000): Die Universität
von morgen. Visionen, Fakten, Einschätzungen.
S. 176
17 Natürlich gibt es innerhalb des Hochschulsektors
wiederum länderspezifische „Eliten-Segmente“,
so zum Beispiel renommierte Privatuniversitäten
in den USA und Grossbritannien oder die Grandes
Ecoles in Frankreich. Das Bologna-Modell zielt
ebenfalls darauf ab, die grosse Masse im unteren
Segment (B.A.) zu halten bzw. sie zumindest
vom Doktorstudium fernzuhalten. Allgemein gilt
auch im Bildungswesen, dass die Rationalisierung
mit voller Wucht vor allem auf den unteren Stufen
des Systems durchschlägt.
18 Eher als den Übergang zu einer Informations-
oder Wissensgesellschaft beobachten wir heute
die zunehmende kapitalistische Industrialisierung
der Produktion von Dienstleistungen, Informationen
und Wissen. Die Tendenz des Kapitals, sich die
Entwicklung von Wissenschaft und Technik zu
unterwerfen und die Wissenschaft zur „Hauptproduktivkraft“
zu machen, hat allerdings schon Marx beschrieben
(vor allem in den Grundrissen).
Proteste
der StudentInnen in der Schweiz und
in Europa
Laut den Worten der zuständigen
Behörden dienen die „Reformen“
wie immer vor allem dem Wohle der Studierenden.
Doch deren Bereitschaft, sich „reformieren“
zu lassen, nimmt ab. Die Ablehnung des
Bologna-Modells geht in der Regel mit
Protesten gegen Budgetkürzungen
einher. In Deutschland sind Streiks
und Demos von StudentInnen seit Beginn
des Monats November 2003 an der Tagesordnung.
Die drei grossen Hochschulen der Stadt
Berlin sind deswegen zurzeit geschlossen.
Die StudentInnen bekämpfen die
angekündigte Streichung von jedem
zweiten Studienplatz in der bundesdeutschen
Hauptstadt. Ende November und Anfang
Dezember 2003 haben sie das Berliner
Regierungsgebäude, die Parteizentrale
der PDS und die Büros des PDS-Senators
Thomas Flierl besetzt. Berlin wird von
einer rot-roten Koalition (SPD / PDS)
regiert, welche die Verantwortung für
die drastischen Massnahmen trägt.
In Frankreich haben sich die StudentInnen
im Mai und Juni 2003 am Streik der LehrerInnen
gegen die Dezentralisierung des Schulsystems
beteiligt. Die Regierung Raffarin hat
eine Gesetzesvorlage zur Einführung
der „Autonomie“ der Hochschulen
gemäss den Grundsätzen des
New Public Management vorläufig
zurückgezogen. Die Proteste der
StudentInnen gegen das Bologna-Modell,
in Frankreich LMD (licence-master-doctorat)
genannt, haben seit der rentrée
universitaire erneut an Schlagkraft
gewonnen. Ende November 2003 wurden
27 Universitäten bestreikt. Auch
in der Schweiz formiert sich Widerstand.
An der Uni Lausanne entwickelt sich
eine Bewegung gegen Budgetkürzungen
und die Einführung von Bologna.
In Basel haben Studierende und Assistierende
2002 die Aktionsgruppe Bologna gegründet
und über 2'000 Unterschriften für
den Ausstieg aus dem Bologna-Prozess
gesammelt. Nun drohen mehrere Fächer
gestrichen zu werden. In Zürich
haben die Studierenden im Winter 2002/03
mit Demos und Aktionen gegen die Erhöhung
der Studiengebühren gekämpft
und beteiligen sich zurzeit an den Protesten
gegen drastische Kürzungen (Kahlschlag)
bei den Sozial- und Bildungsausgaben.
Am 4. Dezember 2003 haben StudentInnen
aus der ganzen Schweiz in Bern vor den
Toren der Schweizerischen Universitätskonferenz
gegen das Bologna-Modell demonstriert.
(ps 05/12/2003)
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