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Bildung : Die PISA-Studie der OECD

SchülerInnen und Schule privatisieren

Dario Lopreno * aus Debatte Nr. 2/3, Juli-August 2002

* Lehrer, Mitglied der Gewerkschaft VPOD, Genf

In den letzten Monaten wurde viel über das "Internationale Programm zur Erfassung von Schülerleistungen" (PISA) 1 gesprochen, das unter der Leitung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 2 steht. Die OECD ist der Club der 30 reichsten Länder der Welt und gleichzeitig einer der ideologischen Motoren der Welthandelsorganisation (WTO).

Die Ziele von PISA werden von den Verfassern des Programms folgendermassen umschrieben : "Operationalisierung der Bildungsziele durch innovative Methoden zur Beurteilung der für das Erwachsenenleben nützlichen Kompetenzen". Damit sollen ultraliberale Konzepte in der Bildung Einzug erhalten und die "Freiheit der Erziehung" gefördert werden. Freiheit bedeutet in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, diesen öffentlichen Sektor für das private Kapital zu öffnen.

Der vom Bundesamt für Statistik veröffentlichte Bericht zur PISA-Studie hält fest, es handle sich um eine Untersuchung in 27 Ländern der OECD und zusätzlich Brasilien, Lettland, Liechtenstein und Russland, in der insgesamt 250 000 Jugendliche im Alter von 15 Jahren erfasst wurden, von denen 6100 in der Schweiz eingeschult sind (hier wurde eine zusätzliche Stichprobe erstellt, damit die SchülerInnen der 9. Klasse beurteilt werden konnten, die nicht unbedingt alle 15 Jahre alt sind).

Die Studie will "die Leistungen von 15-jährigen Jugendlichen im Lesen, in Mathematik und Naturwissenschaften" messen und international und regional vergleichen. Gleichzeitig soll die Studie auch die Motivation der Jugendlichen und deren Strategien zum selbständigen Lernen untersuchen, und für einige Länder wurde ein internationaler Vergleich der Fertigkeiten beim persönlichen Benutzen des Computers angestellt. Der Schwerpunkt der Studie von 2000 war die Erfassung der Lesekompetenzen. Für das Jahr 2003 wird die Studie wiederholt, diesmal mit Schwerpunkt Mathematik, und 2006 sollen die Naturwissenschaften im Zentrum stehen.

PISA erhebt den Anspruch, nicht einfach den erlernten Stoff im engeren Sinn zu messen, sondern die "Kompetenzen", die sich durch die schulische und ausserschulische Umgebung und die Motivation der SchülerInnen ergeben, zu testen. Die Studie konzentriert sich jedoch letztendlich stets auf die Schule.

In der Schweiz sind viele lokale politische Behörden, Parteien und Organisationen erschrocken, als die Schweiz im internationalen PISA-Vergleich 2000 nur "mittelmässig" abschnitt (17. Rang unter 31 Ländern). Die gleichen Kreise waren in Genf konsterniert darüber, dass der Kanton innerhalb der Schweiz an letzter Stelle steht. Die Presse hat sich mit Schlagzeilen überboten : "Vier von fünf Schülern können nicht lesen, aber der Regierungsrat ist zufrieden" (Tribune de Genève, 24. Januar 2002). Sogar die aufgeschlossene Zeitung Le Courrier titelte am 5. Dezember 2001: "Schweizer Schüler können und müssen besser abschneiden".

Gewisse LehrerInnenverbände haben ihren schulischen 11. September erlebt, da sie die "mittelmässigen" oder "mangelhaften Leistungen", die die neuen Messinstrumente der OECD für die Schweiz ergaben, mit "nicht mehr lesen können" verwechselten. Die neugierigsten unter ihnen haben sich erkundigt, was denn bei den PISA-Klassenbesten anders läuft als in der Schweiz, und haben teilweise interessante Schlüsse bezüglich Mängel der Schweizer Schulsystems gezogen. Jedoch stand immer das Bestreben im Vordergrund, in der Rangliste der OECD besser abzuschneiden. Die für das Bildungswesen zuständige Genfer Regierungsrätin war verärgert und hat die Lehrkräfte beschuldigt, die Studie nicht ernst genommen zu haben und damit die "schlechten" Ergebnisse des Kantons Genf verursacht zu haben.

Dieser Artikel geht nicht vertieft auf PISA ein. Denn bei diesen Olympischen Spielen des "schulisch korrekten Wissens" scheinen die Aspekte, die nicht direkt angesprochen werden, wichtiger als der unmittelbare Inhalt der Studie. Zudem gibt es bereits mehrere kritische Beurteilungen des Programms, auf die wir hier verweisen.3 Den bürokratischen Apparat der OECD und die nationalen PISA-Konsortien mit ihren zahlreichen langweiligen Publikationen, die eine eigentliche Maschinerie zur Reproduktion von Arbeitsplätzen und Strukturen darstellen, lassen wir hier ebenfalls beiseite, obwohl diese Aspekte bei der Analyse der grossen internationalen Organisationen nicht vergessen werden dürfen.
Es geht hier darum, einige Überlegungen zu skizzieren, um PISA auf der Grundlage der drei Ziele der OECD verständlich zu machen : Operationalisierung der Bildungsziele, innovative Methoden und nützliche Kompetenzen.

"Intelligenzmessung"


Die Bourgeoisie hatte stets das Bedürfnis, die intellektuellen Leistungen der Lohnabhängigen zu messen und zu klassifizieren, jedoch hat sich dies zu gewissen Zeiten verstärkt. Insbesondere beim Übergang von einer bestimmten Stufe des Kapitalismus zur "nächsthöheren Stufe", ob quantitativ (Kontrolle von Territorium, Bevölkerungen, Rohstoffen, Steigerung der Produktion und des Handels) oder qualitativ (Organisation der Produktionsprozesse, Reproduktion des Produktionsapparats und der Infrastrukturen, Kommerzialisierung der Produkte, Verwaltung der Arbeitskraft usw.).
Der tiefgreifende Wandel, der in den Bedingungen der sozialen Produktion und Reproduktion in diesen Übergangsphasen vor sich geht, führt zur Neudefinition der sozialen und beruflichen Machtverhältnisse. Die Schulbildung und die berufliche Ausbildung erfahren damit ebenfalls eine weitgehende Umgestaltung.
Eine dieser kritischen Übergangsphasen fand im Jahrhundert der kolonialen Eroberungen, der industriellen Revolutionen und des aufkommenden Nationalismus in den europäischen Ländern statt. Zu dieser Zeit entstanden zahlreiche Bücher, Theorien und Techniken zur Anthropometrie und "Kulturmessung". Diese Messungen der Menschen und der menschlichen Gesellschaften bildeten die Grundlage für den Rassismus, auf dem die imperialistische Ideologie aufbaut.4
Eine weitere wichtige Episode hat sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. vollzogen, als sich die Lohnarbeit als Arbeitsverhältnis, Lebensart und kulturelle Referenz sehr stark ausweitete. In dieser Phase wurden zwei mit einander zusammenhängende Seiten der Bildung der Bevölkerung geprägt. Einerseits gab es die öffentliche, obligatorische Schulbildung, die als mächtige Institution die Ausbildung und Integration der zukünftigen Lohnabhängigen sicherte, anderseits fanden die ersten "Intelligenztests" (in Frankreich 1905 von Alfred Binet und Théodore Simon durchgeführt) und später Messungen des IQ ("Intelligenzquotienten") statt (1912 durch William Stern in Deutschland). Zunächst dienten diese Messungen zur Identifikation von SchülerInnen - und somit von zukünftigen Lohnabhängigen -, welche die schulischen und medizinischen Institutionen als "missraten" betrachteten. Diese SchülerInnen wurden schon bei Eintritt in die öffentliche Schule oder während der Schulzeit neutralisiert. Von diesen SchülerInnen hiess es, ihr mentales Alter sei "zu sehr" hinter ihrem chronologischen Alter zurückgeblieben. Das Ziel dieser Auslese war, die guten SchülerInnen von den schlechten zu trennen oder, nach den Worten von Doktor Binet, "den schulischen Abschaum von der schönen angeborenen Intelligenz" zu unterscheiden.5
Aus diesen beiden Tests entstanden zahlreiche, mehr oder weniger anspruchsvolle Weiterentwicklungen, die im 20. Jh. innerhalb der Hierarchien immer häufiger benutzt wurden. In den Schulen, bei der militärischen Aushebung oder in den Betrieben - bei Anstellung und Beförderung - wurden diese Massnahmen sehr breit eingesetzt. Auch in Gerichtsverfahren fanden sie Eingang.
Allen diesen Tests ist gemeinsam, dass sie äusserst beschränkt sind. Sie trennen das - mehr oder weniger vorhandene - Schulwissen von den persönlichen Fertigkeiten, die zu sehr mit dem sozialen Status zusammenhängen. Der Name und die Vergangenheit dieser Tests sind heute nicht mehr salonfähig. Auch der Inhalt dieses Tests ist nicht mehr ganz zeitgemäss, denn sie erlauben es nicht, die vielfältigen schulischen und beruflichen Selektionsmechanismen zu untermauern.

Messen um zu privatisieren

Nach einer langen Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs (1947 bis 1974/75) und nachdem die breiten Bevölkerungsmassen auf Grund dieser wirtschaftlichen Expansion breiten Zugang zu Bildung erhalten hatten - was von Illusionisten der Sozialdemokratie und der klassischen Rechten fälschlicherweise als "Demokratisierung" der Bildung bezeichnet wird -, hat sich die Sachlage verändert.
Was die umfassende Verwaltung der Bildung angeht, so geht es nun nicht mehr darum, über ein scheinbar objektives Instrument zur Unterscheidung, (Um-) Verteilung und Selektion der Menschen nach ihrer "Intelligenz" zu verfügen. Diese Funktion erfüllt der IQ-Test immer noch. Das Problem, mit dem die herrschenden Klassen der imperialistischen Länder heute zu tun haben, ist die Einrichtung einer Standardisierung der Bildung und der Ausbildung auf drei Ebenen :
• Die erste Ebene betrifft die wichtigsten Inhalte der Bildung und der Ausbildung ; beispielsweise die Erstsprache, Mathematik, Naturwissenschaften, Informatik und Englisch.
• Die zweite Ebene ist das zueinem bestimmten Zeitpunkt erworbene Wissen : Ende der obligatorischen Schulbildung, nachobligatorische schulische oder berufliche Zertifikate, Universitätsabschlüsse der Grundstufe, der mittleren oder fortgeschrittenen Stufe.
• Die dritte Ebene hängt mit der "modularen" Ausbildung zusammen : das sind alle Ausbildungen, die auf sukzessive, aber von einander unabhängige Zertifikaten aufbauen, in den Bereichen berufliche Weiterbildung, Umschulung, Eingliederung nach Erwerbslosigkeit oder Wiedereinstieg usw.
Diese Standardisierung wird verständlich, wenn sie im Zusammenhang mit der grossangelegten Privatisierungsoffensive im öffentlichen Dienst gesehen wird, der für die Reichen einen immensen Markt darstellt.6 Die Standardisierung wird als Festlegung einer Art "ISO 9000"-Zertifizierung des erworbenen schulischen und beruflichen Wissens umgesetzt, das die SchülerInnen, Lehrlinge und StudentInnen an einem bestimmten Punkt ihres Bildungswegs erworben haben "müssen". PISA ist eines der Werkzeuge zu dieser Standardisierung.

Privatisierung erfordert Standardisierung

1. Ein Grund für das Bestreben nach Standardisierung liegt im neuen "technischen" Produktions- und Verteilungssystem : neue Technologien der Atomenergie, neue Stoffe, Biotechnologie und Gentechnologie, die alle mit Elektronik, virtuellen Prozesse und allgegenwärtiger Werbung arbeiten. Hinzu kommen vermehrte Schwierigkeiten, Kapital rentabel zu akkumulieren, sowie das Schwinden von Vermarktungsmöglichkeiten. Zusammen haben diese Faktoren zu einer weltweiten Privatisierungsoffensive geführt. Die herrschenden Kreise der imperialistischen Länder kämpfen trotz ihrer spezifischen Eigeninteressen gemeinsam für die Öffnung von neuen Feldern für Privat-investitionen und die private Aneignung des produzierten Reichtums.
Einer dieser neuen Märkte umfasst die Bildung und die Ausbildung. Dieser Sektor bedeutet für die Investoren bezüglich Investition und Rentabilisierung ein enormes Potential, vergleichbar mit der Entdeckung eines neuen Kontinents.
Für das Jahr 1998 besagen Schätzungen für diesen "Markt" einen potentiellen Umsatz von 1000 Milliarden Dollar. Auf diese Zahl belaufen sich innerhalb der OECD die "jährlichen Ausgaben der Mitgliedsländer für Bildung. Ein solcher ‚Markt‘ löst natürlich Begehrlichkeiten aus. Vier Millionen Lehrkräfte, 80 Millionen SchülerInnen und StudentInnen, 320 000 Schulen stehen auf der Wunschliste der Käufer. Aber es wird noch grosse Anstrengungen erfordern, die Texte und Berichte umzusetzen, denn dies würde einen grundlegenden Abbau des Service public in Sachen Bildung erfordern", schreibt Gérard de Sélys.7
In der Schweiz macht dieser Sektor 5,5 % des Bruttoinlandprodukts (BIP) aus, d.h. für das Jahr 1998 mehr als 20 Milliarden Franken. Dieser "Bildungskontinent" ist jedoch aus der Sicht der Investoren zersplittert, verstreut, atomisiert, unterschiedlich und heterogen. Es gilt, ihn zu erforschen und sich auf internationaler Ebene anzueignen. Anders gesagt geht es darum, dieses Gebiet so weit wie möglich zu standardisieren, um es in der Folge optimal zu verwerten.

2. Ein weiterer Faktor für den Trend zu Standardisierung ist, dass die Unternehmen, Aktionäre und Rentiers, die über die konkrete Ausgestaltung dieses Privatisierungsprojekts entscheiden, grosse politische und wirtschaftliche Risiken eingehen. Einerseits kann die Umsetzung der Privatisierung im Bildungsbereich massive und vielleicht harte Opposition von Seiten der Gewerkschaften und der Beschäftigten des Bildungssektors (Lehrkräfte, AusbilderInnen, ErzieherInnen, administratives und technisches Personal usw.) wie auch der SchülerInnen, Lehrlinge und StudentInnen auslösen. Auch bei den lohnabhängigen Eltern von SchülerInnen könnte eine Reaktion in Form von Widerstand entstehen. Diese soziale Front könnte breiter werden.
Anderseits ist es a priori nicht ausgeschlossen, dass diese Art Opposition einen breiten politischen Ausdruck findet. Damit könnten einige gleichgelagerte neokonservative Projekte in Schieflage geraten.
Daher leisten die Träger der Privatisierungsprojekte grosse institutionelle Anstrengungen zur Propagierung ihrer Ideologie und Gegenreform, um der Entwicklung eines möglichen Widerstands zuvorzukommen.

3. Es geht jedoch nicht darum, den Bereich der Bildung ohne weiteres an private Unternehmen zu verscherbeln. Denn die Wege der Privatisierung sind in einem so bedeutsamen und dezentralisierten Sektor, der im Zentrum von Produktion und Reproduktion steht, sehr vielfältig. Der Artikel von Lucienne Girardbille und Pierrette Iselin, der in der Zeitung der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes (VPOD) erschienen ist, liefert einen sehr guten Überblick über die Komplexität der laufenden Privatisierungsprozesse.8 Denn bevor die Bourgeoisie diesen Sektor liberalisiert, will sie ihn zunächst regulieren, damit die Lohnabhängigen den neuen, differenzierten Anforderungen der Unternehmer in Sachen "Kompetenzen" nachkommen können.
Die Bestrebung zur Standardisierung drückt sich beispielsweise in der Vielzahl und im Inhalt der Abkommen und Konventionen wie jene von Lissabon (1997), von der Sorbonne (1998), von Bologna (1999), von Salamanca (2001) und Prag (2001) und im nächsten Jahr von Berlin aus, die auf die Schaffung eines "europäischen Hochschulraums" abzielen, der für die Privatisierung offen und sehr stark standardisiert ist.9
Eigentlich geht es um eine starke Deregulierung, damit Profite generiert werden können, aber gleichzeitig um eine intensive Regulierung, damit der Markt sich vollends globalisiert… Hier liegt ein interner Widerspruch des sogenannten Neoliberalismus in der dritten imperialistischen Phase, der schwierig zu überwinden ist.

4. Diese Deregulierung bedingt eine tiefgreifende Reorganisation und Zentralisierung der verschiedenen nationalen Behörden für Bildungspolitik. Die Behörden sind auf Grund ihrer Geschichte von Vetternwirtschaft, Kompromissen zwischen herrschenden politischen Kräften, Zugeständnissen an die Opposition, an wirtschaftliche Sektoren oder an Regionen nicht sehr handlungsfähig. Da sich auf dieser Ebene keine Reform anbahnt, zeichnet sich in Zusammenhang mit der neoliberalen Neuregulierung ein Bild des Chaos.
In der Schweiz beschäftigt sich insbesondere der Think Tank der Unternehmer, die "Stiftung Zukunft Schweiz", mit diesem Aspekt der Frage.10 Auch die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) hat die PISA-Studie zum Anlass genommen, die Schaffung eines "Bündnisses für die Bildung" auf Bundesebene bekannt zu geben, in der "alle Partner aus Bildung und Arbeitswelt"11 in der Schweiz vereint sind. Standardisierung durch Messung der erworbenen Kompetenzen (PISA) ist Teil dieses Projekts.

5. Bevor der Markt der beruflichen Bildung privatisiert wird, soll er neu gestaltet werden, damit er die höchstmögliche Verlässlichkeit bietet. Die Bourgeoisie und ihre Entscheidungsträger wissen aus eigener Erfahrung, dass viele Unternehmer skrupellos sind.
Aber dieser Markt wird auch in Richtung der grösstmöglichen Nützlichkeit der Ausbildung verändert, was gleichbedeutend ist mit Flexibilität sowie erzwungener Neuorientierung und Umschulung im Interesse der Unternehmer. Hier liegt auch eine Stossrichtung von Programmen wie PISA. Sind die "Kenntnisse" erst einmal getestet und "zertifizierbar", so kann auch über private Schulungs- und Bildungsmassnahmen und insbesondere über "modulare" Massnahmen diskutiert werden. So wird die Bildung zur Ware.

Modulare Bildung


Die "modulare" Bildung - als generelle Weiterführung der Ausbildung, aber vor allem für jene konzipiert, die keine Hochschulbildung genossen haben -, wird zeitlich, räumlich und sogar in Bezug auf den Stoff zersplittert. Die Bedürfnisse und Anforderungen der Unternehmer werden sich angesichts des aktuellen sozialen und politischen Kräfteverhältnisses zweifellos durchsetzen. Natürlich ist die Vorstellung von Modulen nicht an und für sich etwas Negatives. Im derzeitigen Umfeld stellen die Module jedoch eine offene Tür für die Privatisierung eines Teils der Bildung / Ausbildung dar. Die Einführung der Module wird eine Reihe von konkreten Auswirkungen mit sich bringen.

1. Die Verbreitung des Bildungsgutscheins (in Form von finanziellen Mitteln, die den Menschen zugeteilt werden, die sich an - insbesondere private - Anbieter auf dem Bildungsmarkt wenden), damit sie eine Weiterbildung oder Umschulung absolvieren können.

2. Die Einführung von Tests zur "Zertifizierung" der zu einem früheren Zeitpunkt erworbenen Qualifikationen, die während der ganzen Erwerbstätigkeit durchgeführt werden sollen. Der neue, offizielle und europaweit standardisierte Lebenslauf sieht solche fortlaufenden Tests vor. Aber diese "Zertifizierung" wird sich vollständig auf die Bedürfnisse der "Wirtschaft" ausrichten. Die Anforderungen der Konzerne werden immer dringender, denn dieselben Unternehmen sind ja auch über private Bildungseinrichtungen und Abkommen zwischen Unternehmern und Bildungsunternehmen auf dem Bildungsmarkt präsent.

3. Da der individuelle Bildungsweg durch die modulare Ausbildung geprägt ist, werden auch die Löhne individualisiert und differenziert. Damit sind die Lohnmechanismen der Gesamtarbeitsverträge in der Praxis nicht mehr anwendbar.

4 Die minimale Grundausbildung, die Jugendliche, die mit Schwierigkeiten kämpfen, nach Ende der obligatorischen Schulzeit bloss zu schlecht bezahlten Jobs führt, wird aufgewertet. Die Rechtfertigung dafür ist einfach : der private, modulare Bildungssektor bietet danach die fehlenden Bildungsmodule… gegen Bezahlung, versteht sich.

5. Die Kosten für die Weiterbildung werden teilweise auf die Lohnabhängigen abgewälzt (Unterlagen, Internetanschluss und persönliche Dokumentation). Da der Umgang mit dem Computer in der Schule erlernt wird und in jedem Haushalt ein Gerät steht, werden individuelle und standardisierte Ausbildungen per Internet als ideale Lösungen präsentiert. Diese neuen Ausbildungen sind auf drei Märkte zugeschnitten, die es zu erobern gilt : Informatik für Haushalte, Fernunterricht und Teleworking.

6. Die Weiterbildungszeit wird - freiwillig, in Wirklichkeit jedoch obligatorisch - auf die Freizeit der "modularen" Lohnabhängigen verlegt.

7. Die Leistungen der privaten Anbieter werden mit denjenigen der öffentlichen Institutionen in Konkurrenz gesetzt. Der öffentliche Bereich wird einen grossen Teil seiner finanziellen Mittel verlieren, wenn er nicht alle vom "Markt" verlangten Angebote offeriert, während der private Markt mehr auf Nützlichkeit ausgerichtet ist und daher flexibler erscheint. Dies wird mittelfristig zu einer Situation der Oligopole führen.

8. Immer häufiger wird öffentliche Bildung mit Angeboten privater Anbieter schon in den ersten Schuljahren kombiniert, sogar in Kernfächern. Werbung erhält so Eingang in die Schule, unter dem Vorwand, "Chancengleichheit" zu finanzieren : in Wirklichkeit geht es um die Jugendlichen als Marktsegment.

Autonomie der Schulen

Neben der modularen Bildung - die von den Unternehmerkreisen und den Auftraggebern der PISA-Studie diskutiert wird -, schlagen die Autoren der PISA-2000-Analysen die Einführung der "Autonomie" der Schulen vor.
Damit werden die Schulen wie private Unternehmen funktionieren, mit anderen Schulen in Konkurrenz treten und jegliche Solidarität und Umverteilung abschaffen. Die Schulen, die sozial "schlechter" dastehen, werden so benachteiligt.
Das Konzept dieser Funktionsweise entstammt den Grundsätzen des New Public Management und wird in einem grossen Teil des öffentlichen Sektors bereits angewandt. Zur seiner flächendeckenden Einführung im Bildungswesen fehlen noch einige Impulse, die mit Hilfe der PISA-Studie im Namen der Verbesserung der Kompetenzen der Kinder nun vorhanden sind.
Um einen Anstieg der Schweiz innerhalb der PISA-Rangliste zu erreichen, wollen die Wortführer der Privatisierung den Schuleintritt vorziehen und die Kinder bereits mit 3 oder 4 Jahren einschulen. Die OECD schlägt gar die heterogene Schulklasse vor, d.h. dass die SchülerInnen nicht in Abteilungen eingeteilt werden, sondern in kleinen Gruppen einen spezifischen Unterricht in gewissen Fächern erhalten, und dies bereits im Bereich der obligatorischen Schulbildung.
Ein solcher Vorschlag erstaunt, wenn er aus Wirtschaftskreisen kommt. In Wirklichkeit geht es für sie darum, die Grundschulausbildung, die nicht sehr rentabel ist und gleichzeitig der wichtigste Bereich der Schulbildung überhaupt darstellt, so früh wie möglich beginnen zu lassen, damit sich alle "Leistungsstarken" für die Selektion in der nachobligatorischen Schulbildung so gut wie möglich profilieren können. Kinder aus bessergestellten Familien haben bei Bedarf neben "Leistung" auch den Ausweg der halbprivaten oder privaten Bildungsinstitute zur Verfügung.
Die soziale Selektion und die Differenzierung nach "Leistung" werden sich in der Schule verschärfen. Die neokonservative Gegenreform soll auch vermehrt weibliche Arbeitskräfte hervorbringen und in gewisse Schichten von Lohnabhängigen eingliedern, die trotz der herrschenden Erwerbslosigkeit nicht genügend vorhanden sind.

Die Organisatoren der Privatisierung

Die neuen Strategien werden durch die verschiedenen Träger der kapitalistischen Globalisierung umgesetzt : die Think Tanks, die Lobbies der transnationalen Konzerne, die dominierenden Unternehmen der Länder der sogenannten Triade (USA und die NAFTA-Zone, Japan und sein wirtschafliches Einflussgebiet in Ostasien, die Europäische Union oder ihr harter Kern, d.h. Deutschland, Grossbritannien und Frankreich, die teilweise andere Länder in ihre Strategien einbinden), sowie die OECD, die WTO und ihre diveren Strukturen.
Daneben gibt es vier wichtige Institutionen, die auf allen Stufen den Privatisierungsprozess vorantreiben :

1. Die 1919 gegründete Internationale Handelskammer. In ihr sind Unternehmen und Unternehmerverbände aus den 130 Ländern organisiert, die das Internationale Schiedsgericht in Sachen Handel und Investitionen eingerichtet haben. Dieses ist den grossen transnationalen Konzerne der kapitalistischen Globalisierung untergeordnet und von der UNO und ihrer Kommission für internationales Handelsrecht anerkannt.

2. Der europäische Runde Tisch der Unternehmer (Round Table of Industrials ERT), 12 der 1983 gegründet wurde und an dem die Leiter von etwa fünfzig transnationalen, in Europa aktiven Konzernen teilnehmen, unter anderem die Giganten der Informatik, der Ernährungsindustrie und der Pharma.

3. Die OECD : ihre Absichten bezüglich Privatisierung der Schulen werden im Bericht "Die politische Machbarkeit der Anpassung" von Christian Morrisson besonders ungeschminkt und zynisch dargelegt.13

4. Das allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) der WTO, 14 die seit Mitte der 90er Jahre erfolgreich daran arbeitet, alle Dienstleistungen und insbesondere den Sektor der Bildung und Ausbildung für die Konkurrenz privater Unternehmen zu öffnen. Durch das GATS wurde es möglich, Subventionen (also auch staatliche Subventionen an Schulen) als "schädliche Martkverzerrung" darzustellen. Diese Bezeichnung wird die gesamte Bildungspolitik von Grund auf verändern.

"Innovative und nützliche Operationalisierung"


Angesichts der dargelegten Entwicklung werden die Begriffe, mit denen die OECD die PISA-Studie untermauert, verständlich : Operationalisierung der Bildungsziele an Hand von innovativen Methoden zur Beurteilung der nützliche Kompetenzen für das Erwachsenenleben der getesteten Jugendlichen.
Bedeutet Operationalisierung die Anpassung der Grundausbildung, die mit PISA getestet wurde, an die derzeitigen Bedürfnisse der Unternehmen und insbesondere der Unternehmen, die sich im Bildungsmarkt betätigen möchten ? Der Schwerpunkt auf Erstsprache, Mathematik, Naturwissenschaften und Informatik lässt dies vermuten.
Meinen "innovative Methoden" die totale, partielle oder modulare Privatisierung der Bildung ? Je nach Land dominieren die Konzerne, vor allem aus Australien, den USA, Grossbritannien und Frankreich, das Bildungswesen bereits. Diese Unternehmen wollen ihre Märkte und die "Nebenmärkte" (wie Informatik, Bekleidung, Musikindustrie) erweitern.
Wäre die für die Zukunft der SchülerInnen nützliche Kompetenz die Fähigkeit zur teilweisen "Internalisierung" von Ausbildungskosten- und Zeit in das Privatleben, mit Hilfe der neuen Informationstechnologien ?
All dies wird natürlich in einen offiziellen Diskurs eingebettet, der sehr objektiv und salonfähig klingt. An einer öffentlichen Konferenz hat eine Schweizer PISA-Verantwortliche erklärt, sie habe nicht darüber nachgedacht, welches die Absichten der OECD mit dieser Studie sein könnten.15 Eine solche Naivität oder Unverfrorenheit ist kaum zu fassen.
Sei es nun Naivität oder Heuchelei, das Institut für pädagogische Forschung und Dokumentation (IRDP) verweist auf die Informationspflicht gegenüber den Eltern und der Öffentlichkeit : "Inwiefern sind die junge Erwachsenen für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet ? Sind sie fähig, ihre Vorstellungen zu analysieren, zu reflektieren und effizient zu kommunizieren ? Haben sie die Fähigkeiten, die für ein lebenslanges Lernen notwendig sind ? Sind gewisse Formen der Unterrichts und der schulischen Organisation effizienter als andere ? Die Eltern, die SchülerInnen, die Öffentlichkeit und die Behörden (oder die Schulbehörden) müssen dies wissen."16

Sollten die Gewerkschaften, die Lehrer-Innenverbände, die SchülerInnen und die Eltern die Zukunft der Bildung nicht in die Hand nehmen und gegen eine Logik des Wettbewerbs Widerstand leisten, die zu Ängsten (und Mehrausgaben) führen wird, wenn es um den "Erfolg" der Kinder geht ? Um welchen Erfolg ?



1. PISA, Programm for International Student Assessment. Zu PISA siehe OECD, Lernen für das Leben. Erste Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie PISA 2000, OECD 2001. Der Text ist auf der offiziellen PISA-Homepage verfügbar : http:// www.pisa.oecd.org /. Siehe auch : Für das Leben gerüstet ? Die Grundkompetenzen der Jugendlichen - Nationaler Bericht der Erhebung PISA 2000. Neuenburg, 2002. Dieser Text ist in Form eines Kurzberichts unter http://www. statistik.admin.ch / stat_ch / ber15 / pisa-pres / pisa-d. pdf verfügbar.

2. Siehe http://www.oecd.org/EN/home/0,,EN-home-0-nodirectorate-no-no-no-0, FF. html Rubrik Member Countries.

3. Siehe insbesondere Pierre Varcher, "Evaluation des systèmes scolaires par des batteries d'indicateurs du type PISA : vers une mainmise néolibérale sur l'école ?" Genf 2002. Verfügbar unter http:// www.arobase-ge.ch /, Rubrik "en débat", und dann "PISA".

4. Siehe Brain Sciences Institute, A Review of the work of the Brain Science Institute covering the period 1.1.1999 - 31.12.2000, BSI, Hawthorn Victoria 2001. Verfügbar unter http://www.scan.swin.edu.au / percept_01.pdf.

5. Siehe obengenannte Publikation und Sciences Humaines, n° hors série, "1900-2000 : un siècle de sciences humaines", Sciences Humaines, Paris, September 2000.

6. Siehe Nico Hirtt, "Les trois axes de la marchandisation scolaire", in Etudes marxistes n° 56, Bruxelles, mai 2001. Verfügbar auf http://users. swing. be / aped / Fiches / F0073.html.

7. Gérard de Sélys, "Un rêve fou des technocrates et des industriels. L'école, grand marché du XXIe siècle". Le Monde diplomatique, Juni 1998.

8. Siehe Lucienne Girardbille und Pierrette Iselin, "Les tendances de privatisation dans l'enseignement", in Les services publics, Lausanne, 8.9.2000.

9. Auf der Internet-Seite von swiss-science. org, Herausgeberin des Magazins Vision, in dem sich die grossen Bundesverwaltungen in Sachen Bildung und Wissenschaften, die Hochschulen und einige multinationale Bankkonzerne austauschen, findet man alle Informationen zu diesen Abkommen und Konventionen : www.swiss-science.org/html_d/frameset/frameset.htm und dann unter News Dossiers/Der Bologna-Prozess.

10. Siehe www.avenirsuisse.ch und die Artikel von Madeleine von Holzen und Xavier Comtesse auf www.swissup.com.

11. Siehe "Verbundenes Handeln nach PISA : ein Bündnis für Bildung", Pressemitteilung der EDK vom 7.3.2002, http://edkwww.unibe.ch/d/EDK/Geschaefte/PISA/pisa. html.

12. Susan George zeichnet in Le Monde diplomatique vom Dezember 1997 die Entwicklung des ERT nach und zeigt, wie dieser unter dem französischen sozialdemokratischen Politiker Delors innerhalb der europäischen Institutionen einen entscheidenden Platz erhalten hat.

13. Christian Morrisson, "La faisabilité politique de l'ajustement", Cahier de développement de l'OCDE, Cahier politique énonomique n° 13, OECD, Paris 1996. Verfügbar auf der Homepage der OECD unter http://www.oecd.org/pdf/M00005000/M00005992.pdf

14. Zu GATS siehe die Homepage der WTO www.wto.org und die Seite von attac http://attac. org/nonewround /.
15. Veranstaltung "Autour de l'enquête PISA" in Genf am 18. März 2002, mit u.a. Huguette McKluskey vom nationalen PISA-Team.

16. Siehe http://www.irdp.ch/ocde-pisa/prespisa2.htm.