Wie
immer haben zu Jahresbeginn die Wirtschaftsprognosen
Hochkonjunktur. Und seit 25 Jahren folgt ihnen
mit derselben Regelmässigkeit, Quartal
für Quartal, die Korrektur. Wie sagte doch
schon Mark Twain (1835-1919), der Schriftsteller
aus dem amerikanischen Westen : "Was euch
Schwierigkeiten bereitet ist nicht das, was
ihr nicht wisst, sondern das, was euch sicher
scheint und doch nicht das ist, was ihr glaubt."
Vergessen wir diesen Satz nicht, wenn wir Titel
wie den folgenden lesen : "So wird 2004.
Börse, Konjunktur, Jobs : Warum im nächsten
Jahr alles besser wird" (Cash, 24. Dezember
2003).
Dies
um so mehr, als dieselbe Presse einen weiteren
Anstieg der Krankenkassenprämien, der Posttarife
und der SUVA-Beiträge ankündigt (NZZ
am Sonntag, 11.1.2004) und für 2003 in
der Maschinenindustrie einen Rückgang der
Beschäftigung um 5.1 % verzeichnet, ohne
Anzeichen für die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen.
Ähnlich sieht es bei den Banken aus (-4.3
%), im Gastgewerbe (-3.5 %) oder im Grosshandel
(-3.3 %). Und alle diese Sektoren werden im
Versuch, ihre Gewinnmarge zu halten, weiterhin
"rationaliseren", das heisst die Arbeit
flexibilisieren, die Möglichkeiten des
vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB)
akzeptierten Arbeitsgesetzes bis aufs Äusserste
nutzen, die Arbeitsintensität steigern
und im Namen der Polyvalenz die Aufgaben jeder
/ s einzelnen Lohnabhängigen vermehren.
Eine Person soll also die Arbeit von zwei Personen
erbringen. Darüber hinaus wird der Lohn
weiterhin stagnieren, oder genauer gesagt sinken,
wenn wir die tatsächliche Inflation berücksichtigen.
Doch
"im nächsten Jahr wird alles besser."
Für wen ? Für die Unternehmer und
die Grossaktionäre, die auf verschiedenen
Hochzeiten tanzen und sich immer irgendwie aus
der Affäre ziehen können ? Für
die grosse Mehrheit der Lohnabhängigen
? Für die Student / innen, die zur Finanzierung
ihres Studiums arbeiten müssen, oder deren
Eltern den Gürtel enger schnallen, um sie
beim Studium zu unterstützen, ohne Garantie,
dass sie nachher einen sicheren Arbeitsplatz
finden ? Für die in der Industrie beschäftigten
Frauen, deren Nettolöhne nicht über
2,800 oder 3,000 Franken pro Monat liegen ?
Für die Personen im Ruhestand, die keine
2. Säule haben oder deren 2. Säule
weit weniger einbringt, als ihnen 1972 (Abstimmung
über die Volkspension) oder 1985 (Einführung
der obligatorischen 2. Säule) vorgegaukelt
wurde ?
Diese
Fragen zeigen uns schon, dass es keine "Wirtschaft"
gibt, sondern eine Gesamtheit gesellschaftlich-wirtschaftlicher
Beziehungen, die auf dem Verhältnis zwischen
den "Wirtschaftsführern" - sie
werden immer mehr zu "Führern"
des Alltagslebens bei der Arbeit, wo freundlich
gelächelt und ein Anschein von Partizipation
erzeugt werden soll - und den Lohnabhängigen
beruht. Sie sind gezwungen, die ihnen auferlegten
Lebens- und Arbeitsbedingungen zu akzeptieren
- unter dem Druck der Arbeitslosigkeit und der
Angst, keine neue Stelle zu finden, entlassen
zu werden, in den Augen der Kollegen / innen
schlecht dazustehen. Denn die Unternehmer organisieren
die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen.
Diese nimmt schärfere Züge an als
die Konkurrenz unter den Kapitalisten, weil
die Gewerkschaftsführungen schwach sind
und keine Organisation aufbauen wollen, keinen
Widerstand... Sie träumen viel mehr von
Runden Tischen und spektakulären Auftritten
in der Arena.
Weiterhin
und noch einmal"besser arbeiten" !
Bevor
wir auf zwei wichtige Fragen eingehen, halten
wir noch Folgendes fest : Sollte es in der Schweiz
zu einem Aufschwung kommen, wird er sehr bescheiden
ausfallen (zwischen 0.9 % laut Credit Suisse
und 1.9 % laut Seco). Und die Politik der Unternehmer
sowie der sozial-demokratischen Führer
der SBB, der Post, usw. wird sich auch nicht
ändern : Erhöhung der Arbeitsproduktivität
; noch einmal bis zur Erschöpfung gesteigerte
Ausbeutung der Arbeiter / innen und Verstärkung
des Stresses mit seinen physischen, psychologischen
und gesundheitspolitischen Auswirkungen ; Kürzung
der Sozialausgaben ; Verschärfung der Selektion
im Bildungswesen.
Was
die Löhne angeht, so reichen zwei Zahlen
aus, um die Differenz zwischen der Realität
und den Forderungen aufzuzeigen, die der ehemalige
Schönwettermarxist Serge Gaillard (SGB)
im Stile eines Rituals immer wieder öffentlich
vorträgt : Zwischen 1999 und 2002 sind
die Löhne in der Maschinenindustrie durchschnittlich
um 1.5 % angestiegen (für viele Lohnabhängige
sind sie also gar nicht gestiegen oder sogar
gesunken) ; auf dem Bau waren es im Durchschnitt
2.7 %. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand
: Der Anteil der Löhne an einer Produktionseinheit
(an einer Baustelle, einer Maschine, einem Dossier
in der Bank, usw.) ist in der Schweiz weiter
gesunken. Dies bestätigen auch die Berichte
der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich
(BIZ) in Basel. Die schweizerischen Unternehmer
sind eine Avantgarde im Dienst des wettbewerbsfähigen
"Standort Schweiz", unterstützt
durch die Gewerkschaftsbonzen. Ausser ihnen
hat niemand eine Stelle auf Lebenszeit.
Grösser
werdende Ungleichgewichte
Kommen
wir noch zu zwei grundsätzlichen Überlegungen.
-
Der erste Punkt betrifft die Politik der Zentralbanken
- und ihrer engsten Mitarbeiter : der Privatbanken
- sowie der Regierungen. Sie stehen vor einem
grundlegenden Problem, das sich wie folgt formulieren
lässt : Angesichts der schwerwiegenden
Finanzkrisen der 90er Jahre (Asien, Russland,
Enron, Spekulationsfonds, grosse Konkurse in
Japan, usw.) haben die amerikanischen Zentralbank
und ihre europäischen und japanische Schwestern
phantastische Summen Geld in die Zirkulation
geworfen und dadurch die Zinssätze auf
einen historischen Tiefstand gesenkt.
So
haben die Zentralbanken während mehr als
13 Jahren 1) die Spekulation an den Börsen
angetrieben ; 2) es den Banken ermöglicht,
durch Kommissionen auf Finanzgeschäfte
riesige Summen einzustreichen und Verluste auszugleichen,
die aus missglückten Spekulationen, dem
unüberlegten Aufkauf von Finanzunternehmen
zum Zweck der Ausweitung des eigenen Einflusses,
dem Konkurs von Kunden, usw. resultierten ;
3) durch eine Hypotheken-Politik ohne Grenzen
einen neuen Boom (eigentlich eine Blase) im
Immobiliensektor gefördert ; 4) es den
Grosskonzernen erleichtert, mit billigem Geld
ihre eigenen Aktien zu kaufen ; 5) den Konsum
auf Kredit in bisher unbekanntem Ausmass gefördert
(SonntagsZeitung, 11.1.2004, S.49).
13
Jahre dieser Politik haben Risiken erzeugt,
die auch nach den ersten Erschütterungen
an den Börsen (März 2001 bis März
2003) gross bleiben.
1.
Falls die Zinssätze in den USA ansteigen,
um riesige Massen von Kapital ins Land zu holen,
wird es zu zahlreichen Konkursen kommen. Stark
verschuldete Unternehmen werden nicht mehr in
der Lage sein, ihren zahlreichen Verpflichtungen
nachzukommen.
Und
wenn die Zinssätze auch in Europa wieder
ansteigen, könnte dies dem angekündigten
Aufschwung bereits den Todesstoss versetzen.
Eine erneute Rezession wäre möglich.
Dies zu einem Zeitpunkt, in dem es noch unsicher
ist, ob die produktiven Investitionen (ein Motor
jedes kapitalistischen Aufschwungs) an die Stelle
eines sich erschöpfenden Konsums treten
werden. Sicher ist hingegen (und diesbezüglich
täuscht sich Mark Twain), dass die Unternehmer
in den strategischen Sektoren noch mehr Stellen
streichen werden.
2.
Falls die Zinssätze unverändert bleiben,
wird sich Inflation einstellen. Dies wird den
Konsum der Haushalte ins Stocken bringen, auf
den sich die amerikanische Wirtschaftsmaschinerie
so sehr stützt, welche wiederum den eigentlichen
Motor der Weltwirtschaft darstellt.
-
Die zweite Überlegung betrifft die amerikanische
Wirtschaft. Die USA umfassen 20 bis 21 % des
weltweiten BIP. Während dem Boom der so
genannten "New Economy" (1995-2002)
haben sie allein für durchschnittlich 40
% des weltweiten Wachstums gesorgt.
Diese
Bedeutung ist direkt mit der Tatsache verknüpft,
dass die USA den Löwenanteil der weltweiten
Kapitalströme nach Wall Street zu lenken
vermögen, um die Obligationen (die Schulden)
der transnationalen Konzerne und des Staates
zu finanzieren. Die Defizite der Zahlungsbilanz
und der staatlichen Haushalte haben in den USA
ein Rekordniveau erreicht. Die Zahlungsbilanz
der USA (Handelsbilanz plus Bilanz der "unsichtbaren"
Finanzströme (invisibles) : Versicherungen,
Transportwesen, Zinsen, einseitige Zahlungen
: öffentliche Hilfe, Löhne, usw.)
weist Ende 2003 einen Fehlbetrag von 500 Milliarden
Dollar auf. Die Aussenschuld der USA liegt bei
30 % des BIP (3 Billionen Dollar). Deshalb hat
Alan Greenspan von der Fed (US-Zentralbank)
besorgt die Frage gestellt, ob es möglich
sei, dass die Ersparnisse der ganzen Welt weiterhin
in die USA fliessen (New York Times, 4.11.2003).
Die asiatischen Banken, die über ca. 70
% der weltweiten Devisenreserven verfügen,
haben vor allem in amerikanische Obligationen
investiert. Werden sie dies weiterhin tun, ohne
dass die Zinssätze zu diesem Zweck ansteigen
müssen ?
Für
die schweizerischen Kapitalisten bedeuten ein
müder deutscher Kapitalismus und ins Wanken
geratende USA keine "bessere" Zukunft.
Was die Zukunft der Lohnabhängigen angeht,
so hängt sie von ihrer eigenen kollektiven
Aktion ab.
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