Im
Jahr X der Gegenreform : Eine Bestandesaufnahme
zeigt, dass es der Bourgeoisie dieses Landes
zum grössten Teil gelungen ist, die Ziele
umzusetzen, die in den beiden "Weiss-büchern"
von 1991 und 1995 vorgegeben waren. In verschiedenen
Bereichen zeichnet sich zudem ein "zweiter
Durchlauf" ab (siehe Debatte Nr. 1, Mai
2000, www.debatte.ch). Diese starke Position
erklärt gewisse Haltungen bei den Bürgerlichen,
die man als Zögern interpretieren könnte,
die jedoch bloss zweitrangige Differenzen und
Manöver sind, während das grundsätzliche
Programm der Rechten unangefochten und in rasantem
Tempo umgesetzt wird. Der neue Präsident
der Freisinnigen, Nationalrat Gerold Bührer,
Direktionsmitglied des Schweizer Industriekonzerns
Georg Fischer (SH), bestätigt diese Sichtweise
in einem Interview in der Wirtschaftszeitung
"l'agefi": "Die Umsetzung eines
übergreifenden strategischen Konzepts ist
immer schwierig. Man muss sich fragen, wann
der richtige Augenblick dafür da ist. Der
strategische Prozess kann in Gang gesetzt werden,
es fragt sich nur, wann der günstigste
taktische Zeitpunkt für die Vollendung
des Prozesses gekommen ist." (18.12.2001).
Welches Potential hat der soziale Widerstand
der Unterdrückten nach einem "Jahrzehnt
der Herrschenden"?
Eine
Feststellung drängt sich auf : Die Anzeichen
von "sozialer Unzufriedenheit" waren
in den letzten Jahren von Seiten der Lohnabhängigen
häufiger zu vernehmen, auch wenn sie das
helvetische Mittelmass nicht gesprengt haben.
Die Gründe für diese Unzufriedenheit
finden sich zuhauf, bedenkt man die Brüche,
Spannungen und Angriffe, die mit der neokonservativen
Gegenreform eingetreten sind. Einige Beispiele
aus der letzten Zeit machen dies deutlich.
Kollektive
Deklassierung
Zur
Zeit werden ganze Schichten von Lohnabhängigen
kollektiv deklassiert und destabilisiert. Insbesondere
betrifft dies das Personal der beiden ehemaligen
Bundesbetriebe SBB und PTT. Die Lohnabhängigen
pflegten auf Grund der Geschichte dieser Betriebe
eine relativ einheitliche Identifikation (Zugehörigkeit
zu einem Gesamtbetrieb mit eigenen Regeln und
Traditionen), die nun aber rapide abgebaut wird.
Innerhalb von wenigen Jahren haben sie ihre
Orientierungspunkte verloren. Der Betrieb, für
den sie arbeiten, hat einen neuen Namen, einen
neuen Status und eine neue Funktionsweise. Die
Arbeitsplätze, die früher gesichert
waren, wurden prekarisiert oder durch Massenentlassungen
abgeschafft. Die Sicherheit und Stabilität
des Beamtenstatus ist liquidiert. Die übliche
Vorstellung der Arbeitsweise wurde gänzlich
verändert : Angestellte, die (praktisch)
VertreterInnen der Obrigkeit waren, leicht autoritär,
jedoch tatsächlich im Dienst der Bevölkerung
standen, wurden durch eine Vielzahl von Handelsvertreter
ersetzt, die Kunden und Rendite jagen...und
miteinander in Konkurrenz stehen. Die Arbeitsbelastung
ist massiv angestiegen. Die anerkannten Mechanismen
zu Qualifikation wurden im Rahmen von hierarchischen
Machtverhältnissen individualisiert.
Diese
Veränderungen bilden den Nährboden
für eine anhaltende Unzufriedenheit, die
sich von Zeit zu Zeit öffentlich ausdrückt.
Ein Beispiel dafür ist die Petition der
Lokführer, die letzten Herbst zirkulierte,
und die den Rücktritt von SBB-Verwaltungsratspräsident
Thierry Lalive d'Epinay forderte. Der Gesamtarbeitsvertrag
(GAV), der in der Post ausgehandelt und von
den Gewerkschaftsspitzen abgesegnet wurde, hat
unter den Postangestellten und Mitgliedern der
Gewerkschaft Kommunikation eine starke Opposition
hervorgerufen (siehe die Zeitschrift à
l'encontre Nr. 2, www.alencontre.org). In der
Folge hat eine Mehrheit der Delegierten der
Gewerkschaft Kommunikation den mit der Direktion
der Post ausgehandelten Lohnabschluss verworfen
und die Frage an das Schiedsgericht überwiesen,
das laut GAV vorgesehen ist. Hingegen entstand
bei Swisscom -der Branche der PTT, die die härtesten
Umstrukturierungen samt Streichung von Tausenden
von Arbeitsplätzen erlebte- kein sichtbarer
Widerstand. Die Gewerkschaften dieser Betriebe
waren früher veritable Institutionen, die
mit der Direktion eng verbunden waren, ohne
dass dies irgendwelchen Protest ausgelöst
hätte. Heute sind die Gewerkschaften auf
Grund dieser Verstrickung jedoch offensichtlich
mit Misstrauen und Rückzug seitens der
Lohnabhängigen vieler Sektoren konfrontiert.
Auch
andere Bereiche des Service public auf kommunaler
oder kantonaler Ebene haben das gleiche Schicksal
erlitten. In einigen Fällen hat dies zu
grösseren Mobilisierungen und bei der Zeba,
der privatisierten Zentralwächerei Basel,
im Jahr 2000 zu zwei Streikbewegungen gegen
die massiven Lohnkürzungen geführt.
In
gewisser Weise erleben auch die Bauern einen
ähnlichen Schock. Die verzweifelte Situation
von vielen unter ihnen und das explosive Potential,
das damit verbunden ist, hat sich bei der Blockierung
der Verteilzentren von Coop und Migros durch
die Bauern der Gewerkschaft Uniterre in der
Westschweiz gezeigt. Jedoch beschränkte
sich die "Reak-tion" auf die neue
Landwirtschaftspolitik des Bundesrats mehrheitlich
auf die schleichende Aufgabe der Betriebe.
Verstreute
und sporadische Reaktionen
Im
Baugewerbe, in weiten Teilen der Industrie und
in geringerem Masse auch in gewissen Sektoren
der Dienstleistungen (Banken und Versicherungen)
herrscht seit den 1990er Jahren die Regel der
permanenten Umstrukturierungen, der Entlassungen
bei der leisesten Konjunkturabschwächung
- oder schon bloss bei "ungenügender"
Rentabilität -, der allgemeinen Prekarisierung
und Flexibilisierung. Angst, aber auch Unzufriedenheit
machen sich breit.
Die
Erneuerung des Gesamtarbeitsvertrags im Baugewerbe
(Landesmantelvertrag) war 1999, nach den Krisenjahren,
eine Möglichkeit, der sozialen Unzufriedenheit
Ausdruck zu verleihen und Forderungen aufzustellen,
zumindest in den Regionen, in denen die Gewerkschaft
das Terrain für diese Mobilisierung vorbereitet
hatte. In anderen Regionen blieb die Mobilisierung
schwach. Die Spitze der Gewerkschaft Bau &
Industrie (GBI) konnte daher das "Couchepin-Abkommen"
leicht durchsetzen (siehe à l'encontre
Nr. 2, www.alencontre. org).
Die
Schliessung der Produktionsstätten des
ABB-Konzerns in den Regionen Basel und Zürich,
in denen Material für Eisenbahnwagen produziert
wurde, hat Ende 1999 gezeigt, welche Revolte
grosse Unternehmen hervorrufen können,
wenn sie aus Gründen der Rentabilität
die Streichung von Tausenden von Arbeitsplätzen
beschliessen. Der Protest der Lohnabhängigen
mündete gar in Ansätzen von kollektivem
Handeln, und dies trotz der Bremsmanöver
seitens der Gewerkschaft SMUV. Auch der Streik
der ArbeiterInnen der Firma Sapal in Ecublens
(VD) (Verpackungsmaschinenfabrik, die in die
SIG-Gruppe mit Sitz in Neuhausen am Rheinfall
integriert wurde) im Jahr 2000 gegen die Liquidierung
ihres Betriebs zeigt das gleiche Widerstandspotential.
Neben
diesen Fällen, in denen sich die Lohnabhängigen
gewehrt haben, fanden jedoch zahlreiche Stellenstreichungen,
Betriebs-schliessungen (einschliesslich jene
von symbolträchtigen Firmen wie Sulzer),
massive Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen
statt, die ohne jeglichen kollektiven Widerstand
durchgesetzt wurden. Hinzu kommt, dass die erwähnten
Proteste in den meisten Fällen keine Folge
hatten. Selbst wenn man von den konkreten Resultaten
der Mobilisierungen, die meist in Niederlagen
endeten, absieht, bleibt doch festzustellen,
dass sich keiner dieser Konflikte zu einem entschlossen
und zielstrebig geführten Kampf entwickelte.
Jedes Mal haben die Gewerkschaftsführungen
alles daran gesetzt, die Mobilisierung zu unterbinden
oder sie haben sich darauf beschränkt,
sich zu beklagen, dass sie nicht vorgängig
informiert wurden und die Entscheide des Management
der Presse entnehmen mussten. Diese Haltung
zeugt von der vollständigen Integration
der Vorstellung, man könne sowieso nichts
ausrichten. In der Mentalität dieser Gewerkschaftsführer
existieren die Lohnabhängigen als kollektive
Akteure in einem Konflikt einfach nicht.
Destabilisierte
Berufsklassen
Ganze
Schichten von Lohnabhängigen wie das Pflegepersonal
oder ein Teil der Lehrkräfte müssen
widersprüchlichen Anforderungen genügen.
Sparmassnahmen
und "Rationalisierungen" im Gesundheitswesen
haben dazu geführt, dass die Arbeitsbelastung
stark angestiegen ist. Gleichzeitig wird es
immer schwieriger, die Arbeit nach den Kriterien
der Berufsethik zu verrichten, der sich eine
grosse Mehrheit der Berufsleute verpflichtet
fühlt. Gefordert wird eine hohe Verfügbarkeit,
während die Anwendung und also auch die
kollektive überprüfung des Wissens
erschwert wird. Währenddessen fehlt die
soziale Anerkennung dieser oft von Frauen erbrachten
Arbeitsleistung, was sich auch in den schlechten
Löhnen ausdrückt.
Die
Protestdemonstrationen waren in den letzten
zwei Jahren in der ganzen Schweiz sehr breit,
und sie haben mit dem Aktionstag vom 14. November
2001 zu einer nationalen Branchenbewegung geführt,
was Seltenheitswert besitzt. Mehr als 23 000
Angestellte aus dem Gesundheitswesen haben an
dieser Mobilisierung teilgenommen (siehe à
l'encontre Nr. 3, www.alencontre.org). Viele
Kantone waren in letzter Zeit auf Grund von
reellen Problemen in Sachen Anstellung und Fluktuation
von Pflegepersonal gezwungen, Zugeständnisse
bei den Löhnen zu machen. In
mehreren Kantonen stand das Lehrpersonal ebenfalls
an der Spitze der Aktionen gegen Sparmassnahmen.
über die unmittelbaren Forderungen hinaus
war dies sicherlich auch ein Ausdruck der verschlechterten
sozialen Bedingungen, unter denen dieser anspruchsvolle
Beruf heutzutage ausgeübt werden muss.
Folgen
der Vereinzelung
Da
es keine grossen organisierten sozialen Bewegungen
mehr gibt, sind die Lohnabhäng-igen mehr
und mehr individualisiert und mit ihren ängsten
und Hoffnungen alleine. Hunderttausende Lohnabhängige
haben in den letzten Jahren Formen von unsicherer
Beschäftigung und Prekarität erlebt,
vor denen sie sich sicher fühlten : Stellenverlust,
eingefrorene oder gekürzte Löhne,
steigende Zwänge und Flexibilität,
Zukunftsängste usw.
Die
öffentliche Reaktion auf diese Destabilisierung
war sehr unterschiedlich. In einigen Fällen
wurden gewisse Gesetze, die ein Symbol waren
für Ungerechtigkeit und sozialen Rückschritt,
abgelehnt, wie beispielsweise die erste Revision
des Arbeitsgesetzes (1996) oder die Kürzung
der Erwerbslosenentschädigung (1997). Häufiger
treten jedoch ein weitgehendes Desinteresse
gegenüber den politischen Geschehnissen
oder aber Protestwahlen ein, die unter anderem
von der SVP kapitalisiert werden (jedoch nur
einen Aspekt der Wahlerfolge der SVP darstellen).
Dissidenz
und Grenzen
Es
gibt jedoch verschiedene Formen der Abgrenzung
gegenüber der Ideologie des Marktes. Die
Offenheit für die Kritik des "Neoliberalismus"
und generell der "sozialen Ordnung",
in der wir leben, ist relativ gross. Für
beschränkte Kreise gilt, dass sie die Notwendigkeit
sehen, mit der blinden Maschinerie und Zerstörung
der Kapitalverwertung zu brechen.
Das
Echo, das die globalisierungskritische Bewegung
seit längerer Zeit geniesst, insbesondere
bei einer Schicht von Jugendlichen, ist ein
Ausdruck derselben Bereitschaft, die herrschende
Ordnung in Frage zu stellen. Die verschiedenen
Mobilisierungen des Marche mondiale des femmes
im Jahr 2000 haben ebenfalls eine Kritik der
Verhältnisse artikuliert. Auch die nationale
Bewegung der Sans-papiers mit ihren Forderungen,
die die offizielle Einwanderungspolitik radikal
in Frage stellen (kollektive Regularisierung
und freier Personenverkehr), zeigt einen Bruch
mit der herrschenden Ordnung (siehe à
l'encontre Nr. 0, 2 und 3 und www.alencontre.org).
Die Bereitschaft, die viele Jugendliche im letzten
Herbst gezeigt haben, sich gegen den Krieg zu
engagieren, markiert ebenfalls den Anfang einer
Öffnung. Die Festigung einer Bewegung gegen
den Krieg ist jedoch schwierig, weil die militärischen
Siege des amerikanischen Imperialismus schnell
eintreten und die Medien die echten Fragen nicht
mehr aufgreifen - und statt dessen einschneidende
historische Ereignisse aus-schliesslich als
Jagd auf einen milliardenschweren Terroristen
thematisieren.
Trotz
der Ansätze von Protestbewegungen und Öffnungen
ist es offensichtlich, dass Forde-rungen wie
ein Entlassungsverbot in der Schweiz nur eine
minimale Unterstützung finden. Die gleiche
Forderung hat beispielsweise in Frankreich eine
breite Anhängerschaft, auch wenn sie nicht
durchgesetzt werden konnte. Eine solche Forderung
ist ein Zeichen für die Ablehnung der Unterordnung
unter die Zwänge des globalisierten Kapitalismus.
Sie entwickelt sich eher auf einem sozialen
Terrain, in dem politische Konflikte und überlieferte
Erfahrungen von Kämpfen die "Sichtweise"
der eigenen Rolle als soziale AkteurIn prägen.
Die
Forderung nach einem Service public (in erster
Linie bei der Post), der für die Bevölkerung
zugänglich bleibt, ist eine der wenigen
Forderungen, die der Logik des totalen Marktes
entgegenwirken und in der Schweiz ein breites
Echo in der Bevölkerung besitzen. Bereits
findet bei der Schliessung von Poststellen in
den Städten die Kraftprobe für den
Widerstand statt. Die direkte Auseinandersetzung
- die nicht an die halb-direkte Demokratie delegiert
wird ! - könnte das Recht der Lohnabhängigen
auf Widerstand gegen Entlassung mit dem Recht
auf demokratische Verteidigung des Service public
verbinden.
Verstreuter
Widerstand ?
Angesichts
der genannten Ansätze stellt sich die Frage,
was daraus werden kann. Die grosse Mehrheit
der Zeichen für die "soziale Unzufriedenheit",
insbesondere in der Arbeitswelt, hat sich bisher
nicht in die Fähigkeit verwandelt, die
bürgerliche Gegenrefom zu stoppen. Entmutigung
tritt unweigerlich ein. Damit verbunden ist
oft eine "endgültige" Enttäuschung
über die "Gewerkschaften" oder
"die Linke", von denen die Lohnabhängigen
- zu Recht - denken, sie würden ihre Rolle
nicht erfüllen (siehe Teil I dieses Artikels
in Debatte Nr. 1 und Kasten "Die Illusionisten"
in dieser Nummer).
Welche
Bedingungen braucht es, damit der Protest dennoch
nützliche Spuren hinterlässt, auch
auf einer niedrigeren Stufe ? Die Antwort auf
diese Frage hängt zu einem guten Teil mit
einer weiteren Frage zusammen : Inwiefern ist
es möglich, dass die Mobilisierungen die
Entstehung von Kollektiven fördern, insbesondere
unter den Lohnabhängigen ? Die Kollektive
machen erstens die Lohnabhängigen wieder
zu den Akteuren der Verteidigung ihrer Rechte.
Zweitens fördern sie die Fähigkeit
zur Schaffung von Solidarität und Zusammengehörigkeitsgefühl
gegenüber den Herrschenden und insbesondere
den Unternehmern. Drittens analysieren sie dank
der Öffnungen, die sie mit ihren Kämpfen
bewirken, und der Annäherung an andere
Befreiungskämpfe - in der Schweiz sowie
in Europa und in der ganzen Welt - die Wirklichkeit
an Hand anderer Kriterien. Davon ausgehend könnte
sich potentiell das Vertrauen in das eigene
Handeln festigen, könnten die Veränderung
der Machtverhältnisse ausprobiert und Alternativen
zur aktuellen Situation gedacht werden. Wenn
Kollektive diese Erfahrungen machen können,
so arbeiten sie gegen die Nachbeter des Glaubensbekenntnisses
TINA - There Is No Alternative ("Es gibt
keine Alternative zum Kapitalismus").
Schritte
in diese Richtung sind schwierig und gleichwohl
entscheidend. Der jahrzehntelange Arbeitsfrieden
hat die Erinnerung an die Kämpfe der ArbeiterInnen
verschüttet, die Identität der ArbeiterInnen
als konträr zu den Unternehmern untergraben,
die Erfahrungen der sozialen Kämpfe geschwächt.
Nur wenige sind heute TrägerInnen dieser
Erfahrungen, insbesondere in der Privatwirtschaft.
Die Praxis der Mobilisierungen, die in den letzten
zehn Jahren im öffentlichen Sektor entstanden
ist, könnte sich bezüglich Organisation
und Perspektiven in einem gefestigten Zusammenhang
niederschlagen, denn hier ist es gelungen, zwischen
verschiedenen Generationen von AktivistInnen
eine Verbindung zu schaffen.
Kollektive
wiederaufbauen
Die
Bewegung der Sans-papiers in den letzten Monaten
oder die Aktionen, die kämpferische Gewerkschaftssektoren
seit einigen Jahren führen (unter anderem
in GBI, VPOD, comedia) zeigen, welche Bedingungen
notwendig sind für den Wiederaufbau von
Kollektiven.
1.
Der Kampf muss auf die kollektive, direkte Aktion
der Betroffenen bauen. Es ist entscheidend,
dass Frauen und Männer wieder zu den direkten
TrägerInnen der Verteidigung ihrer Rechte
und der Forderungen nach gesellschaftlicher
Veränderung werden. Dies ist die grundlegende
Bedingung, damit sich Kollektive bilden können,
die eine Erinnerung an die geführten Auseinandersetzungen
behalten, Erfahrungen sammeln und daher ihre
Aktion in einen grösseren Zusammenhang
stellen können.
Dagegen
behält der - parlamentarische, mediale
und oft auch halb-demokratische (Initiativen,
Referenden) - Delegationismus die Menschen in
der Passivität und treibt damit die Enteignung
der Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung
des Lebens und der sozialen Realität weiter.
Das gleiche gilt für eine noch perversere
Form des Delegationismus : Pseudo-Mobilisierungen
auf "Kopfdruck". Lohnabhängige,
die scheinbar aufgerufen werden, sich aktiv
zu betätigen, werden in Wahrheit zur Manipuliermasse
im Dienste der "Spitzen" gemacht.
Die Leitung der GBI ist Spezialistin für
diese Art "Mobilisierungen".
2.
Es müssen Verbindungen geschaffen werden
zwischen jenen, die für ihre Rechte kämpfen.
Damit müssen die Abtrennungen zwischen
den Menschen bekämpft werden, die die Herrschenden
wie auch die Gewerkschaftsbürokratien oder
die sogenannte institutionelle "Linke"
aufbauen. Nur auf diesem Weg kann von den Erfahrungen
anderer gelernt werden und die eigene Aktion
in eine breitere Vision eingebunden werden.
Damit erhält das eigene Handeln Sinn, selbst
wenn es vielleicht keine grossen Dimensionen
annimmt und nicht unmittelbar zum Erfolg führt.
3.
Jede Aktion muss von der kompromisslosen Verteidigung
der Rechte der Ausgebeuteten und Unterdrückten
ausgehen. Dies ist die Bedingung, um einem Projekt
Glaubwürdigkeit zu verleihen, das die Möglichkeit
des Widerstands gegen die Zwänge des Marktes
und der herrschenden Kräfte aufzeigen will.
Diese Haltung ist auch eine Vorbedingung, um
überhaupt eine Gewinnchance zu haben oder,
was heutzutage häufiger der Fall ist, um
aus Niederlagen produktive Erfahrungen zu schöpfen,
statt nur desillusioniert zu sein.
4.
Die "konjunkturellen" Möglichkeiten
müssen ergriffen werden, um in der präsentierten
politischen Agenda zu intervenieren. Aus dieser
Perspektive hat die Bewegung der Sans-papiers
über die kurzfristigen Resultate hinaus
eine echte öffentliche Debatte provoziert,
und dies in ihrem eigenen Rhythmus. Damit hat
die Bewegung der Forderung nach kollektiver
Regularisierung eine beginnende Legitimität
verschafft, obwohl sie bis anhin von vielen
als absurd abgetan wurde, die sich auf die institutionelle
Verteidigung des "Asylrechts" beschränken.
Die Neue Zürcher Zeitung schrieb am 16.1.2002
in ihrer Beilage "Mensch und Arbeit"
bezeichnenderweise : "Der Preis für
die Arbeit ist ein Leben im Gefängnis.
Papierlose können weder am Arbeitsplatz
noch im Alltag Rechte einfordern." Die
NZZ hat damit die politische und soziale Symbolik
der Bewegung besser verstanden als manche institutionalisierte
Praktiker des Asylrechts.
Eine
Gelegenheit zur Intervention bietet auch die
Diskussion um die Altersvorsorge. Wenn die Presse
über die Unsicherheit der Pensionsgelder
in Zusammenhang mit der Volatilität der
Finanzmärkte schreibt (Le Temps, 17.1.2002:
"Die zweite Säule ist durch die Börsenmärkte
geschwächt"), so ist die Möglichkeit
gegeben, die Forderung nach einer echten existenzsichernden
Rente oder Volkspension wieder aufzustellen
und zu propagieren, d.h. einer Sozialversicherung,
die auf der Fusion der AHV (1. Säule) mit
den Pensionskassen (2. Säule) aufbaut.
Auf
einer anderen Ebene zeigt die Tatsache, dass
sich die globalisierungskritische Bewegung immer
noch weiter entwickelt, dass es möglich
wäre, wieder eine anti-imperialistische
Aktivität aufzubauen. Diese Aktivität
könnte zunächst den Schweizer Imperialismus
anprangern und zeigen, wie absurd der Diskurs
über die "Verschlossenheit" der
Schweiz in Tat und Wahrheit ist. Auf dieser
Grundlage wäre es leichter für die
"globale Widerstandsbewegung", eine
internationale Solidarität mit konkreten
Initiativen und eine Debatte über Alternativen
zum Kapitalismus aufzubauen.
5.
Entscheidend ist auch die Teilnahme an der Erarbeitung
eines antikapitalistischen Horizonts, dies im
kollektiven Dialog mit den Erfahrungen der weltweiten
Kämpfe gegen verschiedene Ausprägungen
der Unterdrückung und Ausbeutung. Es ist
bezeichnend, dass am Weltsozialforum in Porto
Alegre Workshops zum Thema Sozialismus und Zukunft
gearbeitet haben. Dies ist nur ein kleiner Schritt,
jedoch ein fundamentaler : Denn es gilt, die
Reflexion über die Bedingungen und Formen
voranzutreiben, unter denen sich die ProduzentInnen
gemeinsam die Kontrolle über grundlegende
Ressourcen der Erde und über ihre Verteilung
wieder aneignen könnten, und diese an Hand
anderer Kriterien verteilen könnten, als
jene der privaten Verwertung des Kapitals. Ohne
Erarbeitung einer Perspektive im Rahmen der
weltweiten "sozialen Denkfabrik" kann
es keinen politischen Niederschlag der Bewegungen
geben ; der Niederschlag oder die politische
Konkretisierung ist jedoch notwendig, wenn es
darum geht, eine dauerhafte Kapazität zur
Reflexion über die geführten Kämpfe
und die anvisierten Ziele zu bilden.
Wir
sind heute, insbesondere in der Schweiz, mit
einer besonderen Herausforderung konfrontiert
: Wir müssen uns am Wiederaufbau einer
Bewegung der Ausgebeuteten und Unterdrückten
beteiligen, während die alte "ArbeiterInnenbewegung"
mehr und mehr abstirbt, und wir müssen
gleichzeitig, im Rahmen einer internationalen
Debatte, an der Bildung einer politischen Kraft
arbeiten, die die Erfahrungen kollektivieren
und sie in die Erarbeitung eines aktualisierten
Sozialismus einbauen kann.
|
Die
Illusionisten
Die
Leitung der Sozialdemokratischen
Partei (SPS) und mit ihr die Spitze des
Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB)
konzipieren ihre Aktionen und Vorschläge
immer mehr aus der Perspektive der besseren,
sozialeren Verwalter der "nationalen"
Interessen.
Die
Ablehnung der "neoliberalen Exzesse",
d.h. der "Exzesse" des Kapitalismus,
die als unnormal betrachtet werden, stellt
in dieser Optik die fortschrittlichste
Position dar. Vasco Pedrina, Präsident
der Gewerkschaft Bau & Industrie (GBI),
legt sie uns in seinem Interview in der
Gewerkschaftspresse, in dem verkündet
wird, der Chef sei wieder da (travail
et transport, 20.12.2001), noch einmal
dar.
Vasco
Pedrina hat im Ausland "noch keine
Gewerkschaft angetroffen, die besser ist
als die GBI". Er berichtet von seinem
Aufenthalt in den USA und wie er dort
die aktive Rolle der Gewerkschaftern bei
der Anlage von Pensionskassengelder
entdeckt hat : "Die Gewerkschafter
versuchen, eine gute Rendite der Anlagen
mit einer Politik zu verbinden, die die
Arbeitsbedingungen positiv beeinflusst".
Der (Miss-) Erfolg dieser Strategie ist
bekannt. Zu nennen sind hier der Konkurs
des Enron-Giganten, aber auch das Verschwinden
von Pensionsgeldern in den Fluggesellschaften.
Vasco Pedrina sollte vielleicht einmal
das Buch von Lucy Roberts (Les retraites
aux Etats-Unis - Sécurité
sociale et fonds de pension, La Dispute,
Paris 2000), Expertin bei internationalen
Organisationen zur sozialen Sicherheit
in Genf, lesen.
Die
Vorstellung, dass die 2. Säule ein
Instrument der "sozialen Kontrolle"
der Gewerkschaften über die Wirtschaft
sei, ist ein Ladenhüter der rechten
Sozialdemokratie. Sie wird heute
von sogenannten modernistischen Strömungen
der "ArbeiterInnenbewegung"
wieder aufgenommen, wie beispielsweise
in Frankreich von Nicole Notat von der
Gewerkschaft CFDT. Ihre Ideen wurden im
übrigen, wie die französische
Zeitung Liberation berichtet, vom Medef,
dem Dachverband der französischen
Unternehmer, übernommen. In der Schweiz
hat die Zeitschrift Domaine public schon
vor 30 Jahren diese Idee propagieren wollen.
Die Fakten erlauben heute eine klare Beurteilung
der Lage : Die 2. Säule ist ein Betrug,
sie schwächt die Solidarität
und schränkt die Lohnabhängigen
ein. Der damalige freisinnige Bundesrat
Hans Schaffner (zwischen 1961 und 1969
im Amt) hatte dies begriffen. Warum folgt
der ehemalige "kämpferische
Gewerkschafter" Vasco Pedrina den
RedaktorInnen von Domaine public in ihrem
Bestreben, den Platz der "modernen
Bourgeoisie" einzunehmen, der in
der Westschweiz frei geblieben ist ?
"Stachel"
und Konsens
Andere
politische Strömungen, die sich als
"Stachel innerhalb der Linken"
sehen - während sich die sogenannte
"Linke" als "sozialen Stachel"
der Bourgeoisie sieht - versuchen, auf
der Welle der "sozialen
Unzufriedenheit" zu navigieren. Diese
Strömungen - die "SP-Linke"
mit Pierre-Yves Maillard, ein Teil der
Grünen, die Partei der Arbeit, die
Alliance de Gauche in Genf, kantonale
Bündnisse wie Popecosol in Neuenburg,
Basta in Basel oder die Alternative Liste
in Zürich - haben unter anderem für
das Referendum gegen das Elektrizitätsmarktgesetz
(EMG) Anfang 2001 ein Bündnis gebildet.
Dazu einige Feststellungen.
1.
Die sogenannte "SP-Linke" -
die sich als "Oltener Kreis linker
SozialdemokratInnen" und Schweizer
Sektion der Sozialen Republik Europa,
des Bündnisses der "Linken"
innerhalb der sozialdemokratischen Parteien
Europas konstituiert hat (zu finden unter
www.socialism.ch !) - ist in dieser Strömung,
ausser gewissen Sektoren der Grünen,
die einzige Kraft, die auf nationaler
Ebene agiert… und natürlich
innerhalb der SP verharrt. Dies sichert
diesem Kreis eine zentrale Position. Ansonsten
herrscht in dieser Strömung der lokale
oder kantonale Horizont vor.
2.
Die Stossrichtung der sogenannten "SP-Linken"
ist sehr einfach zusammenzufassen : Nicht
alles kann vermarktet werden - und man
muss den Service public gegen den Markt
verteidigen. Diese Position lässt
elementare Fragen ausser acht : Welches
ist die Funktion des Service public im
Rahmen einer kapitalistischen Wirtschaft
? Was ist von den existierenden öffentlichen
Diensten zu halten ? Die Haltung der "linken"
SozialdemokratInnen ist in Wirklichkeit
viel konsensfähiger, als sie sich
gibt. Die von dem "Oltener Kreis
linker SozialdemokratInnen" herausgegebene
Broschüre zum Referendum gegen das
EMG (Energie für eine andere Politik.
Nein zum EMG, 2001) macht dies deutlich.
Diese Broschüre enthält Beiträge
von Gewerkschafter Pierre-Yves Maillard
sowie von Doris Schüepp, Generalsekretärin
des Verbands des Personals öffentlicher
Dienste (VPOD), einer der prominentesten
Vertreterin der Gewerkschaftsbürokratie.
Andere Beiträge tun diesen Aushängeschildern
keinen Abbruch.
Dies
ist nicht überraschend. Die Verteidigung
des Service public in seiner heutigen
Form - von der Bourgeoisie entwickelt,
nicht zu vergessen - gehört zur Standardargumentation
der Sozialdemokratie, nämlich
: Man muss dem Kapitalismus gewisse Grenzen
setzen. Das Thema ist heute zwar von dem
Teil der Sozialdemokratie, der am stärksten
in die neue kapitalistische Ordnung eingebunden
ist, aufgegeben worden. Der Ruf nach Erhaltung
des Service public ist heute jedoch zum
Motto diverser "Stachel" innerhalb
der "Linken" geworden. Diesen
Kräften genügt der Verweis auf
dieses Motto, um sie abzugrenzen. Gleichzeitig
treten sich damit nicht in Konflikt mit
ihrer effektiven Praxis, wenn sie sich
an der kollegialen Verwaltung des "Gemeinwohls"
beteiligen können.
3.
Die "linken" Kräfte innerhalb
der "Linken" haben faktisch
ein Bestreben, das für jede "soziale
Veränderung" grundlegend ist,
aufgegeben : die Schaffung und Entwicklung
von organischen Verbindungen mit den Lohnabhängigen,
die direkte Teilnahme an deren Organisation
und an der Erarbeitung von gemeinsamen
politischen Perspektiven. Die Bildung
eines kollektiven sozialen Subjekts, ohne
das eine radikale soziale Veränderung
schlicht nicht denkbar ist, fällt
bei diesen Kräften völlig ausser
Acht.
Politische
Institutionen - Parlamente, Regierungen,
Instrumente der halb-direkten Demokratie
(Initiativen und Referenden) - sind zur
Referenz geworden für diese Kräfte,
die sich als den linken Akzent innerhalb
der Sozialdemokratie sehen. Sie übernehmen
- vielleicht unbewusst - die politische
Agenda, die ihnen von den Institutionen
vorgegeben wird. Im besten Fall sind sie
ganz einfach schizophren : auf der einen
Seite ein radikaler Diskurs, auf der anderen
Seite die Zwangspraxis einer Parlamentsfraktion.
Schlimmer
noch : Wenn diese Galionsfiguren der "linken
Linken" sich in Positionen befinden,
in denen sie die Möglichkeit hätten,
mit den Lohnabhängigen Verbindungen
zu knüpfen, so tun sie genau das
gleiche wie die Bürokratie der SGB-Gewerkschaften.
Der Generalsekretär des SEV (Eisenbahnergewerkschaft)
Jean Spielmann, Nationalrat der PdA /
Alliance de gauche, hat sich letztes Jahr
für den Gesamtarbeitsvertrag
der SBB stark gemacht, der ungefähr
so verheerend ausgestaltet ist wie derjenige
der Post. SMUV-Sekretär Pierre-Yves
Maillard, Wortführer des "Oltener
Kreises linker SozialdemokratInnen",
der als Reservekandidat für
den Waadtländer Regierungsrat gehandelt
wird, hat sich in kurzer Zeit einen soliden
Ruf als Sozialplangestalter geschmiedet,
dessen er sich in der Reihe der SMUV-Funktionäre
nicht schämen muss, für die
der Arbeitsfriede das höchste aller
Ziele ist. |
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