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Eidgenössische Abstimmungen
vom 16. Mai:

Sagen wir drei mal nein zur unsozialen Politik des Bundesrates
Am 16. Mai 2004 legt der neu-alte, um Blocher und Merz ergänzte Bundesrat drei Vorlagen zur Abstimmung vor, die zusammengenommen einen umfassenden Angriff auf die Lohnabhängigen enthalten: die 11. AHV-Revision, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer für die Finanzierung von AHV/IV sowie ein Paket von Massnahmen bei der direkten Bundessteuer. Finanzminister Merz und „Sozialminister“ Couchepin behaupten, damit mehr Steuergerechtigkeit zu schaffen, die Finanzierung der Renten zu sichern und das Wirtschaftswachstum zu fördern. Das Gegenteil ist der Fall. Der folgende Artikel gibt einen Überblick zu den Abstimmungsvorlagen.
von Lothar Moser, 22. April 2004

Demo gegen den Rentenabbau vom 20.September.03 in Bern

Nein zur 11. AHV-Revision !

Mit der 10. AHV-Revision (1997) wurde das Rentenalter der Frauen von 62 auf 64 Jahre erhöht. Um dies durchzusetzen, hatte Bundesrätin Ruth Dreifuss (SP) damals versprochen, die 11.AHV – Revision werde das flexible Rentenalter für alle bringen.
Wir wissen es mittlerweile besser. Der Angriff auf die Renten geht mit der Vorlage zur 11. AHV-Revision unvermindert weiter. Die herrschenden Kreise fordern in der Vorlage den Abbau von Rentenleistungen in der Höhe von beinahe einer Milliarde Franken pro Jahr: 445 Millionen durch die Erhöhung des Rentenalters der Frauen auf 65 Jahre, 250 Millionen durch die Kürzungen der Witwenrenten und 150 Millionen Franken durch die Verlangsamung der Teuerungsanpassung1.
Parallel zum Angriff auf die Renten präsentieren die Herrschenden das Steuergeschenkspaket für die Reichen, sowie die Vorlage zur Erhöhung der Mehrwertsteuer. Alle drei Projekte verfolgen dasselbe Ziel: eine Umverteilung des Reichtums von unten nach oben.

Rentenalter 67 Jahre?

Seit den neunziger Jahren hat die Verunsicherung der Lohnabhängigen über ihre ökonomische Lage im Alter spürbar zugenommen. Sie wird durch den Bundesrat und interessierte Kreise bewusst geschürt und hat mit den Forderungen von Bundesrat Couchepin (FDP), das Rentenalter auf 67 Jahre zu erhöhen und den Mischindex abzuschaffen, einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Unterstützt wird Couchepin unter anderen vom Schweizerischen Gewerbeverband (SGV). „Im Rahmen der 12. AHV-Revision, muss die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre beschlossen werden“, erklärte SGV-Vizedirektor Kurt Gfeller anlässlich einer Pressekonferenz 2. Zudem müsse man von der Vorstellung Abschied nehmen, dass die Löhne im Verlaufe des Erwerbslebens (Dienstalter) kontinuierlich anzusteigen hätten. Gleichzeitig will der SGV die wachsende Zahl von IV-RentnerInnen mit einschneidenden Massnahmen stoppen: Schluss mit lebenslangen Renten, lautet dabei unter anderem das Rezept.

Die Katastrophenprognosen des Bundesrates bezüglich der Finanzierbarkeit der AHV haben sich jedoch noch nie bewahrheitet. Im Jahr 2000, in der Botschaft zur 11. AHV-Revision hat der Bundesrat, gestützt auf die IDAFiSo-Zahlen 3, für 2000 ein negatives Resultat von 40 Millionen Franken vorhergesagt. Das effektive Resultat lag dann bei positiven 1'070 Millionen. Für das Jahr 2003 hat sich der Bundesrat sogar um 3 Milliarden Franken „verschätzt“.4

Geld ist genug da

Seit ihrer Entstehung im Jahre 1948 schrieb die AHV beinahe immer schwarze Zahlen. Die wenigen Defizitjahre beschränken sich auf die Zeit der Ölkrise in den siebziger Jahren und auf drei Jahre am Ende des 20. Jahrhunderts. Defizite über 500 Millionen gab es nur 1978, 1997 und 1998. Dagegen hat die AHV in 20 Jahren Überschüsse von über 500 Millionen ausgewiesen, in einzelnen Jahren sogar von über 2 Milliarden.
Hinzu kommt, dass die Menge des produzierten Reichtums, also das, was für Renten und Gewinne zur Verfügung steht, durch die massive Steigerung der Produktivität der Arbeit sehr stark gewachsen ist und weiterhin wächst. Ein bestimmtes Mass an Reichtum wird von immer weniger und immer weniger lang arbeitenden Menschen erbracht - unter anderem auch als Folge der steigenden Arbeitslosigkeit. Jede und jeder Erwerbstätige produziert heute doppelt so viel wie vor 30 Jahren. Dadurch liessen sich nicht nur die steigende Lebenshaltung der Erwerbstätigen, sondern auch die Einkommen der "Nichterwerbstätigen", das heisst der Rentner und der Bezüger Kapitaleinkommen, finanzieren. Die Gewinnsteigerungen der letzten Jahre haben gezeigt, wohin das Geld "verschwunden" ist. Jede Lohnerhöhung unterhalb des Anstiegs der Produktivität bedeutet eine Senkung der Lohnquote, das heisst des für Löhne und Renten zur Verfügung stehenden Anteils am Gesamteinkommen. Die Unternehmen wollen nicht, dass die Renten zu Lasten der Gewinne finanziert werden: Dieses Interesse steht im Zentrum der bürgerlichen Propaganda zur Zukunft der Altersvorsorge.

In der Bundesverfassung (Artikel 112) steht unmissverständlich geschrieben: Die Renten müssen den Existenzbedarf angemessen decken. Doch über die Hälfte aller Personen, die in einem Rentnerhaushalt leben, verfügen über ein Gesamteinkommen von unter 3'470 Franken monatlich. Dies zeigt die Bedeutung der AHV-Rente, die heute zwischen 1’055 und 2’110 Franken für Alleinstehende und 2’110 bis 3’165 Franken für Ehepaare beträgt und damit deutlich unter dem Existenzminimum liegt.

Die 11. AHV-Revision geht erneut zu Lasten der Frauen

Wie schon bei der 10. sind auch bei der 11. AHV-Revision die Frauen besonders betroffen. Im Jahr 2000 betrug die durchschnittliche AHV-Rente für Frauen 1'663 Franken pro Monat. Die durchschnittliche Rente aus der 2. Säule (Pensionskasse) lag für Frauen bei 1'337 Franken. Jede zweite Frau mit einer Rente aus der 2. Säule erhielt weniger als 833 Franken. 500'000 erwerbstätige Frauen (28%) sind bei der 2. Säule gar nicht versichert, weil sie „zuwenig verdienen“ (Koordinationsabzug). Nun sollen die Frauen nochmals ein Jahr länger arbeiten müssen, es sollen ihnen die Witwenrenten massiv zusammengekürzt werden, und sie werden die Änderungen beim Mischindex besonders stark zu spüren bekommen. Diese Massnahmen gehen von denselben Kreisen aus, die auch die Mutterschaftsversicherung, die Finanzierung der Kinderkrippen und die Löhne der Frauen angreifen.

1 Nach dem sog. Mischindex werden heute die Renten der AHV/IV alle zwei Jahre an die Lohn- und die Preisentwicklung angepasst. Gemäss der 11. AHV-Revision soll diese Anpassung nur noch alle drei Jahre erfolgen.

2 10 Schritte zum Aufschwung, Pressekonferenz des Schweizerischen Gewerbeverbandes am 12. Februar 2004.

3 Interdepartementale Arbeitsgruppe: "Finanzierungsperspektiven der Sozialversicherungen“

4 Die AHV-Rechnung hat auch 2003 positiv abgeschlossen. Der Überschuss betrug fast 2 Mia Franken: Das ist rund 3 Mia Franken besser als der Bundesrat anfangs 2000 in seiner Botschaft zur 11. AHV-Revision für das Jahr 2003 prognostiziert hatte.



Nein zum Steuerpaket !

Die Krise, die leeren Kassen und das Steuerpaket

Spätestens seit Anfang der 70er Jahre befindet sich die kapitalistische Wirtschaft in einer langen Phase verlangsamten Wachstums. Dadurch hat sich die Konkurrenz im Industrie- und Bankensektor der Industrieländer und zwischen den einzelnen Volkswirtschaften verschärft. Im Gefolge dieser Krise der kapitalistischen Wirtschaft hat sich eine „neoliberale“ Politik des Abbaus durchsetzen können, welche sich den Angriff auf die seit Ende des 19. Jahrhunderts von den Lohnabhängigen und der ArbeiterInnenbewegung errungenen sozialen Fortschritte auf die Fahne geschrieben hat. In der Finanzpolitik verfolgen das Bürgertum beharrlich und zielbewusst die so genannte Politik der leeren Kassen mit dem Ziel, den Staat in eine dauerhafte Finanzkrise zu manövrieren. Im Strudel der wirtschaftlichen Rezession wälzen die Herrschenden die Kosten für Steuergeschenke an die Reichen und die stiegende Profite der Bosse auf die lohnabhängige Bevölkerung ab. Die Rezepte lauten in allen Ländern gleich: Erhöhung des Rentenalters (trotz steigender Arbeitslosigkeit, Senkung der Rentenbezüge, massivem Abbau bei den Leistungen der öffentlichen Hand, Privatisierungen, brutalem Abbau des Schutzes bei Erwerbslosigkeit) und Umbau des Steuersystems: weg von den progressiven Einkommenssteuern, hin zu mehr indirekten Steuern. Dies alles zulasten der Lohnabhängigen. Alle drei Abstimmungsvorlagen vom 16. Mai stehen unter diesen Vorzeichen.

Für die herrschende Klasse hat diese Politik viele Vorteile. Sie schafft durch die Behauptung der Finanzkrise ein günstiges ideologisches Klima für den Abbau von „Sozialstaat“ und Service Public. Das durch Steuergeschenke an die Reichen geschaffene Defizit erweist sich als geeignetes Druckmittel, um den Staat schrumpfen zu lassen. Darunter verstehen die Kapitaleigner einerseits die Reduzierung von Ausgaben, die ihnen keinen direkten Nutzen bringen, wie Ausgaben für Soziales, Bildung, Kultur etc. Anderseits wollen sie die Privatisierung einträglicher Staatsgeschäfte durchsetzen und so die Investitionsmöglichkeiten für ihr Kapital erweitern. Darüber hinaus erlaubt es diese Defizitpolitik, das Steuersystem fortlaufend umzuändern, wobei ein enormer Transfer der Steuerbelastung von den Kapitalbesitzern auf die Lohnabhängigen stattfindet.

Nur die Reichen profitieren

Die Haushalte mit mittleren und tiefen Einkommen mussten in den letzten 10 Jahren empfindliche Einkommenseinbussen einstecken. Laut Strukturbericht Nr. 12/2002 des Seco1 ist das verfügbare Einkommen (Einkommen abzüglich Sozialversicherungsbeiträge, direkte und indirekte Steuern, Miete und Krankenkassenprämien) der Haushalte mit tiefen und mittleren Einkommen um über 12% gesunken, während die reichen Haushalte (die reichsten 10%) ihr Einkommen um 12% steigern konnten. Das Schema der Umverteilung von unten nach oben wird mit diesem Steuerpaket weitergeführt. Durch die Steuergeschenke werden die Reichen noch reicher.
Der Einnahmenausfall von über 5 Milliarden Franken führt unweigerlich zu einer Weiterführung der rigorosen Sparpakete und des Leistungsabbaus auf Bundes- und Kantonsebene. Die Zeche werden die Lohnabhängigen und BenutzerInnen der öffentlichen Dienste bezahlen.

Mehr oder weniger schlecht als „Steuerentlastungsprogramm für Familien“ getarnt, entpuppt sich die Vorlage zur Ehe- und Familienbesteuerung einmal mehr als Geschenk an die Reichen und Besitzenden und wird die Lohnabhängigen und ihre Familien teuer zu stehen kommen. Um etwa 2.2 Milliarden Franken sollen vor allem die Reichen steuerlich entlastet werden. Auf eine Oberschicht von 5.4% (228'000) der Steuerpflichtigen werden 62.4% der Steuerentlastungen verteilt (durchschnittlich 3'947 Fr). Alleine die 1.4% Steuerpflichtigen mit einem Bruttoeinkommen von über 230'000 Franken werden durchschnittlich 7'500 Franken weniger an Bundessteuern bezahlen und nehmen damit einen Drittel des gesamten Steuergeschenks für sich in Anspruch. Die überwiegende Mehrheit von rund vier Millionen Steuerpflichtigen (94.6%) müssen die verbleibenden 37.6% unter sich aufteilen (durchschnittlich 135 Fr.).

Von wegen Steuererleichterungen für Familien: Die Einkommensklassen, in welchen die meisten Kinder leben, kommen überhaupt nicht in den Genuss von Steuererleichterungen, weil sie heute schon keine direkte Bundessteuer bezahlen. Eine Untersuchung des BASS2 zeigt, dass über die Hälfte aller Kinder in Familien mit einem Bruttoein- kommen von unter 90'000 Franken leben. Die Steuerentlastung, die das Steuerpaket für diese Familien vorgesehen hat, beträgt höchstens 350 Franken. Die Studie zeigt weiter, dass drei Viertel aller Kinder in Haushalten mit einem Bruttoeinkommen von unter 120'000 Franken jährlich aufwachsen. Auch hier bedeutet die Steuerentlastung von ein paar hundert Franken pro Jahr keine entscheidende Entlastung. Ab einem Haushaltseinkommen von 200'000 Franken hingegen beginnen die Steuererleichterungen in Höhe von rund 4'000 Franken einzuschenken – sie kommen allerdings nicht vielen Familien zu gute, leben doch in diesen Haushaltskategorien nur gerade 6% aller Kinder. Nicht genug, das Steuerpaket begünstigt vor allem wohlhabende Ehepaare ohne Kinder, und dies in einem weit grösseren Ausmass als die reichen Familien mit Kindern. Damit greift auch das Argument der Familienförderung ins Leere.

Steuergeschenke an Villenbesitzer und weitere Abbauprogramme

Mit den Steuerausfällen von gegen 1.8 Milliarden Franken, welche die Änderung der Wohneigentumsbesteuerung zur Folge hat, werden vor allem reiche Villenbesitzer beschenkt. Die Ungleichheit zwischen MieterInnen und WohneigentümerInnen wird weiter vergrössert. Neben den weiterhin geltenden, ungerechten Abzugsmöglichkeiten für Schuldzinsen und Unterhaltskosten inunbeschränkter Höhe (!) wird ein Bausparabzug (bis 24'000 Franken jährlich für Paare) eingeführt. Die Ausgaben des Bundes für den sozialen Wohnungsbau wurden hingegen erst gerade wieder gekürzt.
Einen Abbau von 9 Milliarden Franken am Service Public sehen die aktuellen Pläne des Bundes sowie von 14 Kantonen und 3 Halbkantonen vor. 8'200 Vollzeitstellen beträgt der damit verbundene Personalabbau beim Bund und den Kantonen. Die Auswirkungen dieses Kahlschlags kennen wir alle: Abbau bei den sozialen Leistungen, Kürzungen im Bildungsbereich und Leistungsabbau im Gesundheitswesen. Dabei sind die Auswirkungen des Steuerpakets bei diesen Abbauplänen noch gar nicht einberechnet. Sie werden Anlass für weitere Abbaumassnahmen sein und dann einen bereits ausgebluteten Service Public treffen.

1 Strukturberichterstattung Nr. 12: Globalisierung und die Ursachen der Umverteilung in der Schweiz
Analyse der strukturellen und sozialen Umverteilungen in den 90er Jahren in einem Mehrländergleichgewichtsmodell
März 2002

2 BASS, Büro für Arbeits- und sozialpolitische Studien, Bern

Demo gegen den Kahlschlag vom 02.Juli 03 in Zürich


Nein zur Erhöhung der Mehrwertsteuer !

Indirekte Steuern, gestern und heute

Seit einer Rede von Ferdinand Lassalle (1825-1864) vor dem Berliner Kammergericht steht die Aussage im Raum: Indirekte Steuern haben eine Regressionswirkung zur Folge. Anders gesagt werden untere Einkommensschichten (zugunsten der oberen Einkommensschichten) durch indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer besonders stark belastet.
Eine Mehrwertsteuererhöhung bedeutet eine Umverteilung von unten nach oben, von arm zu reich. Ursache hierfür ist die unbestrittene Tatsache, dass Einkommensschwache einen grösseren Anteil ihres Einkommens für den Konsum verwenden müssen als Bezieher hoher Einkommen.1 Wohl deshalb meint Thomas von Ungern, Professor an der Universität Lausanne: „Der Charme der Mehrwertsteuer liegt für einen Freisinnigen darin, dass sie die Armen besonders trifft“2. Es handelt sich um eine eigentliche Armensteuer.
Die sozialen Defizite der Umsatzsteuer waren in Deutschland bereits 1919 bekannt, deshalb sah der Paragraph 14 des Gesetzes über die Umsatzsteuer vor, „dass aus dem Aufkommen der Umsatzsteuer eine Vergütung an die Bezieher geringer Einkommen zu zahlen sei“. Damit sollte die antisoziale Wirkung der Umsatzsteuer ausgeglichen werden. Diese Bestimmung wurde bereits im März 1920 wieder gestrichen. Nicht weil sie unnötig geworden wäre, sondern weil sich im Parlament die Vertreter des Kapitals durchgesetzt hatten.

Die Mehrwertsteuer als Basis für Steuergeschenke an die Reichen

Am antisozialen Charakter der Mehrwertsteuer hat sich bis heute nichts verändert, im Gegenteil: Jede Erhöhung des Steuersatzes verstärkt die Umverteilungswirkung. Studien aus Frankreich und Deutschland über die Belastung der verschiedenen Einkommensschichten durch die Mehrwertsteuer3 zeigen, dass die relative Belastung der niedrigsten Einkommen rund doppelt so hoch ist wie die Belastung der hohen Einkommen. Während die Einkommenssteuer sich explizit am Leistungsfähigkeitsprinzip orientiert und durch den progressiven Tarif und gezielte Freibeträge (z.B. für kinderreiche Familien) ansatzweise Umverteilungselemente zugunsten der niedrigen Einkommen enthält, ist die Mehrwertsteuer als reine Konsumsteuer nur mittelbar von Einkünften und Familienkontext abhängig. In einem Kilo Brot oder einem Pfund Butter steckt für einen Sozialhilfeempfänger wie für einen Millionär derselbe Frankenbetrag an Mehrwertsteuer. Das ist es, was für die Reichen und Herrschenden den Reiz der Mehrwertsteuer ausmacht. Für sie ist es das erklärte Ziel, die direkte Bundessteuer mit ihrer progressiven Wirkung zugunsten einer weiteren Erhöhung der Mehrwertsteuer und anderer indirekter Steuern abzuschaffen. Eine weitere Etappe dieses Umbaus des Steuersystems steht mit der Mehrwertsteuervorlage vom 16. Mai an. Die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes von 7.6% auf 9.4% würde die prekäre Lage der Lohnabhängigen noch zusätzlich verschlechtern. Sie trifft diejenigen am härtesten, die für ihr Geld nicht Aktien (der Kapitalmarkt, das heisst die Welt der Banken und Versicherungen ist von der Mehrwertsteuer befreit), sondern lebensnotwendige Dinge wie Nahrung und Kleider kaufen. Statt der Bosse werden die SozialhilfeempfängerInnen, Arbeitslosen und ArbeiterInnen zur Kasse gebeten. Ein Haushalt mit einem Bruttoeinkommen von 80'000 Franken pro Jahr würde bei Annahme der Vorlage 768 Franken pro Jahr an Kaufkraft verlieren4. Dies zusätzlich zu den bereits in Schwindel erregende Höhe gestiegenen Krankenkassenprämien, zu den unzähligen Abgaben und Gebühren, welche in den letzten Jahren unter dem Motto des „Verursacherprinzips“ auf die Lohnabhängigen abgewälzt wurden (Kehrichtmarken, usw.) und immer denselben Charakter haben: sie kosten die Menschen mit den niedrigsten Einkommen gleich viel wie Millionäre und Milliardäre. Zudem bildet die Erhöhung der indirekten Steuern die Basis für die gigantischen Steuergeschenke an die Reichsten bei den direkten Steuern.

Wider besseres Wissen

Den antisozialen Charakter der Mehrwertsteuer scheinen auch die „offiziellen“ Vertreter der ArbeiterInnenbewegung erkannt zu haben. Zu Beginn dieses Jahres äusserte sich Serge Gaillard, der Generalsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB), dazu wie folgt: "Alle sozialen Kosten der Krise wurden auf die Lohnabhängigen abgewälzt. Man hat die Mehrwertsteuer eingeführt, zwei Mal die Benzinsteuer erhöht und ohne Unterbruch die Krankenkassenprämien angehoben. Viele Haushalte haben als Folge davon einen Rückgang ihrer Kaufkraft erfahren. Deshalb scheint es uns vollständig falsch zu sein, einerseits den Paaren mit hohen Einkommen und den Immobilienbesitzern Steuergeschenke zu machen und anderseits die Mehrwertsteuer immer noch mehr zu erhöhen, was zu Lasten der Familien und der tiefen Einkommen geht."5 Noch deutlicher: „Erstens ist es sozial inakzeptabel, andauernd die Mehrwertsteuer zu erhöhen und gleichzeitig die direkten Steuern zu senken. Die Mehrwertsteuer belastet in erster Linie Familien und Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommen. Die Senkung der direkten Steuern entlastet die Haushalte mit hohen Einkommen“.6
Uns brennt deshalb die Frage unter den Fingernägeln: Wie ist es möglich, dass der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) trotz der korrekten Analyse ihres Generalsekretärs die Vorlage von Pascal Couchepin zur Erhöhung der Mehrwertsteuer unterstützt? Der SGB befindet sich mit seiner Position allerdings in der guten Gesellschaft von Michael Sommer, dem Bundesvorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Dieser hatte sich an einer Veranstaltung des hessischen Gewerkschaftsbundes zum Sprecher der deutschen Unternehmer gemacht und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer in Deutschland von 16% auf 18% zum Zweck der Senkung der Lohnnebenkosten gefordert.
Auch die Sozialdemokraten stellen sich in ihrer Dokumentation zu den Abstimmungen vom 16. Mai noch die Frage, ob denn die Mehrwertsteuer nicht eine antisoziale Steuer sei. Sie bemängeln, dass die Mehrwertsteuer weniger progressiv als direkte Steuern sei und ganz tiefe Einkommen etwas mehr belaste als Lohnprozente, kommen aber zum Schluss, dass die Verwendung der Mehrwertsteuer zur Finanzierung der Sozialversicherungen die bei weitem sozialste Verwendung dieser Steuer sei7. Die Grünen Schweiz stimmen der Erhöhung der Mehrwertsteuer nur zähneknirschend zu.
Bisher hatten die „offiziellen Vertreter“ der ArbeiterInnenbewegung unter einer gerechten Steuer immer eine Steuer verstanden, die hohe Einkommen stärker belastet als niedrige – und gerade deshalb die Erhöhung von Massensteuern wie der Mehrwertsteuer abgelehnt. Mit ihrem Ja zur Erhöhung der Mehrwertsteuer lassen SGB und SP bei dieser Gelegenheit auch die bürgerlich-keynesianische These fallen, eine Belebung der Wirtschaft erfordere vor allem eine Erhöhung der Massenkaufkraft.

1 Familien in Baden-Württemberg – Familienbericht 1998. Nach diesem Bericht liegt die Konsumquote (als Anteil des privaten Verbrauchs an den ausgabefähigen Einkommen für 1993) z.B. bei Einkommen von 2'000 – 2'500 DM für Ehepaare bei 97%, bei Einkommen zwischen 10'000 – 25'000 DM nur noch bei 54%.

2 Le Matin, 25. Mai 2003

3 Eine Studie des französischen nationalen Amtes für Wirtschaftsstatistiken (INSEE) aus dem Jahre 1997 zeigt auf, dass die Mehrwertsteuer 13% der Einkommen einfacher Haushalte verschlingt gegenüber 7% der reichsten Haushalte.
Zu ähnlichen Resultaten gelangt auch die Studie „Welche Haushalte zahlen wie viel Mehrwertsteuer“ von Peter Jacobebbinghaus aus dem Jahre 2003 zur Situation in Deutschland. Auch da ist die Belastung der niedrigsten Einkommen durch die Mehrwertsteuer mit 9% beinahe doppelt so hoch wie jene der hohen Einkommen mit 5%.

4 Blick vom 2. März 2004

5 Le Temps vom 3. Januar 2004

6 Alte Fehler vermeiden – Investieren und sanieren statt Steuern senken. Serge Gaillard in WOZ économique Nr. 4 vom 26. März 2004

7 Medienkonferenz vom 22. März 2004 – Dokumentation – Eidgenössische Volkksabstimmungen vom 16. Mai 2004 – Die SP eröffnet ihren Abstimmungskampf.