AN
DIE DELEGIERTEN DER
SGB-VERSAMMLUNG
VOM 9. MAI
Liebe
Kolleginnen und Kollegen,
Ich
erlaube mir, an Euch zu gelangen, damit Ihr
meiner Kündigung durch den Schweizerischen
Gewerkschaftsbund, bei welchem ich als Jurist
tätig war, die Genehmigung verweigert.
Diese Kündigung ist von gewissen Kollegen
in den Gewerkschaftsführungen folgendermassen
begründet worden: R. Molo ist öffentlich
aufgetreten, entgegen der Stellungnahme des
SGB, für das linke Referendum gegen das
vom Parlament geschnürte Paket, welches
die sogenannte Personenfreizügigkeit
mit den sogenannten flankierenden Massnahmen
verbindet.
Für mich gehört es zu den demokratischen
Rechten in einer Gewerkschaft, Euch direkt
ansprechen zu dürfen. Dies wurde mir
aber verweigert. So tue ich es schriftlich.
1.
Wer unter uns würde es wagen –
besonders unter unseren Spitzenfunktionären
– die Hand dafür ins Feuer zu legen,
dass die flankierenden Massnahmen, welche
am 25. September zur Abstimmung gelangen,
auch tatsächlich ausreichen werden, um
dem täglich zu beobachtendenden Lohndumping
und der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen
Einhalt zu gebieten? Wer unter unseren Spitzenfunktionären
würde vor Arbeitnehmern die Behauptung
wagen: „Diese flankierenden Massnahmen
ermöglichen eine wirksame Abwehr des
Angriffs der Arbeitgeber.“? Diese Zweifel
haben zweierlei Gründe: a) Die täglich
bekannt werdenden Fälle von Lohnunterbietung,
die sich nach dem 25. September noch vermehren
werden; b) Die jetzige Ausrichtung der Arbeitgeberpolitik.
Unser Kollege Hans Baumann, UNIA-Zentralsekretär,
hat uns gewarnt. Eine Prüfung der Vorschläge
der Baumeister (Schweizerischer Baumeisterverband
– SBV) veranlasst ihn zu folgender Schlussfolgerung:
„Die Flankierenden Massnahmen zum Freien
Personenverkehr, für die wir uns zuletzt
gemeinsam mit den Arbeitgebern eingesetzt
haben, würden zu einem grossen Teil wertlos:
Die Kernbestimmungen des LMV (Arbeitszeit
und Lohn) wären bei entsandten Arbeitnehmern
kaum mehr durchsetzbar. Noch mehr Bauarbeiten
als heute würden durch ausländische
Firmen erledigt, welche die Lücken des
LMV besser nutzen können.“ (Unia-Medienkonferenz,
14. April 2005).
2.
Die UNIA-Führung hat in einer Pressemitteilung
am selben Tag erklärt: „Für
die Bauarbeiter ist klar: Ohne starken LMV
als Schutz vor Lohn- und Sozialdumping werden
sie der Ausweitung der Personenfreizügigkeit
im September nicht zustimmen können.“
100-prozentig einverstanden.
Was für ein Schicksal erwartet aber die
Arbeiterinnen und Arbeiter, welche über
keinen „starken GAV“ oder schlicht
über keinen GAV verfügen? Die Anzahl
derer, die über einen GAV verfügen
– ob stark oder nicht - beläuft
sich auf 1,4 Millionen. Aber 2,2 Millionen
ArbeiterInnen verfügen über keinen
- wie auch immer gearteten - GAV.
Was ist die Schlussfolgerung? Wenn man, ohne
starken GAV, am 25. September NEIN stimmen
soll, was soll man denn tun, wenn man über
keinerlei GAV verfügt? Die Antwort wird
uns stillschweigend durch die UNIA-Führung
gegeben: wir müssen NEIN stimmen.
Ernst Leuenberger, SEV-Präsident, hat
das Lohndumping angeprangert, welches die
Lokführer bedroht (Arbeit u. Verkehr-SEV,
19.4.05). Der deutsche Betrieb Railion heuert
nämlich Arbeiter zu um 38% tieferen Löhnen
an und „benützt“ sie in der
Schweiz. Ernst Leuenberger, der diesem offensichtlichen
Lohndumping Einhalt zu gebieten hofft, stellt
die Gretchenfrage: „Die Leute werden
sagen, wenn nicht einmal die hoch organisierten
Eisenbahner sich gegen die Dumping-Konkurrenz
aus dem Ausland erfolgreich wehren können,
wie sollte das dann einer Verkäuferin
in einem schlecht organisierten Bereich gelingen?“
Die Antwort ist einfach: Zehntausende von
Verkäuferinnen werden sich nicht wehren
können. Ein Grund mehr, am 25. September
NEIN zu stimmen.
3.
Wie kann man sich erklären, dass die
SGB-Spitze mit den Arbeitgebern gemeinsam
Kampagne führt, was sogar zu Folge hat,
dass die Presse von einer „heiligen
Allianz zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaft“
spricht – und dies gerade zu einem Zeitpunkt,
wo die Lohnunterschiede zwischen Spitzenmanagern
und normalen Arbeitnehmenden so gross sind
wie noch nie zuvor? Der SonntagsBlick vom
24. April 2005 zeigt einige Beispiele auf:
der Monatslohn von Oswald Grübel, Topmanager
beim Crédit Suisse, beläuft sich
auf 1'769'231 Franken; derjenige von Marcel
Ospel (UBS) auf 1'638'462 Fr., derjenige von
Ernst Tanner (Lindt & Sprüngli) auf
553'846 Fr. Eine wahre Lohnexplosion für
Spitzenmanager und Aktionärsdividenden,
eine wahre Lohnflaute für die Mehrheit
der Lohnabhängigen.
Ein Bäckermeister, der 5'306.- Franken
brutto im Monat verdient (und nachts arbeitet)
müsste 238 Jahre lang Brot backen, um
das Jahresgehalt vom Boss der grossen Lebensmittelfirma
Nestlé zu verdienen: Peter Brabeck
(16,4 Millionen)!
Wie kann man, angesichts dieser klaffenden
Ungleichheiten, auch nur einen Augenblick
lang ernsthaft meinen, dass Wirtschafts- und
Gewerkschaftsführer dazu imstande sind,
flankierende Massnahmen zu verteidigen, welche
die Lohnabhängigen tatsächlich zu
schützen vermögen? Dr. Peter Hasler,
Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes,
liefert uns die richtige Antwort: „Die
Schweizer Firmen müssen aber nicht mit
finanziellem Mehraufwand und zusätzlicher
Administration rechnen. Die künstliche
Aufregung über diese Neuerungen sollte
sich baldmöglichst legen, damit die Kräfte
für einen überzeugenden Abstimmungskampf
frei werden. Diesen können die Sozialpartner
nur gemeinsam gewinnen.“ (Schweizer
Arbeitgeber, Nr. 24-26, 23. Dezember 2004,
S. 1267).
Die „heilige Allianz“, zu welcher
Politik und Massenmedien beitragen, ist ein
reines Täuschungsmanöver. Wirklichkeit
aber ist die von den Arbeitgebern anlässlich
der Erneuerungen der GAV eröffnete Schlacht.
4.
Um die Angriffe der Arbeitgeber aufhalten
zu können, müssen sich die Lohnabhängigen
und die gewerkschaftlichen Vertrauensleute
durch Gesetzeskraft gegen das gottgegebene
Kündigungsrecht der Arbeitgeber geschützt
wissen. Der SGB-Kongress vom Oktober 2002
erkannte es: "Eine Ausweitung des Kündigungsschutzes
ist der Grundpfeiler eines verbesserten Arbeitnehmerschutzes
in diesem Land." Im November 2003 wiederholte
der SGB:" ...Zweitens muss der Kündigungsschutz
für gewählte ArbeitnehmervertreterInnen
verbessert werden. Denn die tripartiten Kommissionen
werden auf Auskünfte der PersonalvertreterInnen
angewiesen sein. Solange diese aber nur über
einen sehr schwachen Kündigungsschutz
verfügen, ist es unrealistisch, auf solche
Auskünfte zu hoffen."
Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit
der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO)
stellte im November 2004 fest – auf
Grund einer von mir verfassten Klage –
dass die Schweiz die Vereinigungsfreiheit
nicht genügend schützt und damit
internationales Recht verletzt.
Dieser Befund hätte es ermöglicht,
den Kampf um die Verbesserung der flankierenden
Massnahmen fortzusetzen. In der Tat wurden
nach dem offiziellen Abschluss der Gespräche
noch einige kleinere Zugeständnisse erzielt,
was Beweis dafür ist, dass das Verhandlungsergebnis
zu diesem Zeitpunkt noch nicht gänzlich
abgeriegelt war.
Die Verurteilung durch die IAO kann unsere
Zweifel an der Wirksamkeit der flankierenden
Massnahmen, so wie sie zur Abstimmung vorliegen,
nur verstärken. Welche(r) Lohnabhängige,
ob MigrantIn oder SchweizerIn, ob entsendet
oder temporär, wird es je wagen, die
tripartiten Kommissionen – sofern sie
überhaupt existieren und etwas unternehmen
wollen – über die sich häufenden
Missbräuche zu informieren? Die Antwort
ergibt sich leider von selbst.
Die Personenfreizügigkeit muss mit dem
Schutz der Gewerkschaftsrechte am Arbeitsplatz
einhergehen. Andernfalls wandern keine freien,
mit Sozialrechten ausgestatteten Arbeiter
von einem Land zum anderen, sondern bloss
Arbeitskräfte, welche von den Arbeitgebern
beliebig ausgebeutet werden können. Dies
läuft den Menschenrechten zuwider, welche
ein Ganzes bilden, wie es die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte von 1948 bestätigt.
Im Namen der Grundwerte dieser Erklärung
habe ich schliesslich meine Zweifel durch
ein NEIN zu diesem Paket ausgedrückt
und habe das linke Referendum „Für
einen freien Personenverkehr mit echten sozialen
und gewerkschaftlichen Rechten! Nein zu Lohn-
und Sozialdumping!“ unterstützt.
5.
Dieses NEIN steht für ein Programm. Es
ist kein übliches NEIN. Dieses NEIN soll
es
ermöglichen – weil die schweizerischen
Grossunternehmer die bilateralen Verträge
mit der EU unbedingt wollen – solch
elementare Rechte zu erhalten wie:
|
1. |
Eine
angemessene Anzahl Arbeitsinspektoren,
welche frei und ungehindert ihr Amt erfüllen
können |
|
2. |
Die
Unternehmer sollen dazu verpflichtet werden,
die Gesamtheit der Löhne und der
anderen Anstellungsbedingungen der neu
Angestellten unaufgefordert im elektronischen
Amtsblatt zu veröffentlichen und
deren Namen den tripartiten Kommissionen
zur Verfügung zu stellen. |
|
3. |
Die
Allgemeinverbindlichkeit der Gesamtarbeitsverträge
soll auf Antrag der gewerkschaftlich organisierten
ArbeitnehmerInnen allein angeordnet werden
können. |
|
4. |
Überall
dort, wo kein Gesamtarbeitsvertrag besteht,
soll ein zwingender Normalarbeitsvertrag
mit Mindestlöhnen und Höchstarbeitszeiten
eingeführt werden. |
|
5. |
Ein
wirksamer Kündigungsschutz, wie es
die IAO-Bestimmungen verlangen. und Sozialdumping |
6. Unter unseren Kollegen
besitzen einige das Stimmrecht, andere nicht.
Dies ist ungerecht, denn es gibt keinen Grund
dafür, nicht Allen, welche in der Schweiz
arbeiten und sich hier aufhalten das Recht
zuzugestehen, an Abstimmungen teilzunehmen
und gewählt zu werden.
Was wird morgen jener Kollege, der JA gestimmt
hat, seinem Kollegen sagen, der, weil Migrant,
nicht stimmen durfte, wenn das Lohndumping
um sich greifen wird? Was wird der Gewerkschaftsspitzenfunktionär
sagen, der Zweifel hegte, aber an der Seite
der Unternehmer für das JA Kampagne machte,
wenn die Bosse ihren Angriff verschärfen
und die Lohnabhängigen die Zeche bezahlen
werden?
Er wird antworten: „Die Bosse haben
ihr Wort nicht gehalten“. Diese Antwort
wird wenige überzeugen. Denn jeder und
jede stellt seit Jahren fest, dass die gut
gemeinten Absichtserklärungen mit der
Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Daraus
wächst im Land eine Unzufriedenheit,
welche die Gewerkschaft als Hebel dazu benützen
könnte, weitere flankierende Massnahmen
durchzusetzen.
7.
In der heutigen Lage ist der Schutz der Meinungsverschiedenheit
in unseren gewerkschaftlichen Reihen mehr
denn je notwendig, um daraus lebendige, kollektive
Werkzeuge zur Verteidigung der Lohnabhängigen
zu machen. Meine Stellungnahme für ein
Referendum, für ein NEIN am 25. September,
entspricht der Linie der Kongressbeschlüsse
des SGB.
Welcher SGB-Kongress hat denn je eine „heilige
Allianz“ zwischen den Vertretern des
Unternehmertums, des Bundesrates und des SGB
beschlossen? Keiner. Doch wird keinerlei Massnahme
gegen SGB-Sekretäre ergriffen, die wie
Serge Gaillard bei Pressekonferenzen an der
Seite von Hasler, von Nordmann (stv. Direktor
vom seco) und von Bundesrat Deiss schwadronieren.
Weshalb musste also eine Sanktion gerade gegen
jemanden – mich, in diesem Fall –
ergriffen werden, der bloss eine von SGB-Kongressen
beschlossene Stellungnahme verficht?
Jede und jeder Delegierte sollte versuchen,
für sich persönlich eine Antwort
auf diese Frage zu finden. Er/sie sollte sich
Zeit nehmen, um zu prüfen, ob der Zweifel
an den flankierenden Massnahmen begründet
ist oder nicht.
So erlauben die schlichteste Weisheit sowie
der Schutz von gewerkschaftlicher Demokratie
und Ausdrucksfreiheit nur eine Schlussfolgerung:
meiner Kündigung soll die SGB-Delegiertenversammlung
nicht zustimmen.
Mit
freundlichem Gruss,
Romolo MOLO,
UNIA-Mitglied (vorh. SMUV)