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Offener Brief von Romolo Molo an die Delegiertenversammlung
des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB)
Wir veröffentlichen an dieser Stelle, einen Brief von Romolo Molo* an die Mitglieder der SGB-Delegiertenversammlung, welche am 9. Mai 2005 stattgefunden hat. Dieser Brief wirft zentrale Fragen auf, die sich den Gewerkschaften im Zusammenhang mit der „kollegialen“ Unterstützung des „Bilateralen-Pakets“ (sogenannte Personenfreizügigkeit mit sogenannten Begleitmassnahmen) durch den SGB stellen. Dieser „Paket“ wird von einem Bündnis getragen, der von der economiesuisse bis zum Bundesrat reicht. Der Brief erinnert zudem an Prinzipien der Gewerkschaftsdemokratie. Er wird hoffentlich Denkanstösse für GewerkschafterInnen und für alle AktivistInnen, die sich für die Stärkung von Gewerkschaftsrechten am Arbeitsplatz und gegen Lohndumping in seinen multiplen Formen einsetzen, liefern. bfs

* Romolo Molo war bis vor kurzem Jurist beim SGB.
Die SBG-Führung hatte sein Engagement gegen Lohn- und Sozialdumping mit der sofortigen Rausschmiss beantwortet.
(siehe auch Artikel im Sonntags-Blick vom 27. Februar 2005)

 

AN DIE DELEGIERTEN DER
SGB-VERSAMMLUNG VOM 9. MAI

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Ich erlaube mir, an Euch zu gelangen, damit Ihr meiner Kündigung durch den Schweizerischen Gewerkschaftsbund, bei welchem ich als Jurist tätig war, die Genehmigung verweigert. Diese Kündigung ist von gewissen Kollegen in den Gewerkschaftsführungen folgendermassen begründet worden: R. Molo ist öffentlich aufgetreten, entgegen der Stellungnahme des SGB, für das linke Referendum gegen das vom Parlament geschnürte Paket, welches die sogenannte Personenfreizügigkeit mit den sogenannten flankierenden Massnahmen verbindet.

Für mich gehört es zu den demokratischen Rechten in einer Gewerkschaft, Euch direkt ansprechen zu dürfen. Dies wurde mir aber verweigert. So tue ich es schriftlich.

1. Wer unter uns würde es wagen – besonders unter unseren Spitzenfunktionären – die Hand dafür ins Feuer zu legen, dass die flankierenden Massnahmen, welche am 25. September zur Abstimmung gelangen, auch tatsächlich ausreichen werden, um dem täglich zu beobachtendenden Lohndumping und der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen Einhalt zu gebieten? Wer unter unseren Spitzenfunktionären würde vor Arbeitnehmern die Behauptung wagen: „Diese flankierenden Massnahmen ermöglichen eine wirksame Abwehr des Angriffs der Arbeitgeber.“? Diese Zweifel haben zweierlei Gründe: a) Die täglich bekannt werdenden Fälle von Lohnunterbietung, die sich nach dem 25. September noch vermehren werden; b) Die jetzige Ausrichtung der Arbeitgeberpolitik.

Unser Kollege Hans Baumann, UNIA-Zentralsekretär, hat uns gewarnt. Eine Prüfung der Vorschläge der Baumeister (Schweizerischer Baumeisterverband – SBV) veranlasst ihn zu folgender Schlussfolgerung: „Die Flankierenden Massnahmen zum Freien Personenverkehr, für die wir uns zuletzt gemeinsam mit den Arbeitgebern eingesetzt haben, würden zu einem grossen Teil wertlos: Die Kernbestimmungen des LMV (Arbeitszeit und Lohn) wären bei entsandten Arbeitnehmern kaum mehr durchsetzbar. Noch mehr Bauarbeiten als heute würden durch ausländische Firmen erledigt, welche die Lücken des LMV besser nutzen können.“ (Unia-Medienkonferenz, 14. April 2005).

2. Die UNIA-Führung hat in einer Pressemitteilung am selben Tag erklärt: „Für die Bauarbeiter ist klar: Ohne starken LMV als Schutz vor Lohn- und Sozialdumping werden sie der Ausweitung der Personenfreizügigkeit im September nicht zustimmen können.“ 100-prozentig einverstanden.
Was für ein Schicksal erwartet aber die Arbeiterinnen und Arbeiter, welche über keinen „starken GAV“ oder schlicht über keinen GAV verfügen? Die Anzahl derer, die über einen GAV verfügen – ob stark oder nicht - beläuft sich auf 1,4 Millionen. Aber 2,2 Millionen ArbeiterInnen verfügen über keinen - wie auch immer gearteten - GAV.

Was ist die Schlussfolgerung? Wenn man, ohne starken GAV, am 25. September NEIN stimmen soll, was soll man denn tun, wenn man über keinerlei GAV verfügt? Die Antwort wird uns stillschweigend durch die UNIA-Führung gegeben: wir müssen NEIN stimmen.

Ernst Leuenberger, SEV-Präsident, hat das Lohndumping angeprangert, welches die Lokführer bedroht (Arbeit u. Verkehr-SEV, 19.4.05). Der deutsche Betrieb Railion heuert nämlich Arbeiter zu um 38% tieferen Löhnen an und „benützt“ sie in der Schweiz. Ernst Leuenberger, der diesem offensichtlichen Lohndumping Einhalt zu gebieten hofft, stellt die Gretchenfrage: „Die Leute werden sagen, wenn nicht einmal die hoch organisierten Eisenbahner sich gegen die Dumping-Konkurrenz aus dem Ausland erfolgreich wehren können, wie sollte das dann einer Verkäuferin in einem schlecht organisierten Bereich gelingen?“ Die Antwort ist einfach: Zehntausende von Verkäuferinnen werden sich nicht wehren können. Ein Grund mehr, am 25. September NEIN zu stimmen.

3. Wie kann man sich erklären, dass die SGB-Spitze mit den Arbeitgebern gemeinsam Kampagne führt, was sogar zu Folge hat, dass die Presse von einer „heiligen Allianz zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaft“ spricht – und dies gerade zu einem Zeitpunkt, wo die Lohnunterschiede zwischen Spitzenmanagern und normalen Arbeitnehmenden so gross sind wie noch nie zuvor? Der SonntagsBlick vom 24. April 2005 zeigt einige Beispiele auf: der Monatslohn von Oswald Grübel, Topmanager beim Crédit Suisse, beläuft sich auf 1'769'231 Franken; derjenige von Marcel Ospel (UBS) auf 1'638'462 Fr., derjenige von Ernst Tanner (Lindt & Sprüngli) auf 553'846 Fr. Eine wahre Lohnexplosion für Spitzenmanager und Aktionärsdividenden, eine wahre Lohnflaute für die Mehrheit der Lohnabhängigen.

Ein Bäckermeister, der 5'306.- Franken brutto im Monat verdient (und nachts arbeitet) müsste 238 Jahre lang Brot backen, um das Jahresgehalt vom Boss der grossen Lebensmittelfirma Nestlé zu verdienen: Peter Brabeck (16,4 Millionen)!

Wie kann man, angesichts dieser klaffenden Ungleichheiten, auch nur einen Augenblick lang ernsthaft meinen, dass Wirtschafts- und Gewerkschaftsführer dazu imstande sind, flankierende Massnahmen zu verteidigen, welche die Lohnabhängigen tatsächlich zu schützen vermögen? Dr. Peter Hasler, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, liefert uns die richtige Antwort: „Die Schweizer Firmen müssen aber nicht mit finanziellem Mehraufwand und zusätzlicher Administration rechnen. Die künstliche Aufregung über diese Neuerungen sollte sich baldmöglichst legen, damit die Kräfte für einen überzeugenden Abstimmungskampf frei werden. Diesen können die Sozialpartner nur gemeinsam gewinnen.“ (Schweizer Arbeitgeber, Nr. 24-26, 23. Dezember 2004, S. 1267).
Die „heilige Allianz“, zu welcher Politik und Massenmedien beitragen, ist ein reines Täuschungsmanöver. Wirklichkeit aber ist die von den Arbeitgebern anlässlich der Erneuerungen der GAV eröffnete Schlacht.

4. Um die Angriffe der Arbeitgeber aufhalten zu können, müssen sich die Lohnabhängigen und die gewerkschaftlichen Vertrauensleute durch Gesetzeskraft gegen das gottgegebene Kündigungsrecht der Arbeitgeber geschützt wissen. Der SGB-Kongress vom Oktober 2002 erkannte es: "Eine Ausweitung des Kündigungsschutzes ist der Grundpfeiler eines verbesserten Arbeitnehmerschutzes in diesem Land." Im November 2003 wiederholte der SGB:" ...Zweitens muss der Kündigungsschutz für gewählte ArbeitnehmervertreterInnen verbessert werden. Denn die tripartiten Kommissionen werden auf Auskünfte der PersonalvertreterInnen angewiesen sein. Solange diese aber nur über einen sehr schwachen Kündigungsschutz verfügen, ist es unrealistisch, auf solche Auskünfte zu hoffen."

Der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO/ILO) stellte im November 2004 fest – auf Grund einer von mir verfassten Klage – dass die Schweiz die Vereinigungsfreiheit nicht genügend schützt und damit internationales Recht verletzt.

Dieser Befund hätte es ermöglicht, den Kampf um die Verbesserung der flankierenden Massnahmen fortzusetzen. In der Tat wurden nach dem offiziellen Abschluss der Gespräche noch einige kleinere Zugeständnisse erzielt, was Beweis dafür ist, dass das Verhandlungsergebnis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gänzlich abgeriegelt war.

Die Verurteilung durch die IAO kann unsere Zweifel an der Wirksamkeit der flankierenden Massnahmen, so wie sie zur Abstimmung vorliegen, nur verstärken. Welche(r) Lohnabhängige, ob MigrantIn oder SchweizerIn, ob entsendet oder temporär, wird es je wagen, die tripartiten Kommissionen – sofern sie überhaupt existieren und etwas unternehmen wollen – über die sich häufenden Missbräuche zu informieren? Die Antwort ergibt sich leider von selbst.
Die Personenfreizügigkeit muss mit dem Schutz der Gewerkschaftsrechte am Arbeitsplatz einhergehen. Andernfalls wandern keine freien, mit Sozialrechten ausgestatteten Arbeiter von einem Land zum anderen, sondern bloss Arbeitskräfte, welche von den Arbeitgebern beliebig ausgebeutet werden können. Dies läuft den Menschenrechten zuwider, welche ein Ganzes bilden, wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 bestätigt.
Im Namen der Grundwerte dieser Erklärung habe ich schliesslich meine Zweifel durch ein NEIN zu diesem Paket ausgedrückt und habe das linke Referendum „Für einen freien Personenverkehr mit echten sozialen und gewerkschaftlichen Rechten! Nein zu Lohn- und Sozialdumping!“ unterstützt.

5. Dieses NEIN steht für ein Programm. Es ist kein übliches NEIN. Dieses NEIN soll es
ermöglichen – weil die schweizerischen Grossunternehmer die bilateralen Verträge mit der EU unbedingt wollen – solch elementare Rechte zu erhalten wie:

1. Eine angemessene Anzahl Arbeitsinspektoren, welche frei und ungehindert ihr Amt erfüllen können
2. Die Unternehmer sollen dazu verpflichtet werden, die Gesamtheit der Löhne und der anderen Anstellungsbedingungen der neu Angestellten unaufgefordert im elektronischen Amtsblatt zu veröffentlichen und deren Namen den tripartiten Kommissionen zur Verfügung zu stellen. 
3. Die Allgemeinverbindlichkeit der Gesamtarbeitsverträge soll auf Antrag der gewerkschaftlich organisierten ArbeitnehmerInnen allein angeordnet werden können. 
4. Überall dort, wo kein Gesamtarbeitsvertrag besteht, soll ein zwingender Normalarbeitsvertrag mit Mindestlöhnen und Höchstarbeitszeiten eingeführt werden. 
5. Ein wirksamer Kündigungsschutz, wie es die IAO-Bestimmungen verlangen. und Sozialdumping 


6. Unter unseren Kollegen besitzen einige das Stimmrecht, andere nicht. Dies ist ungerecht, denn es gibt keinen Grund dafür, nicht Allen, welche in der Schweiz arbeiten und sich hier aufhalten das Recht zuzugestehen, an Abstimmungen teilzunehmen und gewählt zu werden.

Was wird morgen jener Kollege, der JA gestimmt hat, seinem Kollegen sagen, der, weil Migrant, nicht stimmen durfte, wenn das Lohndumping um sich greifen wird? Was wird der Gewerkschaftsspitzenfunktionär sagen, der Zweifel hegte, aber an der Seite der Unternehmer für das JA Kampagne machte, wenn die Bosse ihren Angriff verschärfen und die Lohnabhängigen die Zeche bezahlen werden?

Er wird antworten: „Die Bosse haben ihr Wort nicht gehalten“. Diese Antwort wird wenige überzeugen. Denn jeder und jede stellt seit Jahren fest, dass die gut gemeinten Absichtserklärungen mit der Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben. Daraus wächst im Land eine Unzufriedenheit, welche die Gewerkschaft als Hebel dazu benützen könnte, weitere flankierende Massnahmen durchzusetzen.

7. In der heutigen Lage ist der Schutz der Meinungsverschiedenheit in unseren gewerkschaftlichen Reihen mehr denn je notwendig, um daraus lebendige, kollektive Werkzeuge zur Verteidigung der Lohnabhängigen zu machen. Meine Stellungnahme für ein Referendum, für ein NEIN am 25. September, entspricht der Linie der Kongressbeschlüsse des SGB.

Welcher SGB-Kongress hat denn je eine „heilige Allianz“ zwischen den Vertretern des Unternehmertums, des Bundesrates und des SGB beschlossen? Keiner. Doch wird keinerlei Massnahme gegen SGB-Sekretäre ergriffen, die wie Serge Gaillard bei Pressekonferenzen an der Seite von Hasler, von Nordmann (stv. Direktor vom seco) und von Bundesrat Deiss schwadronieren. Weshalb musste also eine Sanktion gerade gegen jemanden – mich, in diesem Fall – ergriffen werden, der bloss eine von SGB-Kongressen beschlossene Stellungnahme verficht?

Jede und jeder Delegierte sollte versuchen, für sich persönlich eine Antwort auf diese Frage zu finden. Er/sie sollte sich Zeit nehmen, um zu prüfen, ob der Zweifel an den flankierenden Massnahmen begründet ist oder nicht.

So erlauben die schlichteste Weisheit sowie der Schutz von gewerkschaftlicher Demokratie und Ausdrucksfreiheit nur eine Schlussfolgerung: meiner Kündigung soll die SGB-Delegiertenversammlung nicht zustimmen.

Mit freundlichem Gruss,
Romolo MOLO,
UNIA-Mitglied (vorh. SMUV)