Siehe
dazu auch den Beitrag aus den "Tagesthemen"
der ARD vom 19. Februar 2005
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DER
SPIEGEL 7/2005 - 14. Februar 2005
ARBEITSMARKT
Der Osten kommt
Von Markus Deggerich
Eine
Klausel im EU-Recht macht die Bundesrepublik
zum Billiglohnland. Firmen feuern deutsche
Arbeiter und heuern osteuropäische an
- zu Dumpingpreisen. Nun will der Kanzler
einschreiten.
Der
Mann hat beeindruckende Oberarme und ziemlich
schlechte Laune. "Sie da oben",
schnaubt er in das Mikrofon "müssen
sich nicht wundern, wenn wir bald mit Knüppeln
auf die Straße gehen."
Der "da oben" ist Gerd Andres (SPD),
Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium,
und er blickt beunruhigt auf die 300 aufgebrachten
Menschen in der Veranstaltungshalle im niedersächsischen
Löningen. Denn wer da so unverhohlen
mit körperlicher Gewalt droht, sind Fleischer.
Genauer: arbeitslose Fleischer. Männer,
deren Jobs zwar immer noch in Deutschland
erledigt werden, aber neuerdings von Arbeitern
aus Osteuropa - und zu Dumpinglöhnen.
Es geht, das weiß der Staatssekretär,
um weit mehr als um die Wurst. Höchste
politische Ebenen sind in Alarmbereitschaft.
Das Schicksal der Fleischverarbeiter, so fürchtet
man in Berlin, könnte der Beginn einer
kaum zu stoppenden Entwicklung sein. Sollte
der Trend auch andere Branchen erreichen,
würden womöglich Hunderttausende
deutscher Arbeitnehmer von Billigarbeitern
verdrängt.
Kein Wunder, dass die Bundesregierung nervös
ist. Horrormeldungen von Deutschland als Billiglohnparadies
könnten den rot-grünen Aufschwung
abrupt beenden. Ende vergangener Woche hat
der Kanzler das Thema zur Chefsache erklärt:
Am Dienstag wird er in Brüssel bei EU-Kommissionschef
José Manuel Barroso in der Sache vorsprechen.
"Angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen
darf Deutschland nicht mit Billiglöhnern
überschwemmt werden", sagt ein hoher
Regierungsbeamter.
Schuld an der Misere ist ein unterschätztes
EU-Gesetz. Um den deutschen Arbeitsmarkt zu
schützen, hatte Bundeskanzler Gerhard
Schröder bei der Osterweiterung der Europäischen
Union im vergangenen Mai eine Klausel durchgesetzt:
EU-Neubürger müssen bis zu sieben
Jahre lang auf freie Arbeitsplatzwahl in den
Mitgliedstaaten verzichten. So, hoffte er,
würde Deutschland nicht von Billigarbeitern
überrannt werden.
Allerdings war da noch das Kleingedruckte:
Die sogenannte Dienstleistungsfreiheit gilt
längst, wenngleich mit Einschränkungen,
für die neuen Beitrittsländer. Betriebe
aus den neuen Mitgliedstaaten dürfen
deshalb deutschen Unternehmen ihre Dienstleistungen
anbieten - und zwar zu den Arbeitsbedingungen
ihrer Länder. Das Prüfrecht, ob
es sich tatsächlich um Dienstleistungen
oder aber um illegale Arbeitnehmerüberlassung
handelt, haben nicht mehr deutsche Stellen,
sondern die Heimatländer.
In Berlin hat man seinerzeit diese Klausel
offenbar unterschätzt: 26 000 Fleischarbeiter
haben ihren Job inzwischen schon verloren
und wurden durch Billigkräfte ersetzt.Innerhalb
weniger Monate sei "ein Milliarden-Markt
mit mafiösen Strukturen, Lohndumping
und moderner Sklaverei" entstanden, klagt
Matthias Brümmer von der Gewerkschaft
Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in Oldenburg.
In seinem Bezirk, der wegen seiner Nutztierdichte
der "Fleischtopf Deutschlands" genannt
wird, gibt es mittlerweile Betriebe, in denen
nur noch Osteuropäer arbeiten. In den
Unternehmen würden weder Lohn- noch Arbeitszeitregelungen
eingehalten und schon gar keine Arbeitsschutzklauseln,
sagt er.
"Durch die Dienstleistungsfreiheit brechen
alle Dämme - und Kontrollen gibt es hier
nicht mehr", klagt der Gewerkschafter.
Tatsächlich gilt für die Dienstleistungsanbieter
das Recht ihres Heimatlandes, das sogenannte
Herkunftslandprinzip. Ein polnischer Unternehmer
etwa, der in Deutschland Schweine schlachtet,
unterliegt nicht dem deutschen Sozialstandard,
sondern nur dem polnischen. Die Sozialbeiträge
werden in Polen entrichtet.
Mittlerweile jedoch werden in Deutschland
selbst niedrigere Standards anderer Länder
noch unterschritten. Gewerkschafter Brümmer
weiß von regelrechten Lagerzuständen.
Arbeiterkolonnen werden abgeschirmt, wohnen
in Massenunterkünften, werden dann noch
um Teile ihres spärlichen Lohns gebracht,
indem ihnen vertragswidrig Miete oder Geld
für die Arbeitskleidung abgezogen wird.
Wer aufmuckt, wird fristlos gekündigt,
verliert damit seine Aufenthaltserlaubnis
und muss sofort in sein Heimatland zurückkehren.
Löhne zwischen zwei und drei Euro pro
Stunde sind keine Ausnahme. Die Betroffenen
berichten von katastrophalen Zuständen
in den Schlachthöfen, was Arbeitssicherheit
und Hygiene betrifft. Vor neugierigen Blicken
und unangemeldeten Kontrollen schützen
sich solche Betriebe mit Nato-Draht und starken
Männern. "Das sind Hochsicherheitstrakte",
sagt Brümmer.
"Das Problem ist viel größer
als wir geahnt haben", so die SPD-Bundestagsabgeordnete
Gabriele Groneberg. Alarmiert durch die Horrorzahlen
aus ihrem Wahlkreis in Niedersachsen, wo in
den vergangenen Monaten 6000 deutsche Fleischarbeiter
auf die Straße gesetzt wurden, wollte
sie vergangene Woche den Schlachthof der Norddeutschen
Fleischzentrale in Emstek besichtigen. Nach
anfänglicher Zusage wurde die Politikerin
dann aber ohne Angabe von Gründen wieder
ausgeladen: "Wer im Dunkeln bleiben will,
hat offensichtlich etwas zu verbergen",
erregt sich die Bundestagsabgeordnete.
Die Entwicklung in Deutschland blieb nicht
unbemerkt. Der europäische Marktführer
in der Fleischveredelung "Danish Crown"
jubelt über das deutsche "Billiglohnparadies".
Die Dänen wollen zwei Großschlachthöfe
schließen und massiv Arbeitsplätze
nach Deutschland verlegen.
Bei ihnen zu Hause haben die Gewerkschaften
die osteuropäischen Billigkolonnen abgewehrt.
Beim deutschen Nachbarn dagegen sind die meisten
der 60 000 Schlachter und Zerleger nicht mehr
gut genug organisiert für harten Widerstand.
"In Deutschland herrschen Wildwest-Zustände,
dort zahlen sie Hungerlöhne", klagt
die dänische Gewerkschaft.
Weil auch der zweitgrößte europäische
Fleischveredler, Bestmeat aus den Niederlanden,
massiv in den deutschen Markt drängt,
tun sich nun niederländische, polnische,
dänische und deutsche Gewerkschafter
zusammen. Anfang März wollen sie sich
in Hamburg treffen, um den Kampf gegen das
Lohndumping zu koordinieren.
Auch in Berlin treibt es mehr und mehr Politiker
zur Tat. "Das Thema gehört bundesweit
auf die Tagesordnung", fordert der Abgeordnete
Holger Ortel (SPD). Er will eine Bundeskonferenz
von SPD und Gewerkschaften organisieren. Gerald
Thalheim (SPD), Staatssekretär im Verbraucherschutzministerium,
ist ebenfalls alarmiert: In seinem Wahlkreis
Chemnitz ist eine deutsche Schlachthofkolonne
komplett gegen Tschechen ausgetauscht worden
- die nun im ehemaligen betriebseigenen Kindergarten
hausen.
Für Kanzler Gerhard Schröder und
Außenminister Joschka Fischer - beide
glühende Anhänger eines geeinten
Europa - wachsen sich die Folgen der Dienstleistungsfreiheit
zu einer Gefahr aus. Durch viele Brandbriefe
seiner Genossen alarmiert, mahnt der Kanzler
seinen Wirtschaftsminister zu mehr Zurückhaltung.
Wolfgang Clement, der die Dienstleistungsfreiheit
und das Herkunftslandprinzip allzu gern als
"Hebel zum Umbau unserer Administration
und zum Abbau überflüssiger Standesregeln"
lobpreist, solle sich verbal ein wenig mäßigen.
Gegen die geltende Dienstleistungsrichtlinie
freilich kann Schröder auch bei seinem
Gespräch mit Barroso wenig machen. Aber:
In der EU wird längst eine neue Dienstleistungsrichtlinie
diskutiert, die freilich erst ab 2011 gelten
soll. Und in der, so will es zumindest der
Kanzler, sollen etliche Branchen, darunter
der Gesundheitssektor, der Kulturbereich,
das Handwerk und der Bau ganz oder teilweise
ausgenommen werden.
Die Angst geht um, dass sonst die schöne
Vision grenzübergreifender europäischer
Dienstleistungen einer unschönen Realität
weicht und ein System entsteht, in dem man,
gut getarnt, billige Arbeitskräfte verschachert
- und zwar in vielen Branchen: vom Handwerk
bis zur Pflege. Denn der Markt ist riesig,
über 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
in der EU werden mit Dienstleistungen erwirtschaftet.
Der Weg in das Billiglohnparadies ist einfach.
Fast jeder deutsche Unternehmer kann sich
"Dienstleistungen" einkaufen: Er
muss den Auftrag nur an ein Subunternehmen
vergeben, das sich seine Arbeiter auf Zeit
aus Osteuropa holt. Stammbelegschaften werden
so nach und nach ersetzt - oder sind gezwungen,
das Lohndumping mitzumachen. Die Spirale nach
unten drehe sich immer schneller, warnen Gewerkschaften.
Für Michael Andritzky, Hauptgeschäftsführer
der Arbeitgebervereinigung Nahrung und Genuss,
hat das alles seine Ordnung. Denn "Verträge
zwischen deutschen Subunternehmern und osteuropäischen
Dienstleistern sind legal", verteidigte
er sich vor den wütenden Arbeitern in
Löningen. Natürlich wisse auch er
von "kriminellen Machenschaften",
aber das seien Ausnahmen: "99 Prozent
arbeiten sauber", sagte er, unter dem
Gelächter der Zuhörer.
Die NGG schätzt das Verhältnis genau
anders herum ein. Der ruinöse Wettbewerb
lasse keinem mehr Luft, der sauber arbeiten
will. Osteuropäische Firmen, so Gewerkschafter,
schickten gezielt Faxe an deutsche Unternehmen.
Die brauchten nur die gewünschte Dienstleistung
anzukreuzen, das Angebot folgte prompt.
Qualifizierung und Seriosität der Anbieter
können kaum kontrolliert werden, und
so gründen auch deutsche Subunternehmer
Firmen in Osteuropa, die als reine Anwerbebüros
arbeiten: Menschenhandel mit Billigarbeitern,
gedeckt durch EU-Recht.
So werden mit einem Federstrich beispielsweise
Lehrer zu Fleischern gemacht, wie im Fall
von Elzbieta B. Die Polin unterschrieb bei
der Firma Multi-Job in Warschau einen Dreimonatsvertrag
als Betriebshelferin. Für die Vollzeitstelle
sollte die Pädagogin 800 SPIEGEL TV Schlachthof
(in Rheda- Wiedenbrück): Spirale nach
unten Euro brutto im Monat kassieren. Weil
sie Deutsch sprach, wurde sie als Vorarbeiterin
für eine polnische Kolonne in einem Fleischwerk
in Niedersachsen eingesetzt.
Die Vollzeitstelle entpuppte sich aber schnell
als Doppelschicht mit 16 Stunden Arbeit am
Tag. Als Elsbieta B. nach dem ersten Monat
noch keinen Cent Lohn erhalten hatte, beschwerte
sie sich. Nach zwei Monaten erhielt sie eine
Abschlagszahlung von 200 Euro, nach drei Monaten
noch mal 400 Euro. Danach gab sie auf. "Die
Arbeiter werden mit rüdesten Methoden
abgezockt und eingeschüchtert",
sagt Gewerkschafter Brümmer.
Dass das Problem als Erstes im Fleischgewerbe
massiv auftaucht, hat mit dem Markt zu tun.
Die deutsche Fleischwirtschaft leidet seit
Jahren unter hohen Überkapazitäten
und ruinösem Preiskampf der Supermärkte.
Die Lieferanten müssen Kosten drücken,
egal, ob die Qualität leidet. Es wird
nur eine Frage der Zeit sein, bis das Modell
Schule macht - auch in anderen Branchen.
Angesichts dieser Perspektive mehrt sich der
Widerstand gegen die Dienstleistungsfreiheit.
Doch Änderungswünsche haben nicht
nur die Deutschen, und ein Flickenteppich
an Regeln könnte die ganze Idee vom freien
Binnenmarkt aushebeln. EUKommissionspräsident
Barroso lässt keinen Zweifel daran, dass
er offene Dienstleistungsmärkte will.
"Das wird schwierig", weiß
auch Staatssekretär Andres. EU-Recht
sei eine komplizierte und sensible Materie,
da gebe es keine leichten Lösungen, entgegnete
er flau seinem aufgebrachten Publikum in Löningen.
Die arbeitslosen Fleischer konnte das nicht
besänftigen: "Euer Europa könnt
ihr euch dann an den Hut stecken."