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Wir veröffentlichen nachstehend einen Artikel aus der Zeitscheift "Der Spiegel Nr. 8 vom 21.Februar 2005 auf unserer Webseite um einen kleinen Eindruck von der Tragweite widerzugeben, welche der "freie" Arbeitsmarkt und die Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes in Europa, auf das Leben der Lohnabhängigen haben.

DER SPIEGEL 8/2005 - 21. Februar 2005

URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,342620,00.html


Arbeitsmarkt Nivellierung nach unten

Von Sven Afhüppe, Dorothée Junckers und Michael Sauga

Die massive Billiglohnkonkurrenz aus Osteuropa stürzt die Regierung in Turbulenzen. Während Wirtschaftsminister Clement den europäischen Dienstleistungsmarkt weiter öffnen will, drängt der Kanzler zu einer Kurskorrektur: Der Schutz heimischer Arbeitsplätze soll Vorrang erhalten.

Die Atmosphäre war besser als der Service. Bei Kaffee und Wasser diskutierten am vergangenen Dienstag Bundeskanzler Gerhard Schröder und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso die großen Fragen der Europapolitik: Über den Stabilitätspakt redeten die beiden Kabinettschefs, über die Grundsätze der künftigen Brüsseler Finanzpolitik und den europäischen Haushalt.

Ganz oben auf den Sprechzetteln aber stand ein Thema, das bislang eher als sperrige Expertenfrage galt: eine neue Richtlinie über mehr Wettbewerb auf den europäischen Dienstleistungsmärkten. Es müsse unbedingt sichergestellt werden, dass bei dem Projekt keine deutschen Arbeitsplätze in Gefahr gerieten, verlangte der Kanzler.

Das werde auf keinen Fall geschehen, beruhigte Kommissionspräsident Barroso. Die deutschen Wünsche für einen wirksamen Arbeitnehmerschutz würden "natürlich berücksichtigt".

Das Routinegespräch in Brüssel wurde daheim in Deutschland ungewöhnlich aufmerksam registriert. Nachdem der SPIEGEL vergangene Woche über den Einsatz polnischer Billiglöhner in norddeutschen Fleischfabriken berichtet hatte, war eine bundesweite Debatte über die Schattenseiten der EU-Osterweiterung ausgebrochen.

Gewerkschafter wie Politiker beklagten "skandalöse Arbeitsbedingungen" und "mafiöse Strukturen" in zahlreichen Bau- und Dienstleistungsbranchen, sie warnten davor, die europäischen Arbeitsmärkte noch weiter zu öffnen als bisher schon. DGB-Chef Michael Sommer schimpfte über "ungebremstes Lohn- und Sozialdumping", und Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) ließ vernehmen, bei "über fünf Millionen Arbeitslosen" sei eine weitere Liberalisierung "nicht zu verkraften".

Die hitzige öffentliche Debatte kannte vor allem einen Verlierer: Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. Wie kein Zweiter hatte sich der Ressortchef in den vergangenen Wochen hinter das Konzept der EU-Regierung gestellt. Im gewohnten Fanfarenklang lobte Clement die Liberalisierungsideen mal als "Motor für einen Wachstumsschub", mal als "wesentliche Erleichterung für deutsche Exporteure". Allein in Deutschland, prognostizierte Clement, werde das Projekt bis zu 70.000 neue Jobs bringen.

Nun kann der Minister den Plan, mit dem er Bürokratie in Deutschland abbauen wollte, weitgehend abschreiben. In Koalition und Regierung hat das Konzept keine Mehrheit mehr, gleichzeitig wachsen die Widerstände in Europa. Offen sei nur noch, so prophezeien rot-grüne Europapolitiker, ob Kommissionschef Barroso die umstrittene Richtlinie nun vollständig zurückzieht oder sie bis zur Unkenntlichkeit aufweichen lässt.

Es geht um eines der am häufigsten verdrängten Probleme am deutschen Arbeitsmarkt: die Konkurrenz billiger Lohnkräfte aus Osteuropa. Kein anderes Land ist für die knapp 17 Millionen Arbeitnehmer in Polen so leicht zu erreichen wie die Bundesrepublik, in kaum einem anderen Land ist der Lohnabstand zu den Nachbarn im Osten derart groß. In Deutschland kostet ein Durchschnittsarbeitnehmer 3710 Euro im Monat, in Polen 783 Euro und in Litauen 487 Euro.

Kein Wunder, dass das Gefälle seit Jahren jede Menge Bewegung beiderseits der früheren EU-Ostgrenzen auslöst. Deutsche Textil- oder Automobilhersteller verlagern Zehntausende Jobs in die Slowakei oder nach Tschechien; umgekehrt schuften Hunderttausende Osteuropäer auf deutschen Spargelfeldern und Baustellen oder arbeiten als billige Putzhilfen in Privatwohnungen von Berlin bis Hannover.

Die Versuche der Bundesregierung, den Ost-West-Strom mit Hilfe komplizierter Niederlassungsregelungen, Quotenabkommen oder Kontrollen zu kanalisieren, waren nur zum Teil erfolgreich. Derzeit arbeiten rund 600.000 Osteuropäer legal in Deutschland, etwa nach den sogenannten Entsenderichtlinien in der Bauwirtschaft. Mehr als eine Million Tschechen, Ukrainer oder Rumänen verdingen sich als Schwarzarbeiter in deutschen Gaststätten, Reinigungsbetrieben oder Privathaushalten.

Für zusätzlichen Schub auf den Beschäftigungsmärkten sorgte im vergangenen Jahr der EU-Beitritt von sieben Ländern aus dem einstigen sowjetischen Machtbereich. Damals wurde beschlossen: Im Zuge der sogenannten Osterweiterung dürfen Polen oder Litauer zwar für weitere sieben Jahre nicht als reguläre Arbeitnehmer in den Westen kommen, wohl aber als Unternehmer oder als angestellte Werkvertragskräfte im Rahmen befristeter Dienstleistungsaufträge.

Seither bieten Tausende Osteuropäer in Berlin oder Hannover ihre Arbeitskraft an, als selbständige Fliesenleger, als Pflegeschwestern - oder als Mitglieder billiger Arbeitskolonnen in der Fleischindustrie (siehe Seite 85). Die deutschen Behörden sind vielfach machtlos, weil sich echte und vorgetäuschte Selbständigkeit, Dienstleistung und Produktion oft nur schwer voneinander abgrenzen lassen.

Die wirtschaftlichen Folgen des legalen und illegalen Job-Transfers sind stets dieselben: Die osteuropäischen Arbeitskräfte freuen sich über die gleichen Löhne wie Warschauer oder Prager Universitätprofessoren; und die deutschen Verbraucher profitieren von niedrigen Preisen. Verlierer aber sind Zehntausende deutsche Arbeitnehmer, die mit der Billigkonkurrenz aus Osteuropa nicht mithalten können.

Dass es etwa in der Bauwirtschaft inzwischen normal geworden sei, als "Ukrainer in Polen und als Pole in Deutschland zu arbeiten" - daran hatte sich der Rostocker Maurer Axel Rufer, 33, in den vergangenen Jahren gewöhnt. Als ihn sein Arbeitgeber aber kürzlich vor die Alternative stellte, Kündigung oder Ich-AG, hatte er genug. Nun plant er, mit Frau und zwei Kindern in die Schweiz auszuwandern.

Als hätte Deutschland mit der Entwicklung nicht schon genug Probleme, will die Brüsseler EU-Kommission nun den Wettbewerbsdruck aus Osteuropa noch erhöhen, mit Hilfe ihrer "Richtlinie über Dienstleistungen im Binnenmarkt".

Die Idee klingt verlockend: Bisher stehen europäische Dachdecker, Architekten oder Mechaniker vor kaum zu überwindenden Hürden, wenn sie ihre Dienste in einem anderen EU-Land anbieten wollen. Bevor sie um Kunden und Aufträge werben dürfen, müssen sie Bescheinigungen über Ausbildung oder geleistete Sozialbeiträge vorlegen, Nachweise über Berufsqualifikation und Sicherheitsstandards, Belege über die eigene Kreditwürdigkeit - Dutzende davon und in jedem Land andere. Meist sind die bürokratischen Auflagen nichts anderes als reine Schikanen, um den eigenen Arbeitsmarkt vor ausländischer Konkurrenz zu schützen.

Damit muss endlich Schluss sein, befand der frühere niederländische Binnenmarkt- Kommissar Frits Bolkestein vor gut vier Jahren und erfand das sogenannte Herkunftslandprinzip.

Es besagt, dass künftig jeder Ingenieur oder Schreinermeister seine Dienste europaweit nach den Rechtsvorschriften seines Heimatlandes anbieten darf. Für den Fliesenleger aus Warschau, der dann auf einer Baustelle in Berlin arbeitet, würden demnach ausschließlich die polnischen Arbeitsschutzbestimmungen und Qualitätsanforderungen gelten. Derzeit muss er sich an die deutschen Vorschriften halten.

Als Bolkestein seine Richtlinie vor gut einem Jahr auf den Markt brachte, wurde sie europaweit als Freischein für Freiheit und Wettbewerb gefeiert. Wirtschaftsminister Clement beziffert den möglichen Zuwachs des deutschen Dienstleistungsexports auf bis zu 20 Milliarden Euro, und die deutschen Dienstleistungskonzerne frohlockten. Metro- Chef Hans-Joachim Körber kündigte eine "Expansion ins europäische Ausland" an, der Berliner Dienstleistungsunternehmer Peter Dussmann freute sich, dass der "wachsende Kostendruck mit billigen Arbeitskräften reduziert" werden kann.

Doch je länger sich Politiker und Branchenvertreter über die komplizierte Vorschrift beugten, desto klarer wurde ihnen, dass die Regelung nicht nur Gewinner, sondern auch jede Menge Verlierer produzieren würde: nicht zuletzt unter deutschen Arbeitnehmern, Freiberuflern oder Mittelständlern.

Viele Handwerksmeister etwa sehen sich in einem Dienstleistungswettbewerb nach dem Konzept der EU-Kommission gravierend benachteiligt, weil deutsche Umwelt-, Sicherheits- oder Arbeitsschutznormen regelmäßig um ein Vielfaches über den Standards in Tschechien oder Ungarn liegen. Eine "massive Inländerdiskriminierung" befürchtet etwa Handwerksgeneralsekretär Hanns-Eberhard Schleyer, die einer Vielzahl heimischer Schreiner- oder Elektrobetrieben die Existenz und Tausenden Arbeitnehmern den Job kosten könnte.

Das ist das Kernproblem des Konzepts: Anstatt den bürokratischen Wildwuchs in Europa einheitlich zu stutzen, setzt die Kommission einen ungeregelten Unterbietungswettlauf in Gang, klagt Verbraucherschutzministerin Renate Künast. Das könne dazu führen, dass "wichtige deutsche Standards im Umwelt- und Verbraucherschutz nach unten nivelliert werden".

Nicht weniger unausgegoren sind die Kommissionspläne, wie der europäische Dienstleistungsmarkt künftig kontrolliert werden soll: Sind die nationalen Aufsichtsämter zuständig oder die Behörden am ausländischen Firmensitz? Ganz gleich, wie die Frage entschieden wird, es droht ein bürokratisches Gewürge: Entweder müssten die Behörden vor Ort 25 verschiedene europäische Regelwerke überwachen, oder sie müssten dafür sorgen, dass die ortsansässige Handwerksfirma die heimischen Regeln in 25 verschiedenen Ländern einhält.

So zahlreich sind die Bedenken und offenen Fragen, dass sich gegen die Richtlinie mittlerweile eine breite Abwehrfront formiert. In Europa wollen Länder wie Frankreich, Belgien oder Schweden die Richtlinie komplett kippen, und auch in Deutschland wächst der Widerstand. Handwerks- und Berufsverbände lehnen den Plan genauso vehement ab wie Gewerkschaften sowie Verbraucher- und Umweltorganisationen.

Verzweifelt versucht Richtlinienbefürworter Clement, die Kritikwelle mit dosierten Zugeständnissen abzufedern. Um das Prinzip zu retten, will der Minister weiterhin Ausnahmen für sensible Branchen wie Kommunal- und Gesundheitsdienste, Rechtsanwälte oder die Bau- und Reinigungsbranche vorsehen.

Doch inzwischen zeichnet sich ab, dass Wirtschaftsminister Clement diese Position nicht einmal in den eigenen Reihen durchsetzen kann. Die Grünen wollen die Richtlinie vollständig umschreiben lassen, und im Kabinett haben inzwischen auch sozialdemokratische Mitglieder wie Innenminister Otto Schily, Justizministerin Brigitte Zypries oder Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier schwere Bedenken angemeldet. Regierungschef Schröder selbst klagt schon seit langem im kleinen Kreis, dass er die Kommissionskonstruktion für rechtlich fragwürdig hält. Eine "grenzenlose Liberalisierung", so der Kanzler, sei mit ihm nicht zu machen.

In der vergangenen Woche nahm Schröder seinen Wirtschaftsmann im Kabinett an die Kandare. Die deutsche Regierungsstellungnahme für Brüssel, die Ende Februar vorliegen soll, darf Clement zwar weiter federführend abfassen, seine Kabinettskritiker aber dürfen an der Position mitformulieren. Zudem beschloss das Gremium, nicht nur nach weiteren Ausnahmen zu suchen, sondern die Frage grundsätzlich zu prüfen, wo "das Herkunftslandprinzip bei strikter Anwendung möglich ist und wo nicht". Mittlerweile gilt es deshalb am wahrscheinlichsten, dass die europäischen Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen im März in Brüssel das leidige Projekt weitgehend beerdigen werden.

Wie schwer sich die rot-grüne Regierung tut, eine Linie gegen unfaire Lohnkonkurrenz aus Osteuropa zu finden, zeigte sich auch an ihrem Umgang mit dem Dumping-Skandal in der Fleischbranche. Mitte der Woche hatte das Wirtschaftsministerium noch angekündigt, binnen Tagen einen Maßnahmenkatalog gegen die Praktiken der Fleischfabriken vorzulegen. Am vergangenen Freitag mussten Clements Fachleute einräumen, dass ein wirksames Abwehrprogramm nicht so schnell zu erstellen ist. "Das Ganze", sagt Clements Staatssekretär Gerd Andres, "ist eine hochkomplexe Materie."