In Haiti bekommen 22 % der Menschen weniger
Kalorien als das gesundheitlich erforderliche
Minimum; einige bekämpfen ihren stechenden
Hunger, indem sie „Schlammkekse“
essen, eine Mischung aus Lehm und Wasser mit
etwas Pflanzenöl und Salz.1
Gleichzeitig zahlt die kanadische Bundesregierung
in einer Massenkeulung von Zuchtschweinen 225
$ für jedes getötete Schwein als Teil
eines Plans zur Begrenzung der Schweinefleischproduktion.
Die von niedrigen Schlachtpreisen und hohen
Futtermittelkosten bedrängten Schweinezüchter
haben auf das Programm so enthusiastisch reagiert,
dass die bereitgestellten Mittel schon vor Ende
der Laufzeit im September aufgebraucht sein
werden.
Einige der getöteten Schweine werden vielleicht
an örtliche Lebensmitteltafeln gehen, aber
die meisten wird man vernichten oder zu Tierfutter
verarbeiten. Nichts wird nach Haiti gehen.
REKORDPREISE
FÜR GRUNDNAHRUNGSMITTEL
Das
ist die brutale Welt der kapitalistischen Landwirtschaft
– einer Welt, in der einige Lebensmittel
vernichten, weil die Preise zu niedrig sind,
und andere hungern, weil die Nahrungsmittelpreise
zu hoch sind.
Wir erleben eine beispiellose Inflation der
Lebensmittelpreise; die Preise haben eine seit
Jahrzehnten nicht dagewesene Höhe erreicht.
Die Preissteigerungen betreffen alle Arten von
Lebensmitteln, besonders aber die wichtigsten
Grundnahrungsmittel: Weizen, Mais und Reis.
Die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO sagt,
dass zwischen März 2007 und März 2008
die Preise für Getreide um 88 %, für
Öle und Fette um 106 % und für Milchprodukte
um 48 % gestiegen sind. Der FAO-Nahrungsmittelpreisindex
als Ganzes stieg um 57 % in einem Jahr –
und der größte Teil des Anstiegs
ereignete sich in den letzten Monaten.
Eine andere Quelle, die Weltbank, sagt, dass
die Weizenpreise in den 36 Monaten bis Februar
2008 weltweit um 181 % gestiegen sind und die
Lebensmittelpreise insgesamt um weltweit 83
%. Die Experten der Bank erwarten, dass die
meisten Lebensmittelpreise bis mindestens 2015
deutlich über dem Niveau von 2004 bleiben
werden. Die beliebteste Sorte thailändischen
Reises wurde vor fünf Jahren für 198
$ verkauft und vor einem Jahr für 323 $.
Am 24. April durchbrach der Preis die 1000 $-Grenze.
Die Steigerungen auf den örtlichen Märkten
sind noch größer. Auf Haiti verdoppelte
sich der Preis für einen Sack Reis Ende
März in nur einer Woche. Diese Steigerungen
sind katastrophal für die 2,6 Milliarden
Menschen in der Welt, die von weniger als 2
$ am Tag leben müssen und 60 % bis 80 %
ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben.
Hunderte von Millionen haben nicht mehr genug
zum Essen. Jetzt schlagen die Hungernden zurück.
AUF
DIE STRASSE
Auf
Haiti bauten Demonstranten am 3. April in Les
Cayes, einer Stadt im Süden, Barrikaden,
stoppten Reis transportierende LKWs und verteilten
die Nahrungsmittel. Dann versuchten sie, das
Lager der UN nieder-zubrennen. Die Proteste
weiteten sich schnell auf die Hauptstadt Port-au-Prince
aus, wo Tausende zum Präsidentenpalast
zogen und „Wir haben Hunger“ riefen.
Präsident René Préval, der
zunächst gesagt hatte, da könne man
nichts machen, kündigte eine Kürzung
der Großhandelspreise für Reis um
16 % an. Dies war im besten Falle eine Überbrückungsmaßnahme,
da die Senkung nur für einen Monat galt
und Einzelhändler nicht verpflichtet waren,
sie weiterzugeben.
Parallel zu den Aktionen auf Haiti gab es ähnliche
Proteste hungriger Menschen in mehr als zwanzig
anderen Ländern. In Burkina Faso forderte
ein zweitägiger Generalstreik von Gewerkschaften
und Ladenbesitzern „bedeutende und wirksame“
Preissenkungen für Reis und andere Grundnahrungsmittel.
In Bangladesh traten über 20 000 Arbeiterinnen
und Arbeiter aus den Textilfabriken von Fatullah
in den Streik, um niedrigere Preise und höhere
Löhne zu fordern.
Die ägyptische Regierung schickte Tausende
von Soldaten in den Textilkomplex Mahallah im
Nildelta, um einen Generalstreik für höhere
Löhne, eine unabhängige Gewerkschaft
und niedrigere Preise zu verhindern. Zwei Menschen
wurden getötet und über 600 verhaftet.
In Abidjan (Elfenbeinküste – Côte
d’Ivoire) setzte die Polizei Tränengas
gegen Frauen ein, die Barrikaden errichtet,
Reifen angezündet und Hauptstraßen
blockiert hatten. Tausende zogen zur Präsidentenvilla
und riefen: „Wir sind hungrig“ und
„Das Leben ist zu teuer, ihr bringt uns
um“.
In Pakistan und Thailand rückten bewaffnete
Soldaten aus, um die Armen daran zu hindern,
sich Lebensmittel von den Feldern und aus Warenhäusern
zu holen.
Ähnliche Proteste fanden in Kamerun, Äthiopien,
Honduras, Indonesien, Madagaskar, Mauretanien,
Niger, Peru, auf den Philippinen, in Senegal,
Thailand, Usbekistan und Sambia statt. Im April
berichtete der Weltbankpräsident auf einem
Treffen in Washington, dass es 33 Länder
gebe, in denen die Preissprünge zu sozialen
Unruhen führen könnten. Ein leitender
Redakteur des Nachrichtenmagazins Time warnte:
„Der Gedanke, dass die hungernden Massen
von ihrer Verzweiflung getrieben die Straßen
erobern und die alten Regime stürzen könnten,
schien lange völlig unmöglich, hatte
der Kapitalismus im Kalten Krieg doch so durchgreifend
gesiegt … Und doch lassen die Schlagzeilen
des vergangenen Monats vermuten, dass die in
den Himmel schießenden Preise die Stabilität
einer wachsenden Zahl von Regierungen überall
in der Welt bedrohen … wenn die Umstände
es unmöglich machen, die hungernden Kinder
zu ernähren, können normalerweise
passive Menschen schnell zu militanten KämpferInnen
werden, die nichts zu verlieren haben.”2
|
Aber
es ist klar, dass die globale Klimakrise
bereits begonnen hat und die Lebensmittel
schon heute betroffen sind. |
WAS
TREIBT DIE LEBENSMITTELINFLATION?
Seit
den 1970er Jahren hat sich die Lebensmittelproduktion
zunehmend globalisiert und konzentriert. Eine
Handvoll von Ländern beherrscht den Handel
mit Grundnahrungsmitteln. Sechs Exporteure liefern
80 % des Weizens und 85 % des Reises. Drei Länder
exportieren 70 % des exportierten Maises. Das
überlässt die ärmsten Länder
der Welt, die zum Überleben Nahrungsmittel
importieren müssen, der Gnade ökonomischer
Trends und politischer Konjunkturen in diesen
wenigen Exportländern. Wenn der weltweite
Lebensmittelhandel seine Lieferungen einstellt,
müssen die Armen den Preis bezahlen.
Mehrere Jahre lang trieb der Weltmarkt für
Grundnahrungsmittel auf eine Krise zu. Vier
miteinander verbundene Trends haben das Produktionswachstum
gebremst und die Preise in die Höhe getrieben:
das Ende der „grünen Revolution“,
der Klimawandel, die Biospritproduktion und
der Anstieg der Erdölpreise.
DAS
ENDE DER „GRÜNEN REVOLUTION”
Um
der bäuerlichen Unzufriedenheit in Süd-
und Südostasien zu begegnen, pumpten die
USA in den 1960er und 1970er Jahren Geld und
technische Unterstützung in die landwirtschaftliche
Entwicklung Indiens und anderer Länder.
Die „grüne Revolution“ –
neues Saatgut, Düngemittel, Pestizide,
landwirtschaftliche Technik und Infrastruktur
– führte zu einem spektakulären
Anstieg der Lebensmittelproduktion, besonders
bei Reis. Der Anstieg der Hektarerträge
hielt bis in die 1990er Jahre an.
Heute ist es für Regierungen nicht mehr
modern, armen Menschen beim Anbau von Nahrungsmitteln
für andere arme Menschen zu helfen, weil
man ja annimmt, dass „der Markt“
alle Probleme löst. The Economist berichtet,
dass „der Anteil der Ausgaben für
Landwirtschaft an den gesamten öffentlichen
Ausgaben in den Entwicklungsländern zwischen
1980 und 2004 um die Hälfte gefallen ist.”3
Forschungs- und Entwicklungsgelder sowie Unterstützungen
sind versiegt, und das Produktionswachstum wurde
abgewürgt.
Ergebnis war, dass die Welt in sieben der acht
letzten Jahre mehr Getreide verbraucht als produziert
hat, was bedeutet, dass der Reis aus den Lagern
verschwindet, die Regierungen und Händler
sich normalerweise als Versicherung gegen Missernten
aufbauen. Die Weltgetreidevorräte sind
jetzt auf dem tiefsten Punkt aller Zeiten, was
wenig Spielraum für schlechte Zeiten lässt.
KLIMAWANDEL
WissenschaftlerInnen
befürchten, dass der Klimawandel die Nahrungsmittelproduktion
in Teilen der Welt in den nächsten 12 Jahren
um die Hälfte reduzieren könnte. Aber
es ist klar, dass die globale Klimakrise bereits
begonnen hat und die Lebensmittel schon heute
betroffen sind. Australien beispielsweise ist
normalerweise der zweitgrößte Getreideexporteur
der Welt, aber eine schwere mehrjährige
Dürre hat die Weizenernte um mehr als 60
% reduziert und die Reisproduktion wurde völlig
vernichtet. In Bangladesh hat im November 2007
einer der seit Jahrzehnten stärksten Zyklone
Millionen Tonnen von Reis vernichtet und die
Weizenernte schwer geschädigt, was das
große Land noch abhängiger von Nahrungsmittelimporten
gemacht hat.
BIOSPRIT
Es
ist jetzt offizielle Politik in den USA, Kanada
und Europa, Nahrungsmittel in Treibstoff umzuwandeln.
Die von US-Fahrzeugen verbrannte Menge an Mais
würde ausreichen, um den gesamten Importbedarf
der 82 ärmsten Länder zu decken.4
Ethanol und Biosprit werden stark subventioniert,
was bedeutet, dass landwirtschaftliche Produkte
wie Mais unweigerlich der Nahrungskette entzogen
und in Treibstofftanks umgeleitet werden und
dass Landwirtschaftsinvestitionen weltweit zu
Palmen, Soja, CANOLA und anderen ölproduzierenden
Pflanzen gelenkt werden. Die Nachfrage nach
Biosprit treibt die Preise dieser Anbauprodukte
direkt und steigert die Preise anderer Getreide,
indem sie Produzenten ermutigt, zu Biosprit
zu wechseln.
Wie kanadische Schweinezüchter feststellen
mussten, steigen auch die Kosten der Fleischproduktion,
da Mais der wichtigste Bestandteil nordamerikanischen
Tierfutters ist.
ÖLPREISE
Die
Nahrungsmittelpreise sind mit dem Ölpreis
verbunden, da Lebensmittel in einen Ersatz für
Öl verwandelt werden können. Aber
der Anstieg der Ölpreisebeeinflusst auch
die Kosten der Produktion von Lebensmitteln.
Düngemittel und Pestizide werden aus Erdöl
und Erdgas hergestellt. Benzin und Diesel werden
bei Anbau, Ernte und Transport verwendet.5
Es wird geschätzt, dass die Kosten der
Maisproduktion zu 80 % von fossilen Brennstoffen
verursacht werden, so dass es kein Zufall ist,
dass die Lebensmittelpreise steigen, wenn der
Ölpreis steigt.
Ende 2007 führten verringerte Investitionen
in der Landwirtschaft der Dritten Welt, steigende
Ölpreise und der Klimawandel dazu, dass
sich das Produktionswachstum verringerte und
die Preise stiegen. Gute Ernten und starkes
Exportwachstum hätten die Krise vielleicht
abfangen können – doch genau das
geschah nicht. Auslöser war der Reis, Grundnahrungsmittel
für drei Milliarden Menschen.
Anfang dieses Jahres kündigte Indien an,
dass es den Großteil seiner Reisexporte
aussetzen werde, um seine Reserven wieder aufzufüllen.
Einige Wochen später kündigte Vietnam,
dessen Reisproduktion von einem größeren
Insektenbefall während der Ernte betroffen
war, einen 4-monatigen Ausfuhrstopp an, um sicherzustellen,
dass genug für den Binnenmarkt vorhanden
wäre.
Indien und Vietnam stehen normalerweise für
30 % aller Reisexporte weltweit, so dass deren
Ankündigungen ausreichten, den ohnehin
schon engen Weltreismarkt umkippen zu lassen.
Reiskäufer begannen sofort, alle noch verfügbaren
Vorräte aufzukaufen und in der Erwartung
künftiger Preissteigerungen jedes noch
zu findende Reiskorn einzulagern und sich bei
den Preisen künftiger Ernten gegenseitig
zu überbieten. Die Preise schossen in die
Höhe. Mitte April berichteten die Nachrichten
von „Panikkäufen“ von Reis-Futures
an der Börse von Chicago und dass der Reis
selbst in den Supermärkten der USA und
Kanadas knapp werde.
WARUM
DIE REBELLION?
Preissteigerungen
bei Lebensmitteln hat es auch früher gegeben.
Tatsächlich waren, wenn wir die Inflation
mitberücksichtigen, die Preise für
Grundnahrungsmittel in den 1970er Jahren höher,
als sie es heute sind. Warum hat nun dieser
Preisschub Massenproteste weltweit ausgelöst?
Die Antwort ist, dass die reichsten Länder
der Welt mit Unterstützung der von ihnen
kontrollierten Agenturen seit den 1970er Jahren
systematisch die Fähigkeit der armen Länder,
ihre eigene Bevölkerung zu ernähren
und sich vor Krisen wie dieser zu schützen,
unterhöhlt haben.
Haiti ist ein schlagendes und erschütterndes
Beispiel. Reis ist auf Haiti seit Jahrhunderten
gewachsen, und bis vor zwanzig Jahren produzierten
die haitianischen Bauern jedes Jahr 170 000
Tonnen, genug um 95 % des einheimischen Bedarfs
zu decken. Die Reisbauern erhielten keine Subventionen
der Regierung, aber wie in jedem anderen reisproduzierenden
Land jener Zeit war ihr Zugang zu den lokalen
Märkten durch Importzölle geschützt.
1995 verlangte der Weltwährungsfonds als
Bedingung für einen dringend benötigten
Kredit eine Senkung des Zolls für importierten
Reis von 35 % auf 3 %, dem niedrigsten Satz
der ganzen Karibik. Ergebnis war ein massiver
Zustrom von US-amerikanischem Reis, der für
die Hälfte des Preises für einheimischen
Reis verkauft wurde. Tausende von Reisbauern
verloren ihr Land und ihren Lebensunterhalt,
und heute kommen drei Viertel des in Haiti gegessenen
Reises aus den USA.6
Der US-Reis setzte sich durch, weil die Exporte
von der US-Regierung massiv subventioniert werden.
In 2003 erhielten Reisproduzenten in den USA
1,7 Milliarden Dollar an staatlichen Beihilfen,
das sind durchschnittlich 232 $ pro Hektar Anbaufläche.7
Das Geld, das zum größten Teil in
die Taschen einiger Großgrundbesitzer
und Agrokonzerne wanderte, erlaubte es den US-Exporteuren,
ihren Reis zu 30 % bis 50 % der realen Produktionskosten
zu verkaufen.
Kurz gesagt wurde Haiti gezwungen, den staatlichen
Schutz der eigenen Landwirtschaft aufzugeben,
und die USA nutzten dann ihre staatlichen Schutzprogramme,
um den Markt zu übernehmen.
Es gab viele Variationen dieses Musters, dass
die reichen Länder des Nordens den armen,
schuldengeschüttelten Ländern des
Südens eine „Liberalisierung“
aufzwingen, und dann die Liberalisierung nutzen,
um den Markt zu erobern. Staatliche Unterstützungenstehen
für 30 % der Landwirtschaftseinkünfte
in den dreißig reichsten Ländern,
insgesamt 280 Mrd. $ pro Jahr,8 ein unschlagbarer
Vorsprung auf einem „freien“ Markt,
dessen Regeln die Reichen bestimmen.
Außerdem verweigerten Weltbank und Weltwährungsfonds
jahrzehnte-lang armen Ländern Kredite,
wenn sie nicht Strukturanpassungs-programmen
(SAPs) zustimmten. Diese Programme forderten
von den Kreditnehmern, ihre Währungen abzuwerten,
Steuern zu senken, Unternehmen zu privatisieren
und die Unterstützungs-programme für
Bauern zu senken oder zu streichen.
All dies geschah mit dem Versprechen, dass der
Markt Wirtschafts-wachstum und Wohlstand schaffen
werde. Stattdessen wuchs die Armut und die Unterstützung
der Landwirtschaft verschwand.
“Investitionen in Programme zur Verbesserung
der Anbaubedingungen und zur Ausweitung versiegten
unter den SAPs in den meisten ländlichen
Gebieten Afrikas und verschwanden schließlich
völlig. Die Sorge um die Produktivität
der Kleinbauern wurde fallen gelassen. Nicht
nur wurden die Regierungsprogramme abgewickelt,
auch die ausländische Hilfe ging zurück.
Die Mittel der Weltbank für Landwirtschaft
gingen deutlich von 32 % der Gesamtkredite in
1976-78 auf 11,7 % in 1997-99 zurück.9
In den früheren Inflationswellen der Lebensmittelpreise
hatten die Armen oft zumindest begrenzten Zugang
zu selbsterzeugten Lebensmitteln oder zu solchen,
die lokal erzeugt und zu lokal festgesetzten
Preisen erhältlich waren. Heute ist das
in vielen Ländern in Asien, Afrika und
Lateinamerika nicht mehr möglich. Der Weltmarkt
bestimmt heute die lokalen Preise – und
oft müssen die einzig verfügbaren
Lebensmittel von weither importiert werden.
Nahrungsmittel sind nicht einfach eine Ware
wie andere –sie sind entscheidend für
das Überleben der Menschen. Das absolute
Minimum, das dieMenschheit von jedem Regierungsoder
Gesellschaftssystem erwarten kann, ist, dass
es versucht, Hunger zu verhindern – und
vor allem, dass es keine Politik begünstigt,
die hungrigen Menschen Lebensmittel verweigert.
Genau deshalb hatte der venezolanische Präsident
Hugo Chávez im April völlig recht,
als er die Lebensmittelkrise als „die
größte Demonstration des historischen
Scheiterns des kapitalistischen Modells“
bezeichnete.
WIE
DIE KRISE BEENDEN?
Um
das Problem des Welthungers wirklich anzugehen,
müssen wir das System, das ihn verursacht,
verstehen und schließlich ändern.
Unser Ausgangspunkt muss sein, dass es heute
keinen Mangel an Nahrungsmitteln in der Welt
gibt. Entgegen den Warnungen aus dem 18. Jahrhundert
von Thomas Malthus und seinen modernen NachfolgerInnen
zeigt eine Studie nach der anderen, dass die
Lebensmittelproduktion das Bevölkerungswachstum
überholt hat und dass es mehr Nahrung gibt,
als erforderlich ist, um alle zu ernähren.
Der UN-Organisation für Ernährung
und Landwirtschaft (FAO) zufolge werden in der
Welt genug Nahungs-mittel produziert, um jeden
Menschen mit mehr als 2800 [Kilo-] Kalorien
zu versorgen – deutlich mehr als das für
eine gute Gesundheit erforderliche Minimum und
18 % mehr Kalorien als in den 1960er Jahren,
trotz eines signifikanten Anstiegs der Gesamtbevölkerung.
10
Wissenschaftliche Forschung ist von entscheidender
Bedeutung für die Entwicklung der Landwirtschaft,
aber Initiativen, die als gegeben annehmen,
dass neue Saaten und Chemikalien erforderlich
seien, sind weder glaubwürdig noch wirklich
wissenschaftlich. Die Tatsache, dass es längst
genug Nahrungsmittel gibt, um die Welt zu ernähren,
zeigt, dass die Lebensmittelkrise kein technisches
Problem ist – sie ist ein soziales und
politisches Problem.
Die globale Lebensmittelindustrie ist nicht
darauf ausgerichtet, die Hung-rigen zu ernähren;
sie ist darauf ausgerichtet, Profite für
das Agrobusiness zu erwirtschaften. Dieses Ziel
erreichen die Agrobusiness-Giganten tatsächlich
sehr gut. In diesem Jahr übertreffen ihre
Pro- fite noch die des letzten Jahres, während
Hungernde von Haiti bis Ägypten auf die
Straßen gehen, um gegen steigende Lebensmittelpreise
zu protestieren.
Sechs Gesellschaften kontrollieren 85 % des
Welthandels von Getreide, drei kontrollieren
83 % beim Kakao und drei kontrollieren 80 %
des Bananenhandels. 11
ADM, Cargill und Bunge kontrollieren praktisch
das Weltgetreide, was bedeutet, dass sie allein
entscheiden, wie viel von der Jahresernte zu
Ethanol, Süßstoffen, Tierfutter oder
Nahrungsmitteln für Menschen wird.
Die Herausgeber von „Hungry for Profit“
[Hungern für den Profit] drücken
es so aus: „Die enorme Macht der Agrobusiness-
und Lebensmittel-konzerne erlaubt ihnen die
wirksame Kontrolle der Kosten ihrer Rohstoffe,
die sie den Bauern abkaufen, während sie
gleichzeitig die Preise der an die allgemeine
Öffentlichkeit verkauften Waren auf einem
Niveau halten, das hoch genug ist, um große
Profite zu sichern.”12
In den letzten drei Jahrzehnten haben die multinationalen
Agrobusiness- Gesellschaften eine völlige
Umgestaltung der weltweiten Landwirtschaft bewirkt.
Direkt durch ihre eigene Marktmacht und indirekt
über Regierungen und Weltbank, IWF und
Welthandelsorganisation haben sie die Art und
Weise verändert, wie Lebensmittel angebaut
und weltweit verteilt werden. Diese Veränderungen
hatten wunderbare Auswirkungen auf ihre Profite,
während sie gleichzeitig den weltweiten
Hunger verschlimmert und Lebensmittelkrisen
unvermeidlich gemacht haben.
BEDROHUNG
DER TRADITIONELLEN LANDWIRTSCHAFT
In den letzten drei Jahrzehnten sind die Länder
des Südens überzeugt, überre-det
oder gedrängt worden, eine neue Landwirtschaftspolitik
zu übernehmen, die auf den Anbau für
den Export statt auf Lebens-mittelproduktion
für den einheimischen Verbrauch gerichtet
ist. Diese Politik begünstigt industrielle
Landwirtschaft in großem Stil, die Ein-
Frucht-Anbau (Monokulturen), hohen Wasserverbrauch
und massiven Einsatz von Dünger und Pestiziden
erfordert. Mehr und mehr wird die von Dorfgemeinschaften
oder Familien betriebene traditionelle Landwirtschaft
von industrieller Landwirtschaft, die von und
für Agrobusiness-Unternehmen betrieben
wird, verdrängt.
Diese Umgestaltung ist das wichtigste Hindernis
für eine vernünftige Landwirtschaft,
die den Hunger besiegen könnte.
Der Vorrang für die Exportlandwirtschaft
hat zu dem absurden und tragischen Ergebnis
geführt, dass Millionen von Menschen in
Ländern hungern, die Nahrungsmittel exportieren.
In Indien beispielsweise leidet ein Fünftel
der Bevölkerung unter chronischem Hunger
und 48 % der Kinder unter fünf Jahren sind
unterernährt. Trotzdem exportierte Indien
2004 geschliffenen Reis im Wert von 1,5 Milliarden
Dollar und Weizen im Wert von 322 Millionen
Dollar.13
In anderen Ländern wachsen jetzt auf Landwirtschaftsflächen,
die bisher dem Anbau von Nahrungsmitteln für
den einheimischen Bedarf dienten, Genussmittel
für den Norden. Kolumbien, wo 13 % der
Bevölkerung unterernährt sind, exportiert
62 % aller in den USA verkauften Schnittblumen.
In den meisten Fällen hat die Umstellung
auf Exportlandwirtschaft zu Ergebnissen geführt,
die lächerlich wären, wenn die Folgen
nicht so verheerend wären. Kenia war bis
vor 25 Jahren Selbstversorger bei Nahrungsmitteln.
Heute importiert es seine Lebensmittel zu 80
% – während 80 % seiner Exporte andere
Landwirtschaftsprodukte sind.14
Die Wende zur industriellen Landwirtschaft hat
Millionen Menschen von ihrem Land vertrieben
und in Arbeitslosigkeit und Armut in den riesigenSlums
geführt, die heute viele der Städte
der Welt umgeben. Die Menschen, die das Land
am besten kennen, wurden von ihm getrennt; ihre
Farmen wurden in große Outdoor-Fabriken
verwandelt, die nur für den Export produzieren.
Im Gegensatz zu den Versprechungen des Agrobusiness
zeigen jüngste landwirtschaftliche Forschung
wie auch mehr als ein Jahrzehnt konkreter Erfahrung
in Kuba, dass kleine und mittlere Farmen, die
nachhaltige Methoden der Ökolandwirtschaft
einsetzen, viel produktiver und weit weniger
schädlich für die Umwelt sind als
große Industrielandwirtschaftsbetriebe.
15
KAMPF
FÜR ERNÄHRUNGSSOUVERÄNITÄT
Die
vom multinationalen Agrobusiness und seinen
Agenturen durchgesetzten Änderungen sind
nicht ohne Gegenwehr geblieben. Eine der wichtigsten
Entwicklungen der letzten 15 Jahre war das Entstehen
von „La Via Campesina“ [der bäuerliche
Weg]. In dieser Dach-organisation haben sich
mehr als 120 Kleinbauernorganisationen aus 56
Ländern zusammengeschlossen, von der Bewegung
der Landlosen in Brasilien (MST) bis zum Nationalen
Bauernverband in Kanada.
La Via Campesina entwickelte sein Programm ursprünglich
als Antwort auf den Welternährungsgipfel,
eine 1996 von der UN organisierte Konferenz
zum weltweiten Hunger, an der offizielle Vertreterinnen
und Vertreter aus 185 Ländern teilnahmen.
Die Anwesenden versprachen (ohne später
etwas dafür zu tun) die Auslöschung
von Hunger und Unterernährung durch Garantie
einer „nachhaltigen Ernährungssicherung
für alle Menschen.”16
Vor den Türen forderte La Via Campesina
die Ernährungssouveränität als
Alternative zur Ernährungssicherung. Zugang
zu Nahrungsmitteln allein ist nicht ausreichend,
sagten sie; nötig sind Zugang zu Land,
Wasser und Ressourcen, und die betroffenen Menschen
müssen das Recht haben, die Nahrungsmittelpolitik
zu kennen und über sie zu entscheiden.
Nahrung ist zu wichtig, als dass sie dem Weltmarktund
den Manipulationen des Agrobusiness überlassen
werden könnte. Dem Welthunger kann nur
durch Wiedererrichtung der kleinen und mittleren
Familienbetriebe als Kern der Lebensmittelproduktion
ein Ende gesetzt werden. 17
Zentrale Forderung der Bewegung für Ernährungssouveränität
ist, dass Nahrungsmittel in erster Linie als
Quelle der Ernährung der Gemeinden und
Länder, in denen sie wachsen, betrachtet
werden sollten. Im Gegensatz zu der Politik
von Freihandel und Agrarexport drängt sie
darauf, den Schwerpunkt auf einheimischen Verbrauch
und Nahrungsmittel-Selbstversorgung zu legen.
Entgegen der Behauptung von Kritikern ist Ernährungssouveränität
kein Aufruf zu ökonomischem Isolationismus
oder für die Rückkehr zu eine idealisierten
bäuerlichen Vergangenheit. Eher ist sie
ein Programm zur Verteidigung und Ausweitung
von Menschenrechten, für Bodenreform und
für den Schutz der Erde gegen kapitalistischen
Ökozid. Zusätzlich zum Aufruf zu Nahrungs-
Selbstversorgung und zur Stärkung der bäuerlichen
Familienbetriebe gehörten zu La Via Campesinas
ursprünglichem Aufruf für Ernährungssouveränität
folgende Forderungen:
- Garantierter
Zugang zu sicherer, nahrhafter und kulturell
angemessener Nahrung für alle in ausreichender
Quantität und Qualität, die ein
gesundes Leben in Würde erlaubt
- Den
landlosen und Landwirtschaft treibenden
Menschen – vor allem Frauen –
Besitz und Kontrolle über das Land,
das sie bearbeiten, und Rückgabe der
Territorien an die indigenen Völker
- Sicherung
der Pflege und Benutzung von Naturressourcen,
insbesondere Boden, Wasser und Saatgut.
- Schluss
mit der Abhängigkeit von chemischen
Betriebsmitteln, kommerziellen Monokulturen
(cash-crops) und industrialisierter Produktion
- Widerstand
gegen die Politik von WTO, Weltbank und
IWF, die multinationalen Konzernen die Kontrolleder
Landwirtschaft ermöglicht. Regulierung
und Besteuerung des Spekulationskapitals
und Durchsetzung eines strikten Verhaltenskodexes
für multinationale Konzerne.
-
Ende der Verwendung von Nahrung als Waffe.
Stopp der Vertreibung, erzwungenen Urbanisierung
und Unterdrückung von Bäuerinnen
und Bauern.
- Garantierte
direkte Beteiligung von Kleinbauern und
insbesondere Landfrauen an der Formulierung
der Landwirtschaftspolitik auf allen Ebenen.18
La
Via Campesinas Forderung nach Ernährungssouveränität
bildet ein machtvolles Agrarprogramm für
das 21. Jahrhundert. Gewerkschaften und linke
Bewegungen weltweit sollten sie und die Kampagnen
der arbeitenden Bauern/ Bäuerinnen für
Bodenreform und gegen Industrialisierung und
Globalisierung von Nahrung und Landwirtschaft
voll unterstützen.
AKTIONSPLAN
Wir
im globalen Norden können und müssen
fordern, dass unsere Regierungen alle Aktivitäten
stoppen, die die Landwirtschaft der Dritten
Welt schwächen oder schädigen.
Die Entwicklung industrieller Biotreibstoffe
sollte gestoppt werden, und die Landwirtschaft
muss sich mit höchster Priorität auf
die Produktion von Nahrung konzentrieren.19
Im April kündigte Kanada einen Sonderbeitrag
von 10 Mio. kanadischen Dollars als Nahrungsmittelhilfe
für Haiti an.20
Das ist positiv – aber in 2008 wird Haiti
das Fünffache an Zinsen auf seine 1,5 Mrd.
$ Auslandsschulden zahlen, wovon ein Großteil
während der imperialistisch gestützten
Duvalier-Diktatur aufgehäuft wurde.
Im Jahre 2005 betrug die gesamte Auslandsverschuldung
aller Länder der Dritten Welt 2,7 Billionen
Dollar, und ihr Schuldendienst belief sich in
dem Jahr auf 513 Mrd. $.21
Diesen Cash- Abfluss zu stoppen – sofort
und bedingungslos – würde wichtige
Ressourcen frei machen, um jetzt die Hungernden
zu ernähren und allmählich die einheimische
Landwirtschaft wieder aufzubauen.
Die den armen Ländern von Weltbank und
IWF übergestülpte regressive Ernährungspolitik
wird vom Landwirtschaftsabkommen (AoA) der Welthandelsorganisation
(WTO) kodifiziert und durchgesetzt. Das AoA
sollte aufgehoben werden, und die Drittweltländer
sollten das Recht haben, die von IWF, Weltbank
und WTO wie auch von bilateralen Freihandelsabkommen
wie NAFTA und CAFTA auferlegte Liberalisierungspolitik
einseitig zu kündigen.
Die derzeitigen Versuche der USA, die antiimperialistischen
Regierungen der ALBA-Gruppe – Venezuela,
Bolivien, Kuba, Nikaragua und Grenada –
zu destabilisieren und zu stürzen, setzen
eine lange Geschichte von Aktionen der Länder
des Nordens fort, Drittweltländer daran
zu hindern, Kontrolle über ihr eigenes
Schicksal zu erlangen. Im „Bauch der Bestie“
Widerstand gegen solche Interventionen zu organisieren,
ist ein wichtiger Beitrag im Kampf um die Ernährungssouveränität
überall in der Welt.
Die Lebensmittel- und Landwirtschaftkrise haben
ihre Wurzeln in einem irrationalen, unmenschlichen
System. Um die Welt zu ernähren, müssen
sich arbeitende Menschen in Stadt und Land die
Hand reichen, um das System hinwegzufegen.
Ian
Angus ist Redakteur der ökosozialistischen
Zeitschrift Climate and Capitalism. Der hier
vorliegende Artikel erschien in zwei Teilen
im April und Mai 2008 in der kanadischen Zeitschrift
Socialist Voice und wurde leicht gekürzt.
Übersetzung:
Björn Mertens
1
Kevin Pina. „Mud Cookie Economics in
Haiti.“ Haiti Action Network, Feb. 10,
2008. http://www.haitiaction.net/News/
HIP/2_10_8/2_10_8.html
2 Tony Karon. „How Hunger Could Topple
Regimes.“
Time, April 11, 2008. http://www.time.
com/time/world/article/0,8599,1730107,00.
html
3
„The New Face of Hunger.“ The Economist,
April 19, 2008.
4
Mark Lynas. „How the Rich Starved the
World.“ New Statesman, April 17, 2008.
http://
www.newstatesman.com/200804170025
5
Dale Allen Pfeiffer. Eating Fossil Fuels. New
Society Publishers, Gabriola Island BC, 2006.
p. 16 Oxfam International Briefing Paper, April
2005. „Kicking Down the Door.“ http://www.
oxfam.org/en/files/bp72_rice.pdf
7 ebd.
8
OECD Background Note: Agricultural Policy
and Trade Reform. http://www.oecd.org/dataoecd/
52/23/36896656.pdf
9 Kjell Havnevik, Deborah Bryceson, Lars-Erik
Birgegård, Prosper Matondi & Atakilte
Beyene.
„African Agriculture and the World Bank:
Development or Impoverishment?“ Links
International
Journal of Socialist Renewal,
http://www.links.org.au/node/328
10
Frederic Mousseau, Food Aid or Food Sovereignty?
Ending World Hunger in Our
Time. Oakland Institute, 2005. http://
www.oaklandinstitute.org/pdfs/fasr.pdf.
International Assessment of Agricultural
Knowledge, Science and Technology for Development.
Global Summary for Decision
Makers. http://www.agassessment.org/docs/
Global_SDM_210408_FINAL.pdf
11
Shawn Hattingh. „Liberalizing Food Trade
to
Death.“ MRzine, May 6, 2008. http://mrzine.
monthlyreview.org/hattingh060508.html
12 Fred Magdoff, John Bellamy Foster and Frederick
H. Buttel. Hungry for Profit: The Agribusiness
Threat to Farmers, Food, and the Environment.
Monthly Review Press, New York,
2000. p. 11
13
UN Food and Agriculture Organization. Key
Statistics Of Food And Agriculture External
Trade. http://www.fao.org/es/ess/toptrade/
trade.asp?lang=EN&dir=exp&country=100
14 J. Madeley. Hungry for Trade: How the poor
pay for free trade. Cited in Ibid
15
Jahi Campbell, „Shattering Myths: Can
sustainable
agriculture feed the world?“ and „
Editorial.
Lessons from the Green Revolution.“
Food First Institute. www.foodfirst.org
16
World Food Summit. http://www.fao.org/wfs/
index_en.htm
17
La Vía Campesina. „Food Sovereignty:
A Future
Without Hunger.“ (1996) http://www.voiceoftheturtle.
org/library/1996%20Declaration%
20of%20Food%20Sovereignty.pdf
18
sinngemäß und gekürzt zu finden
ebd.
19 La Vía Campesina. „A response
to the Global
Food Prices Crisis: Sustainable family farming
can feed the world.“ http://www.viacampesina.
org/main_en/index.php?option=com_content
&task=view&id=483&Itemid=38
20 Zum Vergleich: Dieses Jahr wird Canada 1
Mrd. Dollar für den Krieg in Afghanistan
und
dessen illegale Besetzung ausgeben.
21 Jubilee Debt Campaign. „The Basics
About
Debt.“ http://www.jubileedebtcampaign.org.
uk/?lid=98
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