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Lebensmittelkrise: Die größte Demonstration des historischen Scheiterns des kapitalistischen Modells

Ian Angus - aus Inprekorr Nr. 442/443 September/Oktober 2008


„Kann die Regierung die Lebensmittelpreise nicht senken, muss sie verschwinden. Wenn Polizei und UN-Truppen uns erschießen wollen, ist das OK, dann ist es wenigstens zu Ende; wenn wir nicht von Kugeln getötet werden, werden wir verhungern.“ – Ein Demonstrant in Port-au-Prince, Haiti.

In Haiti bekommen 22 % der Menschen weniger Kalorien als das gesundheitlich erforderliche Minimum; einige bekämpfen ihren stechenden Hunger, indem sie „Schlammkekse“ essen, eine Mischung aus Lehm und Wasser mit etwas Pflanzenöl und Salz.1

Gleichzeitig zahlt die kanadische Bundesregierung in einer Massenkeulung von Zuchtschweinen 225 $ für jedes getötete Schwein als Teil eines Plans zur Begrenzung der Schweinefleischproduktion. Die von niedrigen Schlachtpreisen und hohen Futtermittelkosten bedrängten Schweinezüchter haben auf das Programm so enthusiastisch reagiert, dass die bereitgestellten Mittel schon vor Ende der Laufzeit im September aufgebraucht sein werden.

Einige der getöteten Schweine werden vielleicht an örtliche Lebensmitteltafeln gehen, aber die meisten wird man vernichten oder zu Tierfutter verarbeiten. Nichts wird nach Haiti gehen.

REKORDPREISE FÜR GRUNDNAHRUNGSMITTEL

Das ist die brutale Welt der kapitalistischen Landwirtschaft – einer Welt, in der einige Lebensmittel vernichten, weil die Preise zu niedrig sind, und andere hungern, weil die Nahrungsmittelpreise zu hoch sind.

Wir erleben eine beispiellose Inflation der Lebensmittelpreise; die Preise haben eine seit Jahrzehnten nicht dagewesene Höhe erreicht. Die Preissteigerungen betreffen alle Arten von Lebensmitteln, besonders aber die wichtigsten Grundnahrungsmittel: Weizen, Mais und Reis. Die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO sagt, dass zwischen März 2007 und März 2008 die Preise für Getreide um 88 %, für Öle und Fette um 106 % und für Milchprodukte um 48 % gestiegen sind. Der FAO-Nahrungsmittelpreisindex als Ganzes stieg um 57 % in einem Jahr – und der größte Teil des Anstiegs ereignete sich in den letzten Monaten.

Eine andere Quelle, die Weltbank, sagt, dass die Weizenpreise in den 36 Monaten bis Februar 2008 weltweit um 181 % gestiegen sind und die Lebensmittelpreise insgesamt um weltweit 83 %. Die Experten der Bank erwarten, dass die meisten Lebensmittelpreise bis mindestens 2015 deutlich über dem Niveau von 2004 bleiben werden. Die beliebteste Sorte thailändischen Reises wurde vor fünf Jahren für 198 $ verkauft und vor einem Jahr für 323 $. Am 24. April durchbrach der Preis die 1000 $-Grenze.

Die Steigerungen auf den örtlichen Märkten sind noch größer. Auf Haiti verdoppelte sich der Preis für einen Sack Reis Ende März in nur einer Woche. Diese Steigerungen sind katastrophal für die 2,6 Milliarden Menschen in der Welt, die von weniger als 2 $ am Tag leben müssen und 60 % bis 80 % ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben. Hunderte von Millionen haben nicht mehr genug zum Essen. Jetzt schlagen die Hungernden zurück.

AUF DIE STRASSE

Auf Haiti bauten Demonstranten am 3. April in Les Cayes, einer Stadt im Süden, Barrikaden, stoppten Reis transportierende LKWs und verteilten die Nahrungsmittel. Dann versuchten sie, das Lager der UN nieder-zubrennen. Die Proteste weiteten sich schnell auf die Hauptstadt Port-au-Prince aus, wo Tausende zum Präsidentenpalast zogen und „Wir haben Hunger“ riefen.

Präsident René Préval, der zunächst gesagt hatte, da könne man nichts machen, kündigte eine Kürzung der Großhandelspreise für Reis um 16 % an. Dies war im besten Falle eine Überbrückungsmaßnahme, da die Senkung nur für einen Monat galt und Einzelhändler nicht verpflichtet waren, sie weiterzugeben.

Parallel zu den Aktionen auf Haiti gab es ähnliche Proteste hungriger Menschen in mehr als zwanzig anderen Ländern. In Burkina Faso forderte ein zweitägiger Generalstreik von Gewerkschaften und Ladenbesitzern „bedeutende und wirksame“ Preissenkungen für Reis und andere Grundnahrungsmittel.

In Bangladesh traten über 20 000 Arbeiterinnen und Arbeiter aus den Textilfabriken von Fatullah in den Streik, um niedrigere Preise und höhere Löhne zu fordern.

Die ägyptische Regierung schickte Tausende von Soldaten in den Textilkomplex Mahallah im Nildelta, um einen Generalstreik für höhere Löhne, eine unabhängige Gewerkschaft und niedrigere Preise zu verhindern. Zwei Menschen wurden getötet und über 600 verhaftet.

In Abidjan (Elfenbeinküste – Côte d’Ivoire) setzte die Polizei Tränengas gegen Frauen ein, die Barrikaden errichtet, Reifen angezündet und Hauptstraßen blockiert hatten. Tausende zogen zur Präsidentenvilla und riefen: „Wir sind hungrig“ und „Das Leben ist zu teuer, ihr bringt uns um“.

In Pakistan und Thailand rückten bewaffnete Soldaten aus, um die Armen daran zu hindern, sich Lebensmittel von den Feldern und aus Warenhäusern zu holen.

Ähnliche Proteste fanden in Kamerun, Äthiopien, Honduras, Indonesien, Madagaskar, Mauretanien, Niger, Peru, auf den Philippinen, in Senegal, Thailand, Usbekistan und Sambia statt. Im April berichtete der Weltbankpräsident auf einem Treffen in Washington, dass es 33 Länder gebe, in denen die Preissprünge zu sozialen Unruhen führen könnten. Ein leitender Redakteur des Nachrichtenmagazins Time warnte: „Der Gedanke, dass die hungernden Massen von ihrer Verzweiflung getrieben die Straßen erobern und die alten Regime stürzen könnten, schien lange völlig unmöglich, hatte der Kapitalismus im Kalten Krieg doch so durchgreifend gesiegt … Und doch lassen die Schlagzeilen des vergangenen Monats vermuten, dass die in den Himmel schießenden Preise die Stabilität einer wachsenden Zahl von Regierungen überall in der Welt bedrohen … wenn die Umstände es unmöglich machen, die hungernden Kinder zu ernähren, können normalerweise passive Menschen schnell zu militanten KämpferInnen werden, die nichts zu verlieren haben.”2

Aber es ist klar, dass die globale Klimakrise bereits begonnen hat und die Lebensmittel schon heute betroffen sind.

WAS TREIBT DIE LEBENSMITTELINFLATION?

Seit den 1970er Jahren hat sich die Lebensmittelproduktion zunehmend globalisiert und konzentriert. Eine Handvoll von Ländern beherrscht den Handel mit Grundnahrungsmitteln. Sechs Exporteure liefern 80 % des Weizens und 85 % des Reises. Drei Länder exportieren 70 % des exportierten Maises. Das überlässt die ärmsten Länder der Welt, die zum Überleben Nahrungsmittel importieren müssen, der Gnade ökonomischer Trends und politischer Konjunkturen in diesen wenigen Exportländern. Wenn der weltweite Lebensmittelhandel seine Lieferungen einstellt, müssen die Armen den Preis bezahlen.

Mehrere Jahre lang trieb der Weltmarkt für Grundnahrungsmittel auf eine Krise zu. Vier miteinander verbundene Trends haben das Produktionswachstum gebremst und die Preise in die Höhe getrieben: das Ende der „grünen Revolution“, der Klimawandel, die Biospritproduktion und der Anstieg der Erdölpreise.

DAS ENDE DER „GRÜNEN REVOLUTION”

Um der bäuerlichen Unzufriedenheit in Süd- und Südostasien zu begegnen, pumpten die USA in den 1960er und 1970er Jahren Geld und technische Unterstützung in die landwirtschaftliche Entwicklung Indiens und anderer Länder. Die „grüne Revolution“ – neues Saatgut, Düngemittel, Pestizide, landwirtschaftliche Technik und Infrastruktur – führte zu einem spektakulären Anstieg der Lebensmittelproduktion, besonders bei Reis. Der Anstieg der Hektarerträge hielt bis in die 1990er Jahre an.

Heute ist es für Regierungen nicht mehr modern, armen Menschen beim Anbau von Nahrungsmitteln für andere arme Menschen zu helfen, weil man ja annimmt, dass „der Markt“ alle Probleme löst. The Economist berichtet, dass „der Anteil der Ausgaben für Landwirtschaft an den gesamten öffentlichen Ausgaben in den Entwicklungsländern zwischen 1980 und 2004 um die Hälfte gefallen ist.”3 Forschungs- und Entwicklungsgelder sowie Unterstützungen sind versiegt, und das Produktionswachstum wurde abgewürgt.

Ergebnis war, dass die Welt in sieben der acht letzten Jahre mehr Getreide verbraucht als produziert hat, was bedeutet, dass der Reis aus den Lagern verschwindet, die Regierungen und Händler sich normalerweise als Versicherung gegen Missernten aufbauen. Die Weltgetreidevorräte sind jetzt auf dem tiefsten Punkt aller Zeiten, was wenig Spielraum für schlechte Zeiten lässt.

KLIMAWANDEL

WissenschaftlerInnen befürchten, dass der Klimawandel die Nahrungsmittelproduktion in Teilen der Welt in den nächsten 12 Jahren um die Hälfte reduzieren könnte. Aber es ist klar, dass die globale Klimakrise bereits begonnen hat und die Lebensmittel schon heute betroffen sind. Australien beispielsweise ist normalerweise der zweitgrößte Getreideexporteur der Welt, aber eine schwere mehrjährige Dürre hat die Weizenernte um mehr als 60 % reduziert und die Reisproduktion wurde völlig vernichtet. In Bangladesh hat im November 2007 einer der seit Jahrzehnten stärksten Zyklone Millionen Tonnen von Reis vernichtet und die Weizenernte schwer geschädigt, was das große Land noch abhängiger von Nahrungsmittelimporten gemacht hat.

BIOSPRIT

Es ist jetzt offizielle Politik in den USA, Kanada und Europa, Nahrungsmittel in Treibstoff umzuwandeln. Die von US-Fahrzeugen verbrannte Menge an Mais würde ausreichen, um den gesamten Importbedarf der 82 ärmsten Länder zu decken.4

Ethanol und Biosprit werden stark subventioniert, was bedeutet, dass landwirtschaftliche Produkte wie Mais unweigerlich der Nahrungskette entzogen und in Treibstofftanks umgeleitet werden und dass Landwirtschaftsinvestitionen weltweit zu Palmen, Soja, CANOLA und anderen ölproduzierenden Pflanzen gelenkt werden. Die Nachfrage nach Biosprit treibt die Preise dieser Anbauprodukte direkt und steigert die Preise anderer Getreide, indem sie Produzenten ermutigt, zu Biosprit zu wechseln.

Wie kanadische Schweinezüchter feststellen mussten, steigen auch die Kosten der Fleischproduktion, da Mais der wichtigste Bestandteil nordamerikanischen Tierfutters ist.

ÖLPREISE

Die Nahrungsmittelpreise sind mit dem Ölpreis verbunden, da Lebensmittel in einen Ersatz für Öl verwandelt werden können. Aber der Anstieg der Ölpreisebeeinflusst auch die Kosten der Produktion von Lebensmitteln. Düngemittel und Pestizide werden aus Erdöl und Erdgas hergestellt. Benzin und Diesel werden bei Anbau, Ernte und Transport verwendet.5

Es wird geschätzt, dass die Kosten der Maisproduktion zu 80 % von fossilen Brennstoffen verursacht werden, so dass es kein Zufall ist, dass die Lebensmittelpreise steigen, wenn der Ölpreis steigt.

Ende 2007 führten verringerte Investitionen in der Landwirtschaft der Dritten Welt, steigende Ölpreise und der Klimawandel dazu, dass sich das Produktionswachstum verringerte und die Preise stiegen. Gute Ernten und starkes Exportwachstum hätten die Krise vielleicht abfangen können – doch genau das geschah nicht. Auslöser war der Reis, Grundnahrungsmittel für drei Milliarden Menschen.

Anfang dieses Jahres kündigte Indien an, dass es den Großteil seiner Reisexporte aussetzen werde, um seine Reserven wieder aufzufüllen. Einige Wochen später kündigte Vietnam, dessen Reisproduktion von einem größeren Insektenbefall während der Ernte betroffen war, einen 4-monatigen Ausfuhrstopp an, um sicherzustellen, dass genug für den Binnenmarkt vorhanden wäre.

Indien und Vietnam stehen normalerweise für 30 % aller Reisexporte weltweit, so dass deren Ankündigungen ausreichten, den ohnehin schon engen Weltreismarkt umkippen zu lassen. Reiskäufer begannen sofort, alle noch verfügbaren Vorräte aufzukaufen und in der Erwartung künftiger Preissteigerungen jedes noch zu findende Reiskorn einzulagern und sich bei den Preisen künftiger Ernten gegenseitig zu überbieten. Die Preise schossen in die Höhe. Mitte April berichteten die Nachrichten von „Panikkäufen“ von Reis-Futures an der Börse von Chicago und dass der Reis selbst in den Supermärkten der USA und Kanadas knapp werde.

WARUM DIE REBELLION?

Preissteigerungen bei Lebensmitteln hat es auch früher gegeben. Tatsächlich waren, wenn wir die Inflation mitberücksichtigen, die Preise für Grundnahrungsmittel in den 1970er Jahren höher, als sie es heute sind. Warum hat nun dieser Preisschub Massenproteste weltweit ausgelöst?

Die Antwort ist, dass die reichsten Länder der Welt mit Unterstützung der von ihnen kontrollierten Agenturen seit den 1970er Jahren systematisch die Fähigkeit der armen Länder, ihre eigene Bevölkerung zu ernähren und sich vor Krisen wie dieser zu schützen, unterhöhlt haben.

Haiti ist ein schlagendes und erschütterndes Beispiel. Reis ist auf Haiti seit Jahrhunderten gewachsen, und bis vor zwanzig Jahren produzierten die haitianischen Bauern jedes Jahr 170 000 Tonnen, genug um 95 % des einheimischen Bedarfs zu decken. Die Reisbauern erhielten keine Subventionen der Regierung, aber wie in jedem anderen reisproduzierenden Land jener Zeit war ihr Zugang zu den lokalen Märkten durch Importzölle geschützt.

1995 verlangte der Weltwährungsfonds als Bedingung für einen dringend benötigten Kredit eine Senkung des Zolls für importierten Reis von 35 % auf 3 %, dem niedrigsten Satz der ganzen Karibik. Ergebnis war ein massiver Zustrom von US-amerikanischem Reis, der für die Hälfte des Preises für einheimischen Reis verkauft wurde. Tausende von Reisbauern verloren ihr Land und ihren Lebensunterhalt, und heute kommen drei Viertel des in Haiti gegessenen Reises aus den USA.6

Der US-Reis setzte sich durch, weil die Exporte von der US-Regierung massiv subventioniert werden. In 2003 erhielten Reisproduzenten in den USA 1,7 Milliarden Dollar an staatlichen Beihilfen, das sind durchschnittlich 232 $ pro Hektar Anbaufläche.7 Das Geld, das zum größten Teil in die Taschen einiger Großgrundbesitzer und Agrokonzerne wanderte, erlaubte es den US-Exporteuren, ihren Reis zu 30 % bis 50 % der realen Produktionskosten zu verkaufen.

Kurz gesagt wurde Haiti gezwungen, den staatlichen Schutz der eigenen Landwirtschaft aufzugeben, und die USA nutzten dann ihre staatlichen Schutzprogramme, um den Markt zu übernehmen.

Es gab viele Variationen dieses Musters, dass die reichen Länder des Nordens den armen, schuldengeschüttelten Ländern des Südens eine „Liberalisierung“ aufzwingen, und dann die Liberalisierung nutzen, um den Markt zu erobern. Staatliche Unterstützungenstehen für 30 % der Landwirtschaftseinkünfte in den dreißig reichsten Ländern, insgesamt 280 Mrd. $ pro Jahr,8 ein unschlagbarer Vorsprung auf einem „freien“ Markt, dessen Regeln die Reichen bestimmen.

Außerdem verweigerten Weltbank und Weltwährungsfonds jahrzehnte-lang armen Ländern Kredite, wenn sie nicht Strukturanpassungs-programmen (SAPs) zustimmten. Diese Programme forderten von den Kreditnehmern, ihre Währungen abzuwerten, Steuern zu senken, Unternehmen zu privatisieren und die Unterstützungs-programme für Bauern zu senken oder zu streichen.

All dies geschah mit dem Versprechen, dass der Markt Wirtschafts-wachstum und Wohlstand schaffen werde. Stattdessen wuchs die Armut und die Unterstützung der Landwirtschaft verschwand.

“Investitionen in Programme zur Verbesserung der Anbaubedingungen und zur Ausweitung versiegten unter den SAPs in den meisten ländlichen Gebieten Afrikas und verschwanden schließlich völlig. Die Sorge um die Produktivität der Kleinbauern wurde fallen gelassen. Nicht nur wurden die Regierungsprogramme abgewickelt, auch die ausländische Hilfe ging zurück. Die Mittel der Weltbank für Landwirtschaft gingen deutlich von 32 % der Gesamtkredite in 1976-78 auf 11,7 % in 1997-99 zurück.9

In den früheren Inflationswellen der Lebensmittelpreise hatten die Armen oft zumindest begrenzten Zugang zu selbsterzeugten Lebensmitteln oder zu solchen, die lokal erzeugt und zu lokal festgesetzten Preisen erhältlich waren. Heute ist das in vielen Ländern in Asien, Afrika und Lateinamerika nicht mehr möglich. Der Weltmarkt bestimmt heute die lokalen Preise – und oft müssen die einzig verfügbaren Lebensmittel von weither importiert werden.

Nahrungsmittel sind nicht einfach eine Ware wie andere –sie sind entscheidend für das Überleben der Menschen. Das absolute Minimum, das dieMenschheit von jedem Regierungsoder Gesellschaftssystem erwarten kann, ist, dass es versucht, Hunger zu verhindern – und vor allem, dass es keine Politik begünstigt, die hungrigen Menschen Lebensmittel verweigert. Genau deshalb hatte der venezolanische Präsident Hugo Chávez im April völlig recht, als er die Lebensmittelkrise als „die größte Demonstration des historischen Scheiterns des kapitalistischen Modells“ bezeichnete.

WIE DIE KRISE BEENDEN?

Um das Problem des Welthungers wirklich anzugehen, müssen wir das System, das ihn verursacht, verstehen und schließlich ändern. Unser Ausgangspunkt muss sein, dass es heute keinen Mangel an Nahrungsmitteln in der Welt gibt. Entgegen den Warnungen aus dem 18. Jahrhundert von Thomas Malthus und seinen modernen NachfolgerInnen zeigt eine Studie nach der anderen, dass die Lebensmittelproduktion das Bevölkerungswachstum überholt hat und dass es mehr Nahrung gibt, als erforderlich ist, um alle zu ernähren. Der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) zufolge werden in der Welt genug Nahungs-mittel produziert, um jeden Menschen mit mehr als 2800 [Kilo-] Kalorien zu versorgen – deutlich mehr als das für eine gute Gesundheit erforderliche Minimum und 18 % mehr Kalorien als in den 1960er Jahren, trotz eines signifikanten Anstiegs der Gesamtbevölkerung. 10

Wissenschaftliche Forschung ist von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Landwirtschaft, aber Initiativen, die als gegeben annehmen, dass neue Saaten und Chemikalien erforderlich seien, sind weder glaubwürdig noch wirklich wissenschaftlich. Die Tatsache, dass es längst genug Nahrungsmittel gibt, um die Welt zu ernähren, zeigt, dass die Lebensmittelkrise kein technisches Problem ist – sie ist ein soziales und politisches Problem.

Die globale Lebensmittelindustrie ist nicht darauf ausgerichtet, die Hung-rigen zu ernähren; sie ist darauf ausgerichtet, Profite für das Agrobusiness zu erwirtschaften. Dieses Ziel erreichen die Agrobusiness-Giganten tatsächlich sehr gut. In diesem Jahr übertreffen ihre Pro- fite noch die des letzten Jahres, während Hungernde von Haiti bis Ägypten auf die Straßen gehen, um gegen steigende Lebensmittelpreise zu protestieren.

Sechs Gesellschaften kontrollieren 85 % des Welthandels von Getreide, drei kontrollieren 83 % beim Kakao und drei kontrollieren 80 % des Bananenhandels. 11 ADM, Cargill und Bunge kontrollieren praktisch das Weltgetreide, was bedeutet, dass sie allein entscheiden, wie viel von der Jahresernte zu Ethanol, Süßstoffen, Tierfutter oder Nahrungsmitteln für Menschen wird.

Die Herausgeber von „Hungry for Profit“ [Hungern für den Profit] drücken es so aus: „Die enorme Macht der Agrobusiness- und Lebensmittel-konzerne erlaubt ihnen die wirksame Kontrolle der Kosten ihrer Rohstoffe, die sie den Bauern abkaufen, während sie gleichzeitig die Preise der an die allgemeine Öffentlichkeit verkauften Waren auf einem Niveau halten, das hoch genug ist, um große Profite zu sichern.”12

In den letzten drei Jahrzehnten haben die multinationalen Agrobusiness- Gesellschaften eine völlige Umgestaltung der weltweiten Landwirtschaft bewirkt. Direkt durch ihre eigene Marktmacht und indirekt über Regierungen und Weltbank, IWF und Welthandelsorganisation haben sie die Art und Weise verändert, wie Lebensmittel angebaut und weltweit verteilt werden. Diese Veränderungen hatten wunderbare Auswirkungen auf ihre Profite, während sie gleichzeitig den weltweiten Hunger verschlimmert und Lebensmittelkrisen unvermeidlich gemacht haben.

BEDROHUNG DER TRADITIONELLEN LANDWIRTSCHAFT

In den letzten drei Jahrzehnten sind die Länder des Südens überzeugt, überre-det oder gedrängt worden, eine neue Landwirtschaftspolitik zu übernehmen, die auf den Anbau für den Export statt auf Lebens-mittelproduktion für den einheimischen Verbrauch gerichtet ist. Diese Politik begünstigt industrielle Landwirtschaft in großem Stil, die Ein- Frucht-Anbau (Monokulturen), hohen Wasserverbrauch und massiven Einsatz von Dünger und Pestiziden erfordert. Mehr und mehr wird die von Dorfgemeinschaften oder Familien betriebene traditionelle Landwirtschaft von industrieller Landwirtschaft, die von und für Agrobusiness-Unternehmen betrieben wird, verdrängt.

Diese Umgestaltung ist das wichtigste Hindernis für eine vernünftige Landwirtschaft, die den Hunger besiegen könnte.

Der Vorrang für die Exportlandwirtschaft hat zu dem absurden und tragischen Ergebnis geführt, dass Millionen von Menschen in Ländern hungern, die Nahrungsmittel exportieren. In Indien beispielsweise leidet ein Fünftel der Bevölkerung unter chronischem Hunger und 48 % der Kinder unter fünf Jahren sind unterernährt. Trotzdem exportierte Indien 2004 geschliffenen Reis im Wert von 1,5 Milliarden Dollar und Weizen im Wert von 322 Millionen Dollar.13

In anderen Ländern wachsen jetzt auf Landwirtschaftsflächen, die bisher dem Anbau von Nahrungsmitteln für den einheimischen Bedarf dienten, Genussmittel für den Norden. Kolumbien, wo 13 % der Bevölkerung unterernährt sind, exportiert 62 % aller in den USA verkauften Schnittblumen. In den meisten Fällen hat die Umstellung auf Exportlandwirtschaft zu Ergebnissen geführt, die lächerlich wären, wenn die Folgen nicht so verheerend wären. Kenia war bis vor 25 Jahren Selbstversorger bei Nahrungsmitteln. Heute importiert es seine Lebensmittel zu 80 % – während 80 % seiner Exporte andere Landwirtschaftsprodukte sind.14

Die Wende zur industriellen Landwirtschaft hat Millionen Menschen von ihrem Land vertrieben und in Arbeitslosigkeit und Armut in den riesigenSlums geführt, die heute viele der Städte der Welt umgeben. Die Menschen, die das Land am besten kennen, wurden von ihm getrennt; ihre Farmen wurden in große Outdoor-Fabriken verwandelt, die nur für den Export produzieren.

Im Gegensatz zu den Versprechungen des Agrobusiness zeigen jüngste landwirtschaftliche Forschung wie auch mehr als ein Jahrzehnt konkreter Erfahrung in Kuba, dass kleine und mittlere Farmen, die nachhaltige Methoden der Ökolandwirtschaft einsetzen, viel produktiver und weit weniger schädlich für die Umwelt sind als große Industrielandwirtschaftsbetriebe. 15

KAMPF FÜR ERNÄHRUNGSSOUVERÄNITÄT

Die vom multinationalen Agrobusiness und seinen Agenturen durchgesetzten Änderungen sind nicht ohne Gegenwehr geblieben. Eine der wichtigsten Entwicklungen der letzten 15 Jahre war das Entstehen von „La Via Campesina“ [der bäuerliche Weg]. In dieser Dach-organisation haben sich mehr als 120 Kleinbauernorganisationen aus 56 Ländern zusammengeschlossen, von der Bewegung der Landlosen in Brasilien (MST) bis zum Nationalen Bauernverband in Kanada.

La Via Campesina entwickelte sein Programm ursprünglich als Antwort auf den Welternährungsgipfel, eine 1996 von der UN organisierte Konferenz zum weltweiten Hunger, an der offizielle Vertreterinnen und Vertreter aus 185 Ländern teilnahmen. Die Anwesenden versprachen (ohne später etwas dafür zu tun) die Auslöschung von Hunger und Unterernährung durch Garantie einer „nachhaltigen Ernährungssicherung für alle Menschen.”16

Vor den Türen forderte La Via Campesina die Ernährungssouveränität als Alternative zur Ernährungssicherung. Zugang zu Nahrungsmitteln allein ist nicht ausreichend, sagten sie; nötig sind Zugang zu Land, Wasser und Ressourcen, und die betroffenen Menschen müssen das Recht haben, die Nahrungsmittelpolitik zu kennen und über sie zu entscheiden. Nahrung ist zu wichtig, als dass sie dem Weltmarktund den Manipulationen des Agrobusiness überlassen werden könnte. Dem Welthunger kann nur durch Wiedererrichtung der kleinen und mittleren Familienbetriebe als Kern der Lebensmittelproduktion ein Ende gesetzt werden. 17

Zentrale Forderung der Bewegung für Ernährungssouveränität ist, dass Nahrungsmittel in erster Linie als Quelle der Ernährung der Gemeinden und Länder, in denen sie wachsen, betrachtet werden sollten. Im Gegensatz zu der Politik von Freihandel und Agrarexport drängt sie darauf, den Schwerpunkt auf einheimischen Verbrauch und Nahrungsmittel-Selbstversorgung zu legen.

Entgegen der Behauptung von Kritikern ist Ernährungssouveränität kein Aufruf zu ökonomischem Isolationismus oder für die Rückkehr zu eine idealisierten bäuerlichen Vergangenheit. Eher ist sie ein Programm zur Verteidigung und Ausweitung von Menschenrechten, für Bodenreform und für den Schutz der Erde gegen kapitalistischen Ökozid. Zusätzlich zum Aufruf zu Nahrungs- Selbstversorgung und zur Stärkung der bäuerlichen Familienbetriebe gehörten zu La Via Campesinas ursprünglichem Aufruf für Ernährungssouveränität folgende Forderungen:

  • Garantierter Zugang zu sicherer, nahrhafter und kulturell angemessener Nahrung für alle in ausreichender Quantität und Qualität, die ein gesundes Leben in Würde erlaubt
  • Den landlosen und Landwirtschaft treibenden Menschen – vor allem Frauen – Besitz und Kontrolle über das Land, das sie bearbeiten, und Rückgabe der Territorien an die indigenen Völker
  • Sicherung der Pflege und Benutzung von Naturressourcen, insbesondere Boden, Wasser und Saatgut.
  • Schluss mit der Abhängigkeit von chemischen Betriebsmitteln, kommerziellen Monokulturen (cash-crops) und industrialisierter Produktion
  • Widerstand gegen die Politik von WTO, Weltbank und IWF, die multinationalen Konzernen die Kontrolleder Landwirtschaft ermöglicht. Regulierung und Besteuerung des Spekulationskapitals und Durchsetzung eines strikten Verhaltenskodexes für multinationale Konzerne.
  • Ende der Verwendung von Nahrung als Waffe. Stopp der Vertreibung, erzwungenen Urbanisierung und Unterdrückung von Bäuerinnen und Bauern.
  • Garantierte direkte Beteiligung von Kleinbauern und insbesondere Landfrauen an der Formulierung der Landwirtschaftspolitik auf allen Ebenen.18

La Via Campesinas Forderung nach Ernährungssouveränität bildet ein machtvolles Agrarprogramm für das 21. Jahrhundert. Gewerkschaften und linke Bewegungen weltweit sollten sie und die Kampagnen der arbeitenden Bauern/ Bäuerinnen für Bodenreform und gegen Industrialisierung und Globalisierung von Nahrung und Landwirtschaft voll unterstützen.

AKTIONSPLAN

Wir im globalen Norden können und müssen fordern, dass unsere Regierungen alle Aktivitäten stoppen, die die Landwirtschaft der Dritten Welt schwächen oder schädigen.

Die Entwicklung industrieller Biotreibstoffe sollte gestoppt werden, und die Landwirtschaft muss sich mit höchster Priorität auf die Produktion von Nahrung konzentrieren.19

Im April kündigte Kanada einen Sonderbeitrag von 10 Mio. kanadischen Dollars als Nahrungsmittelhilfe für Haiti an.20 Das ist positiv – aber in 2008 wird Haiti das Fünffache an Zinsen auf seine 1,5 Mrd. $ Auslandsschulden zahlen, wovon ein Großteil während der imperialistisch gestützten Duvalier-Diktatur aufgehäuft wurde.

Im Jahre 2005 betrug die gesamte Auslandsverschuldung aller Länder der Dritten Welt 2,7 Billionen Dollar, und ihr Schuldendienst belief sich in dem Jahr auf 513 Mrd. $.21 Diesen Cash- Abfluss zu stoppen – sofort und bedingungslos – würde wichtige Ressourcen frei machen, um jetzt die Hungernden zu ernähren und allmählich die einheimische Landwirtschaft wieder aufzubauen.

Die den armen Ländern von Weltbank und IWF übergestülpte regressive Ernährungspolitik wird vom Landwirtschaftsabkommen (AoA) der Welthandelsorganisation (WTO) kodifiziert und durchgesetzt. Das AoA sollte aufgehoben werden, und die Drittweltländer sollten das Recht haben, die von IWF, Weltbank und WTO wie auch von bilateralen Freihandelsabkommen wie NAFTA und CAFTA auferlegte Liberalisierungspolitik einseitig zu kündigen.

Die derzeitigen Versuche der USA, die antiimperialistischen Regierungen der ALBA-Gruppe – Venezuela, Bolivien, Kuba, Nikaragua und Grenada – zu destabilisieren und zu stürzen, setzen eine lange Geschichte von Aktionen der Länder des Nordens fort, Drittweltländer daran zu hindern, Kontrolle über ihr eigenes Schicksal zu erlangen. Im „Bauch der Bestie“ Widerstand gegen solche Interventionen zu organisieren, ist ein wichtiger Beitrag im Kampf um die Ernährungssouveränität überall in der Welt.

Die Lebensmittel- und Landwirtschaftkrise haben ihre Wurzeln in einem irrationalen, unmenschlichen System. Um die Welt zu ernähren, müssen sich arbeitende Menschen in Stadt und Land die Hand reichen, um das System hinwegzufegen.

Ian Angus ist Redakteur der ökosozialistischen Zeitschrift Climate and Capitalism. Der hier vorliegende Artikel erschien in zwei Teilen im April und Mai 2008 in der kanadischen Zeitschrift Socialist Voice und wurde leicht gekürzt.

Übersetzung: Björn Mertens

1 Kevin Pina. „Mud Cookie Economics in
Haiti.“ Haiti Action Network, Feb. 10,
2008. http://www.haitiaction.net/News/
HIP/2_10_8/2_10_8.html

2 Tony Karon. „How Hunger Could Topple Regimes.“
Time, April 11, 2008. http://www.time.
com/time/world/article/0,8599,1730107,00.
html

3 „The New Face of Hunger.“ The Economist,
April 19, 2008.

4 Mark Lynas. „How the Rich Starved the
World.“ New Statesman, April 17, 2008. http://
www.newstatesman.com/200804170025

5 Dale Allen Pfeiffer. Eating Fossil Fuels. New
Society Publishers, Gabriola Island BC, 2006.
p. 16 Oxfam International Briefing Paper, April
2005. „Kicking Down the Door.“ http://www.
oxfam.org/en/files/bp72_rice.pdf

7 ebd.

8 OECD Background Note: Agricultural Policy
and Trade Reform. http://www.oecd.org/dataoecd/
52/23/36896656.pdf

9 Kjell Havnevik, Deborah Bryceson, Lars-Erik
Birgegård, Prosper Matondi & Atakilte Beyene.
„African Agriculture and the World Bank:
Development or Impoverishment?“ Links International
Journal of Socialist Renewal,
http://www.links.org.au/node/328

10 Frederic Mousseau, Food Aid or Food Sovereignty?
Ending World Hunger in Our
Time. Oakland Institute, 2005. http://
www.oaklandinstitute.org/pdfs/fasr.pdf.
International Assessment of Agricultural
Knowledge, Science and Technology for Development.
Global Summary for Decision
Makers. http://www.agassessment.org/docs/
Global_SDM_210408_FINAL.pdf

11 Shawn Hattingh. „Liberalizing Food Trade to
Death.“ MRzine, May 6, 2008. http://mrzine.
monthlyreview.org/hattingh060508.html

12 Fred Magdoff, John Bellamy Foster and Frederick
H. Buttel. Hungry for Profit: The Agribusiness
Threat to Farmers, Food, and the Environment.
Monthly Review Press, New York,
2000. p. 11

13 UN Food and Agriculture Organization. Key
Statistics Of Food And Agriculture External
Trade. http://www.fao.org/es/ess/toptrade/
trade.asp?lang=EN&dir=exp&country=100
14 J. Madeley. Hungry for Trade: How the poor
pay for free trade. Cited in Ibid

15 Jahi Campbell, „Shattering Myths: Can sustainable
agriculture feed the world?“ and „ Editorial.
Lessons from the Green Revolution.“
Food First Institute. www.foodfirst.org

16 World Food Summit. http://www.fao.org/wfs/
index_en.htm

17 La Vía Campesina. „Food Sovereignty: A Future
Without Hunger.“ (1996) http://www.voiceoftheturtle.
org/library/1996%20Declaration%
20of%20Food%20Sovereignty.pdf

18 sinngemäß und gekürzt zu finden ebd.

19 La Vía Campesina. „A response to the Global
Food Prices Crisis: Sustainable family farming
can feed the world.“ http://www.viacampesina.
org/main_en/index.php?option=com_content
&task=view&id=483&Itemid=38

20 Zum Vergleich: Dieses Jahr wird Canada 1
Mrd. Dollar für den Krieg in Afghanistan und
dessen illegale Besetzung ausgeben.

21 Jubilee Debt Campaign. „The Basics About
Debt.“ http://www.jubileedebtcampaign.org.
uk/?lid=98