»Nur
wenn deutsche Löhne mit polnischen, indischen
und chinesischen konkurrenzfähig sind,
können wir Arbeitsplätze in Deutschland
halten.« Worauf die Erpressungsmacht
des Kapitals beruht und warum sie immer größer
wird
Deutsche Konzerne trauen sich 2004 etwas Neues:
Sie verlangen ganz offen unbezahlte Mehrarbeit.
DaimlerChrysler will aus seiner Stuttgarter
Mannschaft pro Jahr 500 Millionen Euro zusätzlich
herauswirtschaften, VW plant, die Personalkosten
um 30 Prozent zu senken, Siemens, Opel, MAN,
KarstadtQuelle machen es ebenso. Und was für
die feinen Weltkonzerne gilt, gilt erst recht
für den Mittelstand und die kleinen Klitschen
– von Ostdeutschland ganz zu schweigen:
Tarifverträge werden offen mißachtet
oder in Zusammenarbeit mit Betriebsrat und
Gewerkschaft ausgehebelt und umgangen: Der
Arbeitstag wird verlängert, und das Lohneinkommen
wird in ein paar Monaten um mehr gekürzt,
als die Lohnerhöhungen der letzten 15
Jahre eingebracht haben.
Vorrang des Profits
Die
Unternehmer begründen das einmal mit
Verlusten (Karstadt, Opel), ein andermal fragen
sie gerade in Jahren mit Rekordgewinnen provozierend:
»Muß ein Unternehmen denn erst
kurz vor dem Konkurs stehen, bevor sich etwas
bewegt?« (FAG Kugelfischer). Gleichgültig,
ob Unternehmen Branchenführer mit Supergewinnen
sind oder Verluste bilanzieren; gleichgültig,
ob sie ihre Konkurrenten mit zusätzlichen
Kostensenkungen vom Markt fegen oder ob sie
sich mit Kostensenkungen vor dem Konkurs retten
wollen, immer haben sie dieselbe Diagnose:
Die Arbeitskräfte in Deutschland arbeiten
zu wenig und kosten zu viel. Also heißt
die Lösung für alle ihre unterschiedlichen
Konkurrenzbedürfnisse immer: Verlängerung
der Arbeitszeit plus Lohnsenkung.
Die
einen wie die anderen verweisen auf den Zwang
der Konkurrenz, der ihnen keine andere Wahl
lasse. Dabei üben sie diesen Zwang durch
die Verfolgung ihres Geschäftszwecks
selbst gegeneinander aus – und dieser
Geschäftszweck heißt nun einmal
Profit und lebt davon, daß Arbeitskräfte
für die Firma arbeiten und nicht für
sich. Je mehr Leistung sie abliefern und je
weniger sie davon haben, desto besser für
die Rendite und desto besser für die
Fähigkeit der Firma, der Konkurrenz Marktanteile
wegzunehmen.
So
herrscht das Interesse der Kapitaleigner in
Form eines ganzen Systems von Sachzwängen
und jede einzelne Firma muß immerzu
genau das, was sie will: Sie muß bei
ihrer Jagd nach Profit gegen Konkurrenten
erfolgreich sein, sonst geht sie unter. Aber
ist das ein guter Grund für die Lohnabhängigen,
dem Profitinteresse des Kapitals den eigenen
Lebensstandard zu opfern? Schließlich
beweist das doch nur, daß die Arbeiterschaft
nicht nur einem einzelnen raffgierigen Bösewicht
gegenübersteht, mit dem sie fertig werden
muß, sondern einem ganzen Wirtschaftssystem.
Die
Unternehmer jedenfalls, die selbstbewußt
für den Vorrang des Profits vor dem Lohn
argumentieren, verlassen sich nicht auf ihre
Überzeugungsarbeit. Mit der Verordnung
längerer Arbeitszeiten für weniger
Geld stellen sie praktisch klar, daß
der Lohn keine Frage einer gerechten Entsprechung
von Leistung & Entgelt ist, sondern eine
Frage der Macht: Wenn sie sich stark genug
fühlen und die Gegenwehr schwach genug
ausfällt, ändern sie einfach Leistungsanforderungen
und Entlohnung in ihrem Sinn. Den Belegschaften,
die das nicht gleich einsehen wollen, kommen
sie mit Erpressung. Sie drohen, deutsche Standorte
zu schließen und anderswo »Arbeit
zu geben«, wo das ausbeutbare Elend
noch größer ist – und ebenso
die Bereitschaft, sich alles gefallen zu lassen.
Aus dem weltweiten Überangebot von Arbeitsleuten
suchen sie sich die billigsten und leistungsfähigsten
heraus. Und nur wenn die einheimischen dieses
Kriterium nach Preis und Leistung erfüllen,
tun sie selbstverständlich auch ihnen
den Gefallen, sie auszubeuten. Wie Mafiosi
drücken die Unternehmer ihre Erpressung
als ein Angebot an die Belegschaften aus,
das die nicht ablehnen können: »Nur
wenn deutsche Löhne mit polnischen, indischen
usw. konkurrenzfähig sind, können
wir Arbeitsplätze in Deutschland halten.«
Bei
ihrer Erpressung setzen die Konzerne auf die
Abhängigkeit der »Arbeitnehmer«
von der Arbeit, die sie »geben«,
– und auf den Willen ihrer Leute, den
Ansprüchen dieser Abhängigkeit gerecht
zu werden. Und wie es aussieht, können
die Kapitalisten auch darauf setzen. Die erpreßten
Arbeitsleute sollten aber eines wissen: Genau
mit ihren Anstrengungen, die Renditeansprüche
des Kapitals zu erfüllen und selbst für
weniger Geld mehr zu leisten, reiten sie sich
immer tiefer in die Scheiße. Genau dadurch
vergrößern sie die Erpressungsmacht
des Kapitals, die ihnen zu schaffen macht.
Die
meisten Menschen in den modernen Volkswirtschaften
sind, um arbeiten und sich die Mittel des
Lebens beschaffen zu können, darauf angewiesen,
daß ihnen jemand »Arbeit gibt«.
Sie können die Arbeit, die nötig
ist, um das, was sie brauchen, herzustellen,
nicht eigenständig verrichten; denn sie
verfügen nicht über die nötigen
Mittel der Produktion. Die Eigentumsordnung
reserviert einer kleinen Minderheit die Verfügung
über Werkzeuge und Maschinen, Grund und
Gebäude, Erfindungen und Know-how. Diese
Minderheit arbeitet nicht, sondern läßt
arbeiten – und zwar unter der Bedingung,
daß die Arbeit, die sie verrichten läßt,
erst einmal ihr einen Gewinn einbringt. Die
Vergrößerung des Reichtums der
Reichen ist die Vorbedingung der Arbeit, die
das Lebensnotwendige heranschafft. Arbeit,
die keinen Profit abwirft und nur dem Arbeitenden
nützt, gibt es im Kapitalismus nicht.
Nur deshalb gibt es Arbeitslose, Leute, die
Arbeit brauchen und nicht kriegen können.
Für
ihren Gewinn sind die Unternehmer auf die
Dienste ihrer Beschäftigten angewiesen.
Aber sie verstehen, mit dieser Abhängigkeit
so umzugehen, daß daraus keine wechselseitige
Erpressungsfähigkeit von Arbeitgeber
und Arbeitnehmer entsteht, sondern die Sache
schön einseitig bleibt. Da der Lohn,
von dem die Beschäftigten leben müssen,
für die Unternehmer Kosten sind, setzen
sie überall neueste Maschinerie ein und
machen die Arbeit, die sie bezahlen, immer
produktiver. Das könnte ein Segen für
die Menschheit sein.
Technisch
gesehen wird es nämlich von Jahr zu Jahr
leichter, das Notwendige und Wünschenswerte
herzustellen und zu beschaffen. Technisch
gesehen nimmt die notwendige Arbeit ab. Aber
im Kapitalismus findet der technische Fortschritt
selbstverständlich nicht statt, um den
Arbeitern mehr Güter zugänglich
zu machen oder um ihnen Arbeit zu ersparen.
Er findet statt, um dem Kapital Lohnkosten
zu ersparen – entsprechend sehen seine
Wirkungen aus: Wenn Firmen den technischen
Wirkungsgrad der Arbeit steigern und in einer
Stunde das Ergebnis von vorher zwei Arbeitsstunden
erarbeiten lassen, dann entlassen sie die
eine Hälfte ihrer Beschäftigten
und sparen sich die Zahlung von deren Lebensunterhalt.
Die verbliebene andere Hälfte kann dann,
erpreßt durch die Entlassungsdrohung,
froh sein, an den verbliebenen Arbeitsplätzen
– wenn sie Glück hat, zum alten
Lohn – weiterarbeiten zu dürfen.
Dadurch senken die Unternehmer ihre Lohnkosten
und steigern ihren Gewinn. Die Form der Arbeitszeitverkürzung,
die der Kapitalismus kennt, heißt Arbeitslosigkeit
– und mit der Produktivität der
Arbeit in den Fabriken wächst die Zahl
derer, die ins Elend abstürzen, weil
das Kapital ihre Dienste nicht mehr braucht.
Ihre Not ist die andere Seite des wachsenden
Kapitalreichtums.
Zusammen
mit ihrem Reichtum wächst die Erpressungsmacht
der Kapitaleigner. Sie verwenden die durch
ihren Fortschritt geschaffenen Arbeitslosen
als Kampfmittel gegen ihre Beschäftigten.
Je produktiver die Arbeit, desto größer
die Zahl der national und weltweit Arbeitlosen;
und je größer deren Zahl, desto
härter und glaubwürdiger die Drohung
der Kapitalisten, noch billigere Arbeitslose
an Stelle der angestammten Belegschaften anzustellen.
Eben dadurch, daß die einen gar nicht
mehr arbeiten dürfen, werden die anderen
dazu erpreßt, wieder länger zu
arbeiten. Arbeitslosigkeit und Überarbeit
gehören in diesem System zusammen und
nichts ist hier undenkbarer, als daß
sich diejenigen, die zu viel arbeiten müssen,
mit denen, die gar nicht arbeiten, die Arbeit
teilen könnten.
Der
freiheitliche Staat baut die Erpressungsmacht
der Unternehmer zum kompletten Zwangssystem
aus: Er bezichtigt die vom Kapital überflüssig
gemachten und auf öffentliche Unterstützung
angewiesenen Erwerbslosen einer »Mitnahmementalität«,
setzt sie auf 345 Euro Existenzminimum –
und zwingt sie so erst recht in eine Billigkonkurrenz
gegen die Beschäftigten. Sie müssen
jede Arbeit zu jedem Preis annehmen und drücken
dadurch den Lohn aller.
So
wächst im Zeitalter nahezu vollautomatischer
Fabriken und inmitten des größten
Überflusses an Produkten aller Art die
Armut. Die einen werden für Dienste am
Kapital nicht mehr gebraucht und verlieren
mit der Arbeit ihr Einkommen. Die anderen,
die »Arbeit haben«, verteidigen
ihren Status gegen die Billiglöhner dadurch,
daß sie ihnen immer ähnlicher werden
– immer fleißiger nämlich
und ärmer.
Gewerkschaften, was nun?
Der
einzelne Lohnabhängige war ja schon immer
den Erpressungen derer, die ihm »Arbeit
geben« oder eben nicht, hilflos ausgeliefert.
Jetzt aber entzieht der Fortschritt des Kapitals
auch der kollektiven Gegenwehr der Arbeiter
die Grundlage. Die begrenzte Gegenerpressung,
die Gewerkschaften mit der Androhung massenhafter
Arbeitsverweigerung landen konnten, beruhte
und spekulierte bewußt auf ein Angewiesensein
der Kapitalseite auf die Arbeitsbereitschaft,
wenn schon nicht des Einzelnen, so doch der
ganzen Belegschaft. Wenn das Kapital aber
sein Interesse an Tausenden Beschäftigten,
manchmal an ganzen Standorten kündigt,
weil es mehr als genug billigere Arbeit gleich
nebenan oder ganz wo anders angeboten bekommt,
dann haben die Belegschaften kein Druckmittel
mehr.
Der
gewerkschaftliche Standpunkt war ja schon
immer etwas verrückt. Er beruht erstens
auf der Einsicht, daß Arbeiter gegen
das Kapital kämpfen und dessen Geschäfte
schädigen müssen, wenn sie von ihrer
Arbeit überhaupt leben wollen. Und er
beruht zweitens auf dem Willen, diesen ruinösen
Dienst am feindlichen Interesse unter verbesserten
Konditionen fortzusetzen. Gewerkschaften kämpfen
für die korrigierte Fortsetzung der Ausbeutung.
Wenn Unternehmen aber Massenentlassungen androhen
oder durchführen, wenn sie also eine
letzte, absolute Unverträglichkeit ihres
Interesses mit den Lebensbedürfnissen
der Arbeitsleute betätigen, dann »kämpfen«
die Gewerkschaften nicht mehr um die Korrektur
der Ausbeutung, sondern nur mehr um ihre Fortsetzung
– selbstverständlich mit dem Angebot
von Opfern in Sachen Lohn und Arbeitszeit,
damit das Kapital sein Interesse an seinen
Beschäftigten nicht verlieren möge.
Der
Sache nach entzieht dieser Fortschritt den
gewerkschaftlichen Illusionen von der Versöhnbarkeit
von Kapital und Arbeit den Boden und stellt
die Lohnarbeiter vor die Systemfrage: Bedingungslose
Unterordnung unter die Ansprüche des
globalen Geschäfts mit allen Konsequenzen
– oder ein Kampf dagegen, der nicht
mehr auf die verbesserte Fortsetzung des Dienstes
am Kapital, sondern auf dessen Abschaffung
zielt.
aus
junge Welt 06.11.04