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Keynesianismus und neoliberaler Staat

Negative Alternative zur sozialdemokratischen Utopie

von Ingo Schmidt aus SOZ, September 2008


In seinem letzten Ausblick auf die Weltwirtschaft erklärt der Internationale Währungsfonds, zur Eindämmung der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise seien staatliche Ausgabenprogramme nötig.

Eine solche Rehabilitierung des Keynesianismus durch das „Zentralkomitee des internationalen Monetarismus” deutet daraufhin, dass die Bourgeoisien aller Länder nach Alternativen zum Neoliberalismus suchen. Nicht weil der Kampf subalterner Klassen sie zu Konzessionen zwingt, sondern weil die Krise ihr Vermögen bedroht. Das Krisenmanagement zur Sicherung der Geldzirkulation kann Vermögensverluste hinauszögern, aber nicht verhindern; deshalb erwägen Wirtschaftspolitiker eine Rückkehr zum Keynesianismus.

Stagnation der realen Wertschöpfung und inflationäre Aushöhlung von Kaufkraft und Vermögen gab es zuletzt in den 70er Jahren. Im Gegensatz zur aktuellen Debatte über ein Comeback des Keynesianismus schlossen sich seinerzeit immer mehr Wirtschaftspolitiker der monetaristischen Auffassung an, keynesianisch inspirierte Ausgabenprogramme würden nicht zu einer steigenden Nachfrage nach Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskraft führen. Vielmehr stellten solche Staatsinterventionen die Dispositionsfreiheit privaten Kapitals in Frage, weshalb Unternehmen auf steigende Staatsausgaben nicht mit Investitionen und Neueinstellungen reagierten, sondern ihre ohnehin geplante Produktion zu steigenden Preisen absetzen würden. Noch schlimmer würde die Situation, wenn Arbeiter auf die Preissteigerungen und die damit einhergehenden Reallohnverluste mit der Forderung nach höheren Nominallöhnen antworten würden. Genauer: Wenn sie aufgrund eines hohen Beschäftigungsniveaus in der Lage wären, solche Forderungen durchzusetzen.

Dies war in den 70er Jahren der Fall, die Arbeitsmärkte waren nahezu leergefegt. Von der Elbe bis Wladiwostok erstreckte sich eine staatssozialistische No-go-Area. Rohstoffexportierende Länder, allen voran die OPEC, bastelten an einer abgestimmten Kontrolle ihrer Ausfuhrmengen, um höhere Preise und steigende Exporterlöse zu Lasten der kapitalistischen Metropolen durchzusetzen. Die Schlussfolgerungen waren daher eindeutig: Aufgabe keynesianischer Ausgabenpolitik, Einschränkung der Verhandlungsmacht der Arbeiter in den Metropolen, Öffnung der sozialistischen Länder für privates Kapital, Zerstörung der Rohstoffkartelle in der Peripherie.

In der Folge sorgten steigende Arbeitslosenzahlen und die Öffnung bislang für Auslandsinvestitionen verschlossener Länder für ein billiges Angebot an Arbeitskräften und Rohstoffen. Dennoch auftretende Krisen wurden als eine Folge politischer Eingriffe ins Marktgeschehen erklärt. Zwei Dinge sind dem monetaristischen Zeitgeist, dem auch viele Linke klagend erlegen sind, allerdings entgangen. Erstens wurde der Keynesianismus niemals vollständig durch den Monetarismus abgelöst. Zweitens war der Monetarismus kein Übergangsprogramm vom staatlich organisierten Kapitalismus zur globalen Marktwirtschaft, sondern eine Ideologie zur Rechtfertigung des neoliberalen Staates.

Wie andere wirkungsmächtige Ideologien zuvor kannte der Monetarismus nur einen kurzen Moment der praktischen Anwendung, dessen langfristige Folgen hatten mit dieser Praxis allerdings nichts mehr zu tun. Dieser Moment ist als Volcker- Schock bekannt und dauerte von 1979 bis 1982. Der damalige US-Zentralbankpräsidenten Paul Volcker verknappte das Geldangebot und setzte damit weltweit eine Explosion des Zinsniveaus in Gang. Da der Dollar nicht nur US-, sondern auch Weltreservewährung war, trieben steigende Dollarzinsen das Zinsniveau überall auf der kapitalistischen Welt in die Höhe. Dadurch kam es zu einer Schuldenkrise, von der Staaten mit Auslandsschulden ebenso betroffen waren wie Unternehmen und öffentliche Haushalte mit Schulden gegenüber privaten Haushalten.

Die Schuldenkrise hatte eine Kürzung privater Investitionen und öffentlicher Ausgaben zur Folge, die gewollt war. Sofern sie in den Metropolen zu Arbeitslosigkeit und sinkenden Lohnersatzleistungen führte, konnte die individuelle und kollektive Verhandlungsmacht von Arbeitern gebrochen oder zumindest eingeschränkt werden. Sofern sie Peripheriestaaten in die Zahlungsunfähigkeit trieb, konnte der IWF mit Beistandskrediten samt der daran geknüpften Bedingungen zur Marktöffnung einspringen. Von einer solchen Stabilisierungskrise erwarteten sich monetaristische Ökonomen und von ihnen inspirierte Politiker eine Verschiebung der Machtverhältnisse von den Peripheriestaaten und der Arbeiterklasse in den Metropolen hin zu Unternehmern und Besitzern großer Geldvermögen.

1982 lockerte die US-Zentralbank ihre Geldpolitik wieder, und der gerade gewählte US-Präsident Reagan machte mit enormen Ausgabensteigerungen den US-Staatshaushalt zur globalen Konjunkturlokomotive. Seither wurde jeder Krise mit einer Politik des billigen Geldes und staatlichen Ausgabensteigerungen begegnet.

Nur die Haushaltspolitik Bill Clintons passt nicht ohne weiteres ins dieses Bild eines „permanenten Keynesianismus” Clinton trat sein Amt 1993, nach einer gerade — wiederum mit Hilfe von steigenden Staatsausgaben überwundenen — Krise an und machte sich im Gegensatz zu seinen republikanischen Amtsvorgängern Reagan und Bush sen. sofort entschlossen an die Sanierung des Staatshaushalts. Seine Sparpolitik bedeutete jedoch keine grundsätzliche Abkehr vom Keynesianismus, sondern eine Verschiebung der staatlichen Ausgabenprogramme hin zu einer Art Börsenkeynesianismus (Robert Brenner).

Der Volcker-Schock zu Beginn der 80er Jahre trieb die Sparquote auf einen Höchstwert von 12%. Wer seinen Job nicht verloren hatte, legte angesichts von Rezession und sprunghaft steigender Arbeitslosigkeit lieber ein paar Notgroschen zurück, als das gesamte Einkommen in die nächste Shopping Mall zu tragen. Hohe Zinsen halfen, den ungeliebten Konsumverzicht zu versüßen.

Der Rückgang von Zinsen und Sparquote leitete das Ende des monetaristischen Moments ein. Die Sparquote stabilisierte sich in den USA Ende der 80er Jahre bei Werten um die 8% und trat mit Clintons New Economy eine Talfahrt in Richtung 0% an. Mit diesem „Entsparen” war ein Kaufrausch verbunden, weil die steigenden Börsenkurse eine gigantische Vermögensillusion produzierten. Vielen Haushalten war gar nicht bewusst, dass sie ihre Ersparnisse zunehmend in fiktiven Vermögenswerten anlegten. Sie nahmen an, sie könnten das „Vermögensversprechen” bei Bedarf in Bares umwandeln wie sie Geld vom Sparbuch abhoben, und hofften darüber hinaus auf Spekulationsgewinne und Dividenden. Schließlich wurde in den USA soviel für den Konsum ausgegeben, dass Investitionen vollständig mit Kapitalimporten aus dem Ausland finanziert werden mussten.

Nachdem die New Economy ihren Glanz verloren hatte, verschob sich die Produktion von Vermögensillusionen und hierauf beruhender positiver Konsumneigung auf den Immobilienmarkt. Weil die Sparquote im Jahr 2005 aber bereits bei 0,5% angekommen war, also kaum noch Ersparnisse in zusätzliche Konsumausgaben umgewandelt werden konnten, gewannen unter Bush jun. die Staatsausgaben wieder an Bedeutung zur Wirtschaftsstabilisierung.

Angesichts einer Staatsquote von gegenwärtig 36% — auch unter dem Haushaltssanierer Clinton wurden 33% nicht unterschritten — ist die These, monetaristische Wirtschaftspolitik führe zu einem schlanken Staat, empirisch schwer begründbar. Deshalb ist die Frage nach einer Wiederkehr des Staates ebenso gegenstandslos wie die vielfach im selben Atemzug angestellten Spekulationen über ein Comeback des Keynesianismus. Nachdem die monetaristische Episode zu einer Verschiebung der sozialen Kräfteverhältnisse zugunsten der um die USA gescharten Bourgeoisien dieser Welt geführt hatte, wurde der Staatsapparat fröhlich genutzt, um die verteilungspolitischen Geländegewinne, die der monetaristische Blitzkrieg erringen konnte, abzusichern und auszubauen.

Begünstigt wurde dieses Wirken des neoliberalen Staates durch eine Linke, die sich gefragt hat, ob sie die „postnationale Konstellation” (Jürgen Habermas) und den „Postkeynesianismus” (Göran Therborn, Christine Buci-Glucksman) als Ende des sozialen Ausgleichs bedauern oder als Voraussetzung „echter” Emanzipation begrüßen soll. Auch die umgekehrte Frage, ob wir gegenwärtig eine Wiederkehr von Staat und Keynesianismus erleben, trägt nicht zum Aufbau sozialer Gegenmacht bei. Der lange mit Sozialstaat und Sozialdemokratie identifizierte Keynesianismus hat sich als anpassungsfähig genug erwiesen, um in den neoliberalen Staat „eingebaut” zu werden. Die Linke sollte sich lieber darüber verständigen, ob ein sozialstaatliches Keynes-Update möglich ist, wie dieses ggf. gegen monetaristische Blitzkriege zu verteidigen ist, und ob zur Absicherung sozialer Errungenschaften über sozialdemokratische Klassenkompromisse hinausgegangen werden muss.