Unter
Inflation versteht man die fortgesetzte und
allgemeine Erhöhung der Verbraucherpreise.
Um zu verstehen, welche Funktion sie in den
Abläufen des modernen Kapitalismus spielt,
bedarf es eines kurzen Rekurses auf das marxistische
Verständnis von Wert und Warenpreis.
In der kapitalistischen Produktionsweise wird
der Wert, zu dem Waren ausgetauscht werden,
durch die für ihre Herstellung notwendige
Arbeitszeit bestimmt. Die dem Kapitalismus innewohnende
Tendenz zur Steigerung der Produktivität
führt dazu, dass man immer weniger menschliche
Arbeit benötigt, um immer mehr zu produzieren.
Der Warenwert nimmt dadurch langfristig ab.
Aber trotzdem kommt es selten vor, dass die
Preise zurückgehen.
Die Verkaufspreise ergeben sich auf der Grundlage
dieses Tauschwerts, der die grundlegende Stellgröße
in der Funktionsweise des Systems darstellt,
und sie schwanken um ein Niveau, das durch einander
überlappende Konflikte auf drei Ebenen
beeinflusst wird: in erster Linie durch den
Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, weiter
durch die Konkurrenz zwischen den einzelnen
KapitalistInnen und durch das Kräfteverhältnis
zwischen den verschiedenen Kapitalfraktionen.
Indem die KapitalistInnen permanent bemüht
sind, die Ausbeutungsrate der Lohnabhängigen
so weit als möglich zu erhöhen –
primär durch die Arbeitslosigkeit und die
Prekarisierung – befinden sie sich zugleich
untereinander in Konkurrenz. In Beziehung zueinander
treten sie beim Verkauf ihrer Produkte auf dem
Markt. Dort teilen sie ihre Beute – den
Gesamtpro- fit, der aus der Ausbeutung der Arbeitskraft
entstanden ist. Mit anderen Worten: Der einzelne
Kapitalist erhält bei diesem Prozess nicht
direkt den Mehrwert, den er aus seinen Beschäftigten
herauspresst, sondern einen Teil des Gesamtmehrwerts.
Diese Aufteilung erfolgt entlang der Preise,
die auf dem Markt erzielt werden, und führt
zu einem Ausgleich der Profitraten unter den
einzelnen konkurrierenden KapitalistInnen. Dies
erfolgt natürlich nicht auf dem Wege einer
wechselseitigen Vereinbarung am grünen
Tisch, sondern ergibt sich durch das Kräfteverhältnis,
das aus der gegenseitigen Konkurrenz entsteht.
Aus diesem Grund können die ausgewiesenen
Verkaufspreise mehr oder weniger dauerhaft vom
Tauschwert abweichen.
Daneben besteht ein permanenter Konflikt über
die Verteilung des Mehrwerts zwischen den einzelnen
Kapitalfraktionen: dem Industriekapital, dem
Finanzkapital und dem Handelskapital, wobei
diese verschiedenen Funktionen durchaus in einer
Unternehmensgruppe nebeneinander existieren
können. Die Zinsquote und die Verbraucherpreise
bilden dabei die Bestandteile dieser Aufteilung
zwischen den einzelnen Fraktionen des Gesamtkapitals.
Je höher die Zinsen liegen, desto größer
ist der Anteil, der an das Finanzkapital geht.
Je höher die Verbraucherpreise sind, desto
höher sind – gemessen an den Produktionskosten
– die Gewinnspannen für das Handelskapital
(mittlerweile dem Großhandel).
Unter diesen Bedingungen kann man die Inflation
als das Ergebnis eines Konflikts definieren,
der auf die Aufteilung der produzierten Reichtümer
zielt, und mitunter stellt sie einen der Mechanismen
dar, die die KapitalistInnen zur Aufrechterhaltung
ihrer Profitraten benutzen.
INFLATION
UND WACHSTUM
Das
Wirtschaftswachstum in der Nachkriegsperiode
in Westeuropa und den USA ging einher mit einer
zunächst „schleichenden“, später
galoppierenden Inflation, die in Frankreich
in den 70er Jahren bei über 13 % lag. Dem
lag ein für die Arbeiterklasse relativ
günstiges Kräfteverhältnis zugrunde,
wo die KapitalistInnen durch die Erhöhung
der Verbraucherpreise die Nominallohnerhöhungen,
die ihnen abgetrotzt wurden, wieder wettmachen
wollten. Die Lohnentwicklung war demnach an
die Preisentwicklung gekoppelt. Die Konkurrenzbedingungen
– monopolartige Konzentration in den einzelnen
Branchen und relative Abschottung der nationalen
Märkte – gewähren den Unternehmen
den Spielraum, weitgehend die Preise zu erhöhen,
um dadurch ihre Profitraten zu bewahren, ohne
Marktanteile zu riskieren.
Daneben erhält die Inflation ein Wachstum
aufrecht, das weitgehend auf der Verschuldung
sowohl der Unternehmen – womit eine sehr
hohe Akkumulationsrate finanziert wird –
als auch der Beschäftigten basiert –
letzteres in Form aufgeblähter Verbraucherkredite,
was den Unternehmensabsatz garantiert. Die Inflation
begünstigt die Schuldner: Liegt sie über
dem Nominalzins, fallen die Rückzahlungen
weniger ins Gewicht. Eine Preiserhöhung
um 10 % bedeutet eine Verringerung der Tilgungslast
um 10 %.
Insofern galt Inflation lange als der Motor
für Wachstum und Beschäftigung in
den Goldenen 30ern und als Mittel zur Abschwächung
sozialer Konflikte, indem die Profite genau
so schnell stiegen wie die Löhne. Warum
erschöpfte sich dieser Mechanismus seit
den 70er Jahren? Ernest Mandel erläutert,
dass die Inflation als Mechanismus, der den
Ausbruch der Widersprüche des Kapitalismus
zu verzögern hilft, diese Widersprüche
schließlich in zugespitzter Form zum Tragen
bringt. Indem sie „die Kaufkraft der Währungen
permanent aushöhlt, stürzt sie letztlich
das internationale Währungssystem in eine
äußerst schwere Krise“.1
Außerdem ermöglicht sie zwar eine
leichte Finanzierung der Akkumu-lation und des
Konsums, aber letztlich behindert sie die Abläufe
des Kapitalismus, indem sie die Wiederherstellung
der Profitraten ermöglicht.2
Auf der einen Seite entlastet sie die Schuldner,
auf der anderen unterhöhlt sie in gleichem
Maße die Pfründe der Gläubiger.
Auf diese Weise hat sie während der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts zu dem beigetragen,
was Keynes die „Euthanasie der Rentiers“
genannt hat. Diese haben sich nie damit abgefunden,
und der Monetarismus war schließlich ihre
Waffe, mit der sie wieder an die Macht gelangten.
Im Oktober 1979 war die drastische Zinserhöhung
der FED in allen Ländern die Initialzündung
zu einer Politik, deren vorrangiges Ziel bis
heute die Eindämmung der Inflation auf
alle Zeit ist.
AUFSTAND
DER RENTIERS
Diese
Politik hat ihre Ziele weitgehend erreicht.
Seit Mitte der 80er Jahre liegt die Inflationsrate
auf niedrigem Niveau – zwischen 2 und
3 % in den Industrieländern, im Frankreich
der 90er Jahre sogar unter 2 % – was durch
das Zusammenwirken mehrerer Mechanismen erreicht
wurde. Zunächst einmal durch den Finanzmarkt,
d. h. durch die freie Kapitalzirkulation und
die Finanzierung der Großunternehmen durch
die Ausgabe von Anleihen anstelle von Bankkrediten.
Die Staaten finanzieren ihre Defizite durch
die Ausgabe öffentlicher Anleihen. All
dies festigt ab den 80er Jahren die unbestrittene
Herrschaft des Finanzkapitals – zugleich
Bedingung und Konsequenz der Umkehrung der Kräfteverhältnisse
zu Lasten der Lohnabhängigen und der Absenkung
der Lohnbestandteile am Mehrwert.3
1983 wird in Frankreich von Jacques Delors die
gleitende Lohnskala abgeschafft.
Der zweite Mechanismus ist die monetaristische
Politik, die den Forderungen des Finanzkapitals
entspricht. Die Regierungen machen sich untereinander
Konkurrenz, um Kapital anzuziehen, das auf der
Suche nach lukrativen Anlagen ist, indem sie
ihm durch eine geringe Inflationsrate einen
konstanten Wert der Anleihen versprechen und
deren Attraktivität noch darüber hinaus
durch eine immer geringere Besteuerung erhöhen.
Die Schaffung der Eurozone steht unter dem Vorzeichen
einer geradezu zwanghaften Antiinflationspolitik:
zuerst die Konvergenzkriterien, dann die Zinserhöhungen
durch die EZB zu Lasten von Wirtschaftswachstum
und Vollbeschäftigung.
Der dritte Mechanismus besteht schließlich
in der Zuspitzung der internationalen Konkurrenz,
wobei für die geringe Inflationsrate nicht
in erster Linie die sehr niedrigen Preise der
im-portierten Konsumgüter aus den „konkurrierenden“
Schwellenländern sind. Deren Angebot an
billigen Waren mag zwar in den Industrieländern
den Konsum stützen, ohne dass die Löhne
erhöht werden müssen, aber der Preisvorteil
wird durch die hohen Gewinnmargen der Importeure
und Großhändler stark relativiert.
In erster Linie jedoch unterminiert diese verallgemeinerte
Konkurrenz weltweit die Kampf- und Verhandlungsbedingungen
für Lohnerhöhungen durch Erpressung
mit Standortverlagerungen und höhere Renditeansprüche
der Unternehmen. Dadurch wiederum wird Massenarbeitslosigkeit
erzeugt, was seinerseits dazu beiträgt,
den Lohnbestandteil am Mehrwert zu senken. Die
Konkurrenz zwischen den Unternehmen vollzieht
sich viel mehr als früher vermittels der
Preise. In der Folge wird dieser Druck weitergegeben
an die ganze Kette von ZwischenhändlerInnen
und letztlich an alle Lohnabhängigen der
Welt.4
In Frankreich reichte – wie auch in anderen
Ländern – die Abschwächung der
Inflation nicht aus, um den Kaufkraftverlust
auszugleichen, da die Lohnerhöhungen systematisch
unterhalb der Teuerungsrate liegen. Der Verfall
der Kaufkraft liegt somit noch höher als
zu Zeiten höherer Inflation.
INFLATIONÄRE
TENDENZEN?
Seit
2007 besteht eine Zunahme der Teuerungsrate,
die bei 3,4 % in den Industrieländern,
bei 3,6 % in der Eurozone und bei 3,2 % in Frankreich
zwischen Feb. 07 und Feb. 08 liegt. Bei diesem
Rhythmus könnte die Inflation 2008 5 %
erreichen. Hauptverantwortlich dafür sind
Preissteigerungen für Agrarprodukte (71
% für Weizen zwischen Okt. 06 und Okt.
07) und Energie. Diese Steigerungen resultieren
aus der gestiegenen Nachfrage aus den Schwellenländern
(Indien und China v. a.), aus dem vermehrten
Anbau von biosprittauglichen Pflanzen und –
in jüngster Zeit – auch aus Spekulationen,
die nach der subprime-Krise in den USA vermehrt
im Rohstoffsektor getätigt werden. Durch
diesen Boom werden – wenn auch in überschaubarem
Umfang – die Preise für Nahrungsmittel
und besonders für Molkerei-und Getreideprodukte
beeinflusst, was am meisten natürlich bei
den ärmsten Haushalten durchschlägt.
Auch andere Erzeugnisse werden zunehmend teurer.
Handarbeitsprodukte bspw., die sich 2005 und
2006 um durchschnittlich 0,4 % verbilligt hatten,
steigen seit Juli 2007 wieder im Preis.
Dennoch lässt sich nicht eindeutig behaupten,
dass inflationäre Tendenzen sich wieder
allgemein und dauerhaft durchsetzen. Dagegen
sprechen eine Reihe von Faktoren, etwa die Bewertung
des Euro in der EU, die den Preis für Importgüter
automatisch reduziert. Die geringere Abhängigkeit
der Industriestaaten vom Erdöl sorgt dafür,
dass die Auswirkungen weniger drastisch sind
als in den 30er Jahren. Vor allem aber haben
sich die Rahmenbedingungen im Verhältnis
zwischen den Klassen nicht grundlegend gewandelt:
Die Herrschaft des Finanzkapitals als Basis
für die antiinflationäre Politik der
Zentralbanken ist unangetastet und die anhaltende
Massenarbeitslosigkeit hin-dert die Arbeiter
daran, den Lohnstandard zu verteidigen. In allen
Ländern liegt seit fast 30 Jahren der Anstieg
der Löhne dauerhaft unterhalb des Produktivitätszuwachses.
Insofern liegt auch hier das Kernproblem, nämlich
im weltweiten Widerstand der Arbeiterschaft
gegen die Versuche des Kapitals, sie gegeneinander
auszuspielen. Beispielsweise haben die ArbeiterInnen
der Dacia-Werke in Rumänien im März
durch einen kämpferischen Streik bedeutende
Lohnerhöhungen durchsetzen können.
Seit einem Jahr lassen sich auch – vorerst
sehr bescheidene – Lohnerhöhungen
in China, Indien, Südkorea etc. beobachten.
Im Süden wie im Osten und Norden geht es
darum, das „eherne Gesetz“ in Frage
zu stellen, wonach der Anteil der Löhne
am Mehrwert sinkt, während die Gewinne
explodieren, darum, indirekte Steuererhöhungen
abzuwehren und darum, die Preise wieder durch
bestimmte Mechanismen zu kontrollieren, was
einher gehen muss mit der Wiederherstellung
gemeinwirtschaftlicher Errungenschaften wie
des „sozialen Lohns“ und der kostenlosen
öffentlichen Dienstleistungen. In Frankreich
sind z. B. die Gas- und Strompreise, die noch
staatlich beeinflusst werden, um lediglich 2,5
% binnen Jahresfrist gestiegen. Wie wird dies
aber nach einer Privatisierung dieser Sektoren
aussehen? Ebenso verzichtet ein zunehmender
Teil der Bevölkerung auf die Gesundheitspflege,
weil Medikamente immer teurer und Zuzahlungen
immer höher werden. Der Kampf für
das Recht auf die Gesundheit aller ist daher
ein Kampf für die Verteidigung der Krankenversicherung
und für die Kontrolle der Pharmapreise.
Aus Rouge 2252, vom 15.5.08
Übersetzung: MiWe
1
Ernest Mandel, Quatrième Internationale,
n° 37,
Mai 1969
2
Michel Husson, „ Après l’âge
d’or “ . In: Le
marxisme d’Ernest Mandel, 1999
3
Michel Husson, „ Un pur capitalisme “,
2008
4
Guillaume Duval, „ Inflation, le retour
? “, Alternatives
économiques, n° 264, Dez 2007 |