Wer sich mit der Lage der
MigrantInnen beschäftigt und nicht nur
ihren rechtlichen und administrativen Status
in allen Variationen ins Auge nimmt, merkt schnell,
dass die grosse Mehrheit der MigrantInnen in
der einen oder anderen Form gezwungen sind,
ihre Arbeitskraft zu verkaufen. In diesem Sinne
sind sie Teil der breiten Masse der lohnabhängig
Beschäftigten. Vereine, Gewerkschaften
und politische Organisationen mit dem Anspruch,
die Rechte der Lohnabhängigen ausnahmslos
und bedingungslos zu verteidigen, stehen daher
in der Pflicht, auf der Grundlage dieser Feststellung
Bedingungen zu schaffen, damit Forderungen verschiedener
Gruppen von Lohnabhängigen zusammenfliessen
können. Weiter ist es ihre Aufgabe, radikal
gegen jede Art von “Sondermassnahmen”,
speziell auf MigrantInnen zielend, zu opponieren,
die in naher Zukunft auch gegen andere Lohnabhängige
eingesetzt werden können.
Illegale
Auswanderung und illegale Einwanderung –
ein teuflisches Duo
Ein Teil der offiziellen Linken
hat eine Vorstellung bereits verinnerlicht:
Nämlich dass es so etwas wie eine “illegale
Auswanderung” gibt. Dieses Konzept wird
breit getreten und insbesondere auf Menschen
aus Afrika, Maghreb, Irak, Afghanistan usw.
gemünzt, die über Wüsten und
Meere Europa zu erreichen versuchen. MigrantInnen
werden so zu Kriminellen, in eindeutiger Verletzung
der Allgemeinen Menschen-rechtserklärung
von 1848, Artikel 13 Absatz 2: “Jeder
hat das Recht, jedes Land, einschliesslich seines
eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.“
Diese Formulierung zielte faktisch auf autoritäre
Länder wie die Sowjetunion und die Deutschen
Demokratischen Republik (DDR), welche ihre BürgerInnen
daran hinderten, auszuwandern oder ihr Land
zu verlassen. Bekanntlich galt in dieser Situation
“Schiessbefehl”.
Als Gegenstück zu dieser
Realität wurde die Vorstellung der “illegalen
Einwanderung” geschaffen, denn ein Land
kann per se einer migrierenden Person den Zutritt
verweigern. In einer ersten Phase während
1950- und 1960er Jahre wurden die wenigen “illegalen
Auswanderer” aus den Ländern des
Ostblocks freundlich aufgenommen.
Gleichzeitig organisierten
diverse Stellen in den Ländern an den Rändern
Europas und in aussereuropäischen Staaten
eine Auslese unter MigrantInnen für die
Sektoren Bau, landwirtschaftliche Saisonarbeit,
Industrie usw.
Derzeit sind es die Ländern
der Europäischen Union (EU), die mit einer
Reihe von aussereuropäischen Ländern
die “illegale Auswanderung” aushandeln.
Konkret sind es die EU- und auch die schweizerischen
Behörden, die gegen Bezahlung von der Ukraine,
Libyen, Marokko und anderen verlangen, dass
Polizeimassnahmen und Repressionsinstrumente
gegen “illegale Auswanderung” geschaffen
werden. Also gegen jene, die entweder aus diesen
Ländern stammen oder diese Länder
passieren auf dem Weg nach Europa. Diese Politik
in Sachen “illegale Auswanderung”,
die an den Grenzen zu EU zerschlagen werden
soll, wird mit dem Kampf gegen “illegale
Einwanderung” gerechtfertigt.
Ein findet ein regelrechter
Kuhhandel statt. Der senegalesische Präsident
Abdoulaye Wade hat z.B. im Austausch für
die Rückschaffung der Menschen aus Senegal,
die auf den Kanarischen Inseln stranden, von
der spanischen Regierung finanzielle Mittel
für irgendwelche Entwicklungsprojekte gefordert.
Das ist auch meistens der Hintergrund der sogenannten
partnerschaftlichen Entwicklungszusammenarbeit
als Antwort auf Migration.
So werden zwei parallele polizeiliche
Einrichtungen geschaffen: In den Ländern
der Peripherie zur Kontrolle der “illegalen
Auswanderung”, und in den Ländern
der EU zur Eindämmung der “illegalen
Einwanderung”. Das libysche Regime hat
ja nicht nur Göldi und Hamdani verhaftet,
sondern und vor allem Abertausende Menschen
aus Afrika, die gefoltert, vergewaltigt und
unter korrupten Polizeieinheiten ausgetauscht
werden. Darüber spricht aber niemand. Die
schweizerische Regierung hat kein Problem damit.
Denn Kadhafi erledigt ja nur seinen Job, den
Kampf gegen “illegale Auswanderung”.
Lager
gestern und heute
Im Geist dieser Politik gibt
es auch in der EU und in der Schweiz Lager zur
Einsperrung von AusländerInnen. Gleichartige
Lager finanzieren die EU und die Schweiz in
Libyen, Marokko, Ukraine, Mauretanien. Diese
Lager verletzen die internationalen Konventionen,
denen diese Länder beigetreten sind: Das
Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge
der Vereinten Nationen, die UN-Kinder-rechtskonvention
usw. In Ländern wie Griechenland, Italien,
Zypern oder Malta werden jene MigrantInnen,
die auf der Reise nicht gestorben sind, in Haft
gesetzt, unabhängig von ihrer humanitären
und/oder rechtlichen Lage. Die europäischen
Flughäfen haben, in unmittelbarer Nähe
zu den VIP-Lounges ihre eigenen Einsperrungslager.
Die Initiative und der Gegenvorschlag zur Ausschaffung
“krimineller Ausländer” speisen
sich aus der gleichen Logik von administrativer
Verwahrung und Repressions-massnahmen.
Parteien, die in der Regierung
sitzen oder dieses Ziel anvisieren, schliessen
bewusst die Augen vor der grässlichen Lage
betreffend demokratische Rechte. In den Lagern
sitzen Menschen ohne Gerichtsentscheid oder
-verfahren ein – aus dem einzigen Grund,
dass sie eine Grenze passiert haben oder in
einem Land leben möchten, ohne die “geltenden
Regeln” einzuhalten. Bekanntlich stehen
diese Regeln oft im Widerspruch zu internationalem
Recht, unter anderem zu den Grundsätzen
des Flüchtlingsschutzes.
Diese Art von Haft führt
zwangsläufig zu Misshandlungen, physischer
und psychologischer Gewalt. Hungerstreik, Aufruhr
– oder gar Selbstmorde – zeugen
vom Willen der Menschen, ihre Würde zurückzuerhalten.
Menschen, welche die würdelose Politik
der herrschenden Klassen und die von ihnen organisierte
Macht erleiden.
Diese administrative Haft
verletzt diverse Grundrechte: das Recht, sich
frei zu bewegen; das Recht auf Asyl; den Respekt
vor dem Privat- und Familienleben; das Recht,
keine unmenschliche Behandlung erfahren zu müssen.
Das Europaparlament kommt in einer Studie von
Dezember 2007 zum Schluss: “Die Haft in
geschlossenen Zentren führt zum Entstehen
oder zur Verschlimmerung psychischer Störungen
der festgehaltenen Ausländern, mit schwerwiegenden
Folgen insbesondere für Minderjährige.”
Diese Politik der Wegsperrung
im Namen der Kontrolle der Migrationsflüsse
verschärft die Stigmatisierung von MigrantInnen
und verstärkt Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.
Es entsteht staatlicher Rassismus. Der Kampf
verschiedener Organisation für die Schliessung
der Lager in Europa und anderswo steht im Rahmen
eines allgemeinen Kampfes für die Verteidigung
demokratischer Rechte. Ganz offensichtlich verweisen
die neuen Einsperrungslager auf die Geschichte
anderer Lager: Jener der 1930- und 1940er Jahre
in diverses Ländern Europas, die Lager
der UdSSR, oder die chinesischen Lager.
Gegen
die Ordnung des Profits
“Illegale Auswanderung”,
“illegale Einwanderung”, Einsperrungslager
sind Teil der Politik zur “Kontrolle der
Migrationsflüsse” – in anderen
Worten zur internationalen Kontrolle und Nutzung
der Arbeitskräfte unter Zwangsbedingungen.
Das Gegenstück zu dieser Politik ist die
Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse,
von denen die MigrantInnen das verletzlichste
Segment darstellen.
Ganze Industriezweige, so
die Automobilbranche, arbeitet breitflächig
im Zulieferersystem, damit die grossen Marken
und deren Aktionäre den grösstmöglichen
Mehrwert und Profit einstreichen. Am Ende der
Zuliefererkette stehen Erwerbslose, MigrantInnen,
die äusserst harte Arbeitsbedingungen hinnehmen
müssen, mit grenzenlos flexiblen Arbeitszeiten
usw. Gleiches gilt für noch verstärkt
für die Textilbranche, den Bau, das Gastgewerbe
usw.
Die Ausbeutungskette reicht
von den marokkanischen Beschäftigten im
Hotelbau für Touristen im eigenen Land
bis zu den marokkanischen MigrantInnen, die
in Landwirtschaft und Baugewerbe in Europa überausgebeutet
werden. Die Glieder der Kette können in
vielen Sektoren nachgewiesen werden, so etwa
im Bergbau zur Gewinnung von Eisen bis zu den
Eisenlegern aus Kosovo, die in Unterakkordanz
von der Baufirma Implenia eingesetzt werden.
Wenn papierlose Beschäftigte
in Frankreich sagen: “Wir zahlen hier
Sozialbeiträge, wir leben hier, wir bleiben
hier”, so schaffen sie eine Verbindung
zum Leitspruch der arbeitenden Latinos in den
USA, die gestern und heute wieder in Arkansas
sagen: “Wir arbeiten hier, wir schaffen
Reichtum, wir haben die gleichen Rechte.”
Regularisierung für alle heisst die Forderung.
In der einen oder anderen
Form sind alle konfrontiert mit einem sozialen,
wirtschaftlichen und politischen System, das
– insbesondere unter den heutigen Krisenbedingungen
– immer häufiger individuelle, gewerkschaftliche,
soziale und kollektive Rechte angreift. Selbst
wenn die Mobilisierung möglichst viele
Kräfte vereint im Kampf gegen diese Angriff
und zur Befriedigung von wirtschaftlichen, sozialen
und kulturelle Bedürfnissen, stösst
sie auf die Macht der Herrschenden und auf ihre
Politik der Spaltung. Sie stösst also auf
Repressionsmassnahmen und auf immer neue Manipulationen
zur Förderung von Fremdenfeindlichkeit
und Rassismus.
Seit jeher wurde die Spaltung
der Lohnabhängigen genutzt für die
Interessen der herrschenden wirtschaftlichen
und sozialen Minderheit. Der Kampf für
die alle Rechte der MigrantInnen ist Teil des
Kampfes für die Rechte und Bedürfnisse
der Lohnabhängigen. Dieser Kampf kann nur
geführt werden, wenn die Zusammenhänge
für alle Teilnehmenden klarer und sichtbarer
gemacht werden: So entstammen die aktuellen
Massnahmen der schweizerischen Regierung z.B.
gegen Erwerbslose, gegen RentnerInnen, gegen
Gewerkschaftsaktivist-Innen in den Betrieben
der gleichen Logik wie die Repression gegen
MigrantInnen. In anderen Worten: Gegenüber
der Macht der herrschenden Klasse muss in konkreten
und exemplarischen Kämpfen der Geist des
gemeinsamen Interesses aller Lohnabhängigen
wieder geweckt werden. Und auch das Bewusstsein,
dass Würde mit dem Willen und der Fähigkeit
einher geht, gegen jene anzukämpfen, deren
einziger Gott der Profit oder die Profitordnung
ist.
(22. Juni 2010)