Fünf
Tage nach dem Zusammenbruch der Investment-Bank
Lehman Brothers ist das Ausmaß der internationalen
Finanzkrise weiterhin nicht absehbar. Kein
Kontinent und kein Land bleiben von der Krise
verschont.
In
Australien droht der größten Investmentbank
Macquarie der Kollaps, Russland erlebt die
umfassendste Finanzkrise seit zehn Jahren,
die asiatischen Börsen sind eingebrochen
und in Europa jagt eine Hiobsbotschaft die
nächste. Während Regierungssprecher
pflichtgemäß Optimismus verbreiten,
beweisen die Daten das Gegenteil. Allein die
Verluste, die deutsche und französische
Banken durch den Zusammenbruch von Lehman
Brothers erlitten haben, werden auf mehrere
Milliarden Euro geschätzt.
Die
deutsche Wochenzeitung Die Zeit weist darauf
hin, dass es wegen der komplexen Finanzkonstruktionen
noch Wochen dauern kann, bis die wahren Verluste
ans Licht kommen. "Aber das Schlimmste
steht womöglich noch bevor, weil sich
viele Verlustbringer erst mit zeitlicher Verzögerung
offenbaren", schreibt sie.
Alle
ernsthaften Wirtschaftskommentare stimmen
überein, dass ein Ende der Krise nicht
in Sicht ist. "Das Erschreckende der
vergangenen 24 Stunden ist, dass der Glaube
daran, dass Notenbanker und Finanzminister
die Krise in den Griff bekommen könnten,
dramatisch abgenommen hat", schrieb die
Tageszeitung Die Welt am Donnerstag. Und das
britische Wirtschaftsblatt Financial Times
bekannte am selben Tag: "Wir stecken
ohne Frage in der schlimmsten Finanzkrise
seit 1929. Wir wissen nicht, wie viele Banken
und Institutionen noch scheitern werden."
Am
Donnerstag und Freitag wiesen zwar die Börsenkurse
nach oben, nachdem die US-Notenbank 180 Milliarden
Dollar in die Märkte gepumpt hatte. Doch
Kommentare werteten diese riesige Finanzspritze
als "Verzweiflungsakt", der mehr
über das Ausmaß der Krise und der
damit einhergehenden Panik aussagt, als dass
er zu ihrer Überwindung beiträgt.
Während
sich die Finanzkrise weiter ausdehnt, zeichnen
sich deren Auswirkungen auf Produktion, Handel
und Konsum immer deutlicher ab. Selbst wenn
es nicht zu einer vollständigen Implosion
der Finanzmärkte kommt, gilt eine tiefe
Rezession der gesamten Weltwirtschaft als
wahrscheinlich.
Die
Verknappung und Verteuerung von Krediten wird
zahlreiche Firmen in die Zahlungsunfähigkeit
treiben und damit die Finanzkrise zusätzlich
verschärfen. Wachsende Arbeitslosigkeit,
steigende Preise, sinkende Löhne und
weitere Pleiten werden die Folge sein - ein
Teufelskreis.
Hinzu
kommt, dass die dreistelligen Milliardensummen,
mit denen Regierungen und Notenbanken die
Schulden der Banken ausgleichen, auf die Bevölkerung
zurückfallen. Der rasante Anstieg der
Verschuldung der öffentlichen Haushalte
wird weitere Kürzungen bei sozialen und
öffentlichen Ausgaben zur Folge haben.
Ging
schon die Entwicklung einer gewaltigen Spekulationsblase
in den vergangenen Jahren mit einer bespiellosen
Umverteilung der Einkommen und Vermögen
einher, so erfährt nun die soziale Polarisierung
mit dem Platzen dieser Blase einen weiteren
Quantensprung.
Die
Folge werden heftiger Widerstand und eine
weltweite Verschärfung des Klassenkampfs
sein. Die Ideologie des freien Marktes, die
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in
den Rang einer Religion erhoben wurde, hat
durch den Zusammenbruch der größten
Wall-Street-Banken irreparablen Schaden erlitten.
Unter diesen Umständen wird die soziale
Opposition in eine anti-kapitalistische Richtung
tendieren und linke Formen annehmen.
Schock
und Angst
Vor
diesem Hintergrund muss die Debatte verstanden
werden, die in den europäischen Medien
über die Auswirkungen der Finanzkrise
eingesetzt hat. Sie ist einerseits von dem
Schock geprägt, den der für viele
unerwartete Zusammenbruch ausgelöst hat,
andererseits von der Angst, die Reaktion dagegen
könnte revolutionäre Bahnen einschlagen.
Selbst
in konservativen Medien, die den freien Markt
bisher als höchste Errungenschaft der
menschlichen Zivilisation verherrlicht haben,
erscheinen nun Artikel, die sich lesen, als
seien sie in den Redaktionsstuben von Globalisierungskritikern
verfasst worden.
Die
Zeit fragt: "Ist der Finanzkapitalismus
am Ende?" und sieht das "Ende der
Weltherrschaft der angelsächsischen Finanzindustrie"
gekommen.
Frank
Schirrmacher meint im Feuilleton der FAZ :
". Es müssen irgendwo Verrückte
herumlaufen, die bis Montag nicht aufgefallen
sind, weil ihr Wahn identisch war mit der
Logik des etablierten Systems. Sie vernichtet
Vermögen, die ganzen Staatshaushalten
entsprechen..."
Die
Welt klagt: "Gier und Dummheit haben
die Märkte ins Chaos gestürzt -
Manager und Marktwächter haben versagt",
und meint: "Jeder Volkswirtschaftsstudent
im ersten Semester hätte herleiten können,
dass das amerikanische Wachstumsmodell nicht
nachhaltig ist."
Doch
während sie den "Raubtierkapitalismus",
den "angelsächsischen Finanzkapitalismus"
sowie "Gier und Dummheit" Einzelner
für die Krise verantwortlich machen,
pflegen sie sorgfältig die Illusion,
es könne einen besseren, geregelten,
vernünftigen Kapitalismus geben.
"Die
jetzige Krise ist die Summe eines totalen
Versagens an vielen Stellen in Staat und Wirtschaft",
heißt es in der Welt. "Daraus jedoch
abzuleiten, dass die Marktwirtschaft an sich
nicht funktioniert, führt in die Irre.
Nicht die marktwirtschaftliche Ordnung ist
schuld an der Finanzkrise, sondern die Tatsache,
dass wichtige Marktteilnehmer und diejenigen,
die den Markt überwachen, eherne ökonomische
Gesetze nicht befolgt haben oder glaubten,
dass diese nicht mehr gelten würden."
Am
deutlichsten wird dieser Gedanke in einem
Kommentar ausgesprochen, den die Süddeutsche
Zeitung am Freitag unter der Überschrift
"Die kapitale Läuterung" veröffentlicht
hat. Heribert Prantl beschwört darin
das Ende des "Turbo-Kapitalismus".
"Die Form des Kapitalismus, die man ‚Turbo-Kapitalismus’
genannt hat, widerlegt, zerlegt und besiegt
sich gerade selbst. Der Turbo war die Gier",
schreibt er. "Der Turbokapitalismus frisst
seine Kinder, seine Künder und deren
Derivate."
Prantl
preist "die soziale Marktwirtschaft,
wie sie in der Bundesrepublik nach dem Zweiten
Weltkrieg aufgebaut wurde", als "erfolgreichste
Wirtschafts- und Sozialordnung, die es in
der Wirtschaftsgeschichte je gegeben hat".
Da er versteht, dass die "ordnende Hand"
des Nationalstaats mit der Globalisierung
der Wirtschaft ihren Einfluss eingebüsst
hat, schlägt er vor, die soziale Marktwirtschaft
auf die internationale Ebene zu heben: "Es
muss gelingen, die internationale Wirtschafts-
und Finanzordnung so zu regeln, dass sie sozial
verträglich wird."
Und
an wen richtet sich diese "Herkules-Aufgabe"?
"An die Vereinten Nationen, an die G-8
- und also an die Regierungen der Industriestaaten",
antwortet Prantl. "Es geht darum, der
Anarchie der Märkte ein juristisches
Koordinatensystem zu geben und es dann Stück
für Stück durchzusetzen. Es braucht
einen neuen contrat social."
Prantl
bleibt seinen Lesern die Antwort auf das Rätsel
schuldig, warum ausgerechnet die Regierungen
der führenden Industriestaaten, die den
von ihm so bezeichneten "Turbo-Kapitalismus"
über zwanzig Jahre lang zum Inhalt ihres
Programms und ihrer Politik gemacht haben,
diesen nun überwinden sollen. Sein Kommentar
ist vom Bemühen geprägt, einen Ausweg
aus der Krise zu finden, der nicht auf dem
lebendigen Kampf gesellschaftlicher Kräfte
beruht. Aber das ist eine Illusion, und eine
gefährliche dazu.
In
Deutschland hatte die Wirtschaftskrise 1929
bekanntlich innerhalb von vier Jahren zur
Machtübernahme der Nazis geführt.
Hitler hatte Erfolg, weil die Arbeiterparteien
versagten. Die SPD lähmte die Arbeiter,
indem sie diese an die ohnmächtigen Institutionen
der Weimarer Republik fesselte und Brünings
Notstandsgesetze unterstützte, die KPD,
indem sie ihren Fatalismus hinter linksradikalen
Phrasen verbarg und eine Einheitsfront gegen
die Nazis ablehnte. Die bürgerlichen
Parteien knickten alle vor den Nazis ein,
bis hin zur eigenen Entmachtung durch die
Zustimmung zu Hitlers Ermächtigungsgesetz.
Prantl,
der in historischen Fragen bewandert ist,
beruft sich auf Rousseaus contrat social (Gesellschaftsvertrag).
Aber er vergisst, dass erst die Französische
Revolution, eine der größten Revolutionen
der Weltgeschichte, diesem zum Durchbruch
verhalf.
Der
"Turbo-Kapitalismus", um bei diesem
Begriff zu bleiben, ist nicht nur ein Produkt
individueller Gier. Er beruht auf Klasseninteressen,
die im Privateigentum an den Produktionsmitteln
verankert sind.
Schon
die Öffnung und Liberalisierung der Finanzmärkte
zu Beginn der achtziger Jahre war eine Reaktion
auf die Rezession und die heftigen Klassenkämpfe
der vorangegangenen Jahre. Sie war verbunden
mit einer internationalen Offensive gegen
die Arbeiterklasse, die in der Zerschlagung
der amerikanischen Fluglotsengewerkschaft
Patco und der Niederlage des einjährigen
britischen Bergarbeiterstreiks gipfelte. Seither
stagnieren Löhne und Sozialleistungen,
während sich Profite und Vermögen
vervielfacht haben.
Die
Vorstellung, die Finanzoligarchie werde freiwillig
auf ihre Beute verzichten und einen contrat
social schließen, ist lachhaft. Prantl
interpretiert das Eingreifen der US-Regierung
in die Finanzkrise als Schritt in diese Richtung.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Sie plündert
die Staatskasse, um die Risiken der Spekulanten
abzudecken, während die Arbeiter, die
sozial Abhängigen und kleinen Hausbesitzer
die vollen Auswirkungen der Krise zu spüren
bekommen.