Die Volksinitiative der Schweizerischen Volkspartei
SVP «Für die Ausschaffung krimineller
Ausländer» (Ausschaffungsinitiative)
kommt am 28. November 2010 zur Abstimmung, zusammen
mit dem Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament.
Initiative wie Gegen-vorschlag sind Ausdruck
der stetigen Verschlechterung der Lage von MigrantInnen
in der Schweiz. Die Kriminalisierung von Menschen
ausländischer Herkunft ist in diesem Kontext
der Krise das Mittel, um Lohnabhängige
gegeneinander auszuspielen. Immer wieder werden
MigrantInnen als «Kriminelle» abgestempelt,
um die zunehmende Diskriminierung gegen sie
zu rechtfertigen. Den Mythos des kriminellen
Ausländers hat auch die «Regierungslinke»
völlig verinnerlicht, wie ihre Haltung
zu Initiative und Gegenvorschlag zeigt. In diesem
Zusammenhang werden seit Jahren schon Statistiken
zur «Ausländerkriminalität»
bemüht. Es gilt, das angebliche statistische
Fundament dieser Gleichsetzung zu zerstören.
Was hat es mit diesen Statistiken wirklich auf
sich?
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Behörden,
Medien und Regierungsparteien bauen gemeinsam
das Bild des kriminellen Ausländers
auf. |
Kriminalstatistik
Generell
gilt die Kriminalstatistik als einen der vielen
problematischen Bereiche der Sozialstatistik.
Martin Killias, Ordinarius für Strafrecht,
Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität
Zürich, stellt die Statistiken immer wieder
in Frage: «Die Definition eines Delikts
kann variieren [...], die Dunkelziffer ist nicht
überall gleich hoch [...], die Methoden
zur Zählung von Vergehen sind je nach Land
sehr verschieden. In einigen Ländern (und
Schweizer Kantonen) werden Vorkommnisse zu dem
Zeitpunkt erfasst, wenn die Polizei informiert
wird (Input), beispielsweise wenn eine Klage
eingereicht wird; anderswo wird die Angelegenheit
erst erfasst, wenn die polizeiliche Untersuchung
abgeschlossen und eine verdächtige Person
identifiziert ist (Output). Für gewisse
Delikte liegen die Unterschiede zwischen den
beiden Zählweisen bei 200% oder gar mehr
[...]. Statistisch gesehen passieren die grössten
Abweichungen bei Fällen von wiederholten
Vergehen, die in einigen Ländern [oder
Schweizer Kantonen] als eine einzige Straftat
und in anderen als jeweils separate Vorkommnisse
erfasst werden».1 Für
die Kriminal-statistik spielt auch die Praxis
der Polizei eine grosse Rolle, unterliegt diese
doch der allgemeinen politischen Stimmung und
den Beschlüssen der Vorgesetzten. Hierzu
der Kriminologe Jan van Dijk: «Zahlen
zu Tendenzen spiegeln nicht immer die Entwicklung
der realen Kriminalität sondern eher die
Anstrengungen und die Ausrichtung der Polizei.»
2
Zahlen
sprechen nicht - auf jeden Fall sprechen sie
nur die Sprache derjenigen, die sie verwenden.
In der Beurteilung von Jan van Dijk zeigen die
Zahlen «im Fall der Polizeistatistiken
das Problem der Kriminalität in der Wahrnehmung
der Instanzen, die damit beauftragt sind, dem
Gesetz Nachdruck zu verschaffen, sowie der Politiker,
Staatsanwälte und Richter, die deren Arbeit
überwachen. Polizeistatistiken geben die
offizielle oder staatliche Sicht des Problems
der Kriminalität wieder.»3
|
Die
SVP fährt auch diesen Herbst eine aggressive
Kampagne gegen MigrantInnen, diesmal mit
Plakaten mit der Aufschrift «Ausländer?»
und «Volksbefragung». Hier ein
Gegenplakat dazu. |
Zur
Diskussion der «Kriminalität»
in der Schweiz stellen wir daher nicht auf die
Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)
des Bundesamtes für Polizei (fedpol) ab.
Erstens weil es sich um eine Anzeigestatistik
handelt, die nur bestimmte Delikte berücksichtigt.
Zweitens weil sie so ungenau ist, dass deren
Zahlen «höchstens als ungefähre
Indikatoren» zu sehen sind, wie fedpol
selbst zugibt.4 Auch die jüngste
Ausgabe von 2009, die als neue «umfassende
und breit auswertbare nationale Statistik»5
gepriesen wird, bleibt problematisch.
Vor dem Gesetz sind (nicht mehr) alle
gleich
Eingereicht
wurde die Initiative «Für
die Ausschaffung krimineller Ausländer»
im Februar 2008 mit 211'000 Unterschriften
(nötig gewesen wären nur 100'000).
Nachdem das Parlament die völkerrechtswidrige
Initiative dennoch für gültig
befunden hatte, präsentierte der
Bundesrat, wie so oft, einen Gegenvorschlag,
der in dieselbe Richtung zielt. Das
Parlament nahm diesen Gegenvorschlag
an. Massgeblich waren dabei die Stimmen
einer Mehrheit der Sozialdemokratischen
Partei, die dem Gegenvorschlag zustimmte.
Dabei beruft sich die SP darauf, dass
die «aufgeklärten»
Bürgerlichen Hand geboten hätten
zu einem Integrationsartikel (neu 121a).
Dieser Integrationsartikel wird kaum
konkrete Folgen haben, schreibt jedoch
die problematische Integrationsideologie
(die auf Assimilation zielt) in die
Verfassung.
Somit
werden am 28. November 2010 zwei Vorlagen
zur Abstimmung kommen, die beide ein
Sonderrecht für Migrant_innen einführen
und so den Grundsatz der Rechtsgleichheit
von Menschen verschiedener Herkunft
abschaffen. Blickt man zurück auf
die bisherigen Verschärfungen,
die sich ganz allgemein gegen die Arbeits-,
Lohn- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen
richten, so wird eine einheitliche Vorgehensweise
sichtbar: Zuerst wird eine bestimmte
Menschengruppe ins Visier genommen:
«Ausländer», eine besondere
Kategorie von «Ausländern»
oder ein speziell verletzlicher Teil
der Bevölkerung. Ist für diese
Kategorie die Verschärfung einmal
durchgesetzt, so lässt sich auch
die Lage aller anderen umso leichter
verschlechtern. Die Ausschaffungsinitiative
ist nur der jüngste Schritt auf
dem weiteren Weg zu Willkür und
Diskriminierung. Solidarität leben
und gleiche Rechte für alle fordern
ist die einzige Lösung gegen Ausbeutung
und Rechtlosigkeit. (Red.)
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Sind
Zahlen fremdenfeindlich?
Dass wir hier daher die Zahlen des Bundesamtes
für Statistik BFS verwenden bedeutet nicht,
dass wir diese für richtig halten. Wir
stellen auf Verurteilungen und «Gefängnispopulation
» ab, zwei allgemein anerkannte Kriterien
bei den Befürwortern von Law and Order
zur Messung der Kriminalität (Zahlen von
2008).
Ganz
generell sind in den Industrieländern die
Altersklassen, die bei Weitem am meisten mit
der sogenannten «Kriminalität»
zu tun haben, jene der erwachsenen Männer
zwischen 20 und 44 Jahren. Das BFS bestätigt
dies mit der Angabe, dass 2008 bei einer Gesamtbevölkerung
von 7'700'000 EinwohnerInnen (davon 49% Männer)
die Alterklassen von 20 bis 44 Jahren 35% der
Bevölkerung6 und 71% der Verurteilten
darstellten. 7 Die Zahlen zeigen auch,
dass 2008 AusländerInnen 23% der Gesamtbevölkerung8,
51% der Verurteilten und 70% der Gefängnisinsassen
ausmachten.9
Zum
besseren Verständnis dieser Zahlen müssen
für 2008 folgende Gesichtspunkte berücksichtigt
werden:
1.
Der Anteil der ausländischen Verurteilten
sinkt (von 51% auf 45%), wenn die Verurteilungen
aufgrund des Ausländergesetzes (10'474)
abgezogen werden, die ja fast ausschliesslich
(zu 95%) AusländerInnen treffen und nur
deren Anwesenheit in der Schweiz bestrafen.10
2.
Die Altersklassen von 20 bis 44 Jahren stellen
32% der Schweizer Bevölkerung und 48% der
ausländischen Bevölkerung dar; diese
Altergruppe ist also unter den AusländerInnen
1,5 Mal stärker vertreten.
3.
Männer dieser Alterklassen machen 16% der
Schweizer Bevölkerung und 25% der ausländischen
Bevölkerung aus; anders gesagt ist diese
Altergruppe 1,6 Mal grösser unter Ausländern.
Daraus
folgt: Diese Zahlen bedeuten, dass die Wahrscheinlichkeit,
ein ausländischer Mann von 20 bis 44 Jahren
zu sein, 2,4 Mal höher ist (1,5 x 1,6 =
2,4) als die Wahrscheinlichkeit, ein Schweizer
Mann im Alter von 20 bis 44 Jahren zu sein.
Was
Asylsuchende angeht, so sind sie von der Ausschaffungsinitiative
nicht betroffen. Dennoch werden sie permanent
in diesem Zusammenhang genannt, sowohl von den
Befürwortern wie auch von den Gegnern der
Initiative. Asylsuchende sollen angeblich zehnmal
häufiger «kriminell» sein als
Schweizer. Auch hier stellen sich die gleichen
Probleme im Bereich der Statistik wie für
die gesamte ausländische Bevölkerung,
sogar noch in verschärfter Weise. Die Altersklasse
von 20 bis 44 Jahren stellt wie erwähnt
32% der Schweizer Bevölkerung dar. Unter
den Asylsuchenden gehören aber 67% zu dieser
Alterskategorie (die Gruppe ist also 2,1 Mal
häufiger vertreten unter Asylsuchenden
als unter Schweizern).11 Die Männer
dieser Altersgruppe stellen 16% der Schweizer
Bevölkerung, aber 75% der Asylsuchenden
dar (die Gruppe ist also unter Asylsuchenden
4,7 Mal häufiger vertreten). Die Wahrscheinlichkeit,
einen Mann von 20 bis 44 Jahren unter der Gesamtzahl
der Asylsuchenden zu finden ist somit 9,9 Mal
höher als die Wahrscheinlichkeit, einen
Mann in diesem Alter unter der Schweizer Bevölkerung
anzutreffen.
Wenn
also unter Ausländern und Asylsuchenden
die Männer von 20 bis 44 Jahren 2,4 und
9,9 Mal häufiger sind als die Schweizer
Männer dieses Alters im Verhältnis
zur Schweizer Bevölkerung, ist es nicht
erstaunlich, dass Ausländer und Asylsuchende
eine doppelt und zehnfach so hohe «Kriminalität»
aufweisen als Schweizer. Werden die Anteile
in Relation zueinander gesetzt, so ergibt sich
eine gleich hohe «Kriminalität»
zwischen Personen mit Schweizer Pass und solchen
mit ausländischen Wurzeln.
Die
Diskussion über Statistik ist völlig
verfälscht. Die Zahlen können beliebig
herangezogen werden zur Untermauerung von irgendwelchen
Aussagen. Mit der Vorgehensweise der Behörden,
die von den politischen Parteien akzeptiert
und von den Fremdenhassern nach Kräften
ausgeschöpft wird, könnte man eine
Unzahl von Aussagen scheinbar begründen.
Etwa dass Verurteilungen aufgrund des Betäubungsmittelgesetzes
1,5 Mal häufiger sind unter Asylsuchenden
als unter Schweizern. Oder dass Verurteilungen
wegen strafbarer Handlungen gegen die sexuelle
Integrität unter Schweizern zweimal häufiger
vorkommen als unter Asylsuchenden usw. Aber
eine solche Perspektive führt völlig
in die Irre.
Somit
ergibt sich der Schluss: Selbst wenn man sich
auf offizielle Informationsquellen stützt,
ist mindestens eine Sache glasklar: Die «Kriminalitätsrate»
unter der ausländischen Bevölkerung
ist in relativen Zahlen vergleichbar mit den
entsprechenden Werten für «Schweizer».
Initiative und
Gegenvorschlag
Die Initiative der SVP:
Die Bundesverfassung wird wie folgt
geändert: Art. 121 Abs. 3-6 (neu)
3
Sie (die Ausländerinnen und Ausländer)
verlieren unabhängig von ihrem
ausländerrechtlichen Status ihr
Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche
auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn
sie: a. wegen eines vorsätzlichen
Tötungsdelikts, wegen einer Vergewaltigung
oder eines anderen schweren Sexualdelikts,
wegen eines anderen Gewaltdelikts wie
Raub, wegen Menschenhandels, Drogenhandels
oder eines Einbruchsdelikts rechtskräftig
verurteilt worden sind; oder b. missbräuchlich
Leistungen der Sozialversicherungen
oder der Sozialhilfe bezogen haben.
4
Der Gesetzgeber umschreibt die Tatbestände
nach Absatz 3 näher. Er kann sie
um weitere Tatbestände ergänzen.
5 Ausländerinnen und Ausländer,
die nach den Absätzen 3 und 4 ihr
Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche
auf Aufenthalt in der Schweiz verlieren,
sind von der zuständigen Behörde
aus der Schweiz auszuweisen und mit
einem Einreiseverbot von 5-15 Jahren
zu belegen. Im Wiederholungsfall ist
das Einreiseverbot auf 20 Jahre anzusetzen.
6
Wer das Einreiseverbot missachtet oder
sonstwie illegal in die Schweiz einreist,
macht sich strafbar. Der Gesetzgeber
erlässt die entsprechenden Bestimmungen.
Der
Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament:
Art. 121b (neu) Aus- und Wegweisung
1 Ausländerinnen und Ausländer
können aus der Schweiz ausgewiesen
werden, wenn sie die Sicherheit des
Landes gefährden.
2
Ausländerinnen und Ausländer
verlieren ihr Aufenthaltsrecht und werden
weggewiesen, wenn sie:
a.
einen Mord, eine vorsätzliche Tötung,
eine Vergewaltig-ung, eine schwere Körperverletzung,
einen qualifizierten Raub, eine Geiselnahme,
einen qualifizierten Menschen-handel,
einen schweren Verstoss gegen das Betäubungs-mittelgesetz
oder eine andere mit einer Freiheitsstrafe
von mindestens einem Jahr bedrohte Straftat
begangen haben und dafür rechtskräftig
verurteilt wurden;
b.
für einen Betrug oder eine andere
Straftat im Bereich der Sozialhilfe,
der Sozialversicherungen oder der öffentlich-rechtlichen
Abgaben oder für einen Betrug im
Bereich der Wirtschaft zu einer Freiheitsstrafe
von mindestens 18 Monaten rechtskräftig
verurteilt wurden; oder
c.
für eine andere Straftat zu einer
Freiheitsstrafe von mindestens zwei
Jahren oder zu mehreren Freiheitsstrafen
oder Geldstrafen von insgesamt mindestens
720 Tagen oder Tagessätzen innerhalb
von zehn Jahren rechtskräftig verurteilt
wurden.
3
Beim Entscheid über die Aus- und
Wegweisung sowie den Entzug des Aufenthaltsrechts
sind die Grundrechte und die Grundprinzipien
der Bundesverfassung und des Völkerrechts,
insbesondere der Grundsatz der Verhältnismässigkeit,
zu beachten.
|
*
Dario Lopreno ist Mitglied der Gewerkschaft
vpod in
Genf. Dieser Text basiert auf seinem Vortrag
an der
Konferenz «Das Andere Davos» vom
Januar 2010 in
Basel, in voller Länge abrufbar auf www.labreche.ch/
Suisse/EtrCrimDario04_10.html, mit Berücksichtigung
zahlreicher weiterer Gesichtspunkte (Original
Französisch;
Übersetzung Debatte).
1 Martin Killias, La criminalité en Suisse
dans le
contexte européen actuel, Institut de
criminologie et
de droit pénal, Université de
Lausanne, 16/05/2005.
(Übersetzung Zitat durch Debatte).
2 Jan van Dijk, Approcher la vérité
en matière de
délinquance. La comparaison des données
d'enquêtes
en population générale avec les
statistiques de police
sur la délinquance enregistrée,
Groupe européen de
recherche sur les normativités, Guyancourt,
2009, S.
6 (auf der Website von Crimprev).
3 A.o.o. S. 7.
4 fedpol, Polizeiliche Kriminalstatistik KPS
und Schweizische
Betäubungsmittelstatistik, Bern 2008 (unter
Aussagekraft, S. 9).
5 Medienmitteilung vom 22.3.2010: «Polizeiliche
Kriminalstatistik
KPS - Neuerungen und wichtigste Resultate
2009», vom Eidgenössischen Departement
des Innern
EDI und dem Bundesamt für Statistik BFS.
6 BFS, Statistik der ständigen Wohnbevölkerung
nach
Geschlecht, 2008, Tabelle T 1.2.1.2.3
7 BFS, Verurteilungen von Erwachsenen für
ein
Vergehen oder Verbrechen, nach Geschlecht, Nationalität
und Alter, Schweiz, 2008, Tabelle T 19.3.3.2.2.
8 BFS, Statistik der ständigen Wohnbevölkerung
nach
Staatsangehörigkeit, Geschlecht und Ausländeranteil,
von 1900 bis 2008, 2008, Tabelle Su-d-1.1.1.2
9 BFS, Statistik über Freiheitsentzug (Stand
Datenbank
am 12/11/2009), 2008, Tabelle T
19.03.05.01.01.
10 BFS, Verurteilungen von Erwachsenen nach
Ausländergesetz
(AuG) 1), nach Geschlecht, Nationalität
2) und Alter, Schweiz, 2008, Tabelle T 19.3.3.2.7.
11 BFM, Asylstatistik 2008, Bern, 2009. |