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Der Mythos des kriminellen Ausländers
Dario Lopreno*
aus Debatte Nummer 14 - Herbst 2010
Die «Ausschaffungsiniative» und der Gegenvorschlag dazu kommen am 28. November 2010 zur Abstimmung. Um ihre Politik zu rechtfertigen, konstruieren die Bundesratsparteien gemeinsam die Figur des kriminellen Ausländers. Obwohl die Statistik zeigt, dass die Unterschiede auf Alter und Geschlecht beruhen, nicht auf Nationalität. (Red.)

Die Volksinitiative der Schweizerischen Volkspartei SVP «Für die Ausschaffung krimineller Ausländer» (Ausschaffungsinitiative) kommt am 28. November 2010 zur Abstimmung, zusammen mit dem Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament. Initiative wie Gegen-vorschlag sind Ausdruck der stetigen Verschlechterung der Lage von MigrantInnen in der Schweiz. Die Kriminalisierung von Menschen ausländischer Herkunft ist in diesem Kontext der Krise das Mittel, um Lohnabhängige gegeneinander auszuspielen. Immer wieder werden MigrantInnen als «Kriminelle» abgestempelt, um die zunehmende Diskriminierung gegen sie zu rechtfertigen. Den Mythos des kriminellen Ausländers hat auch die «Regierungslinke» völlig verinnerlicht, wie ihre Haltung zu Initiative und Gegenvorschlag zeigt. In diesem Zusammenhang werden seit Jahren schon Statistiken zur «Ausländerkriminalität» bemüht. Es gilt, das angebliche statistische Fundament dieser Gleichsetzung zu zerstören. Was hat es mit diesen Statistiken wirklich auf sich?

Behörden, Medien und Regierungsparteien bauen gemeinsam das Bild des kriminellen Ausländers auf.

Kriminalstatistik

Generell gilt die Kriminalstatistik als einen der vielen problematischen Bereiche der Sozialstatistik. Martin Killias, Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität Zürich, stellt die Statistiken immer wieder in Frage: «Die Definition eines Delikts kann variieren [...], die Dunkelziffer ist nicht überall gleich hoch [...], die Methoden zur Zählung von Vergehen sind je nach Land sehr verschieden. In einigen Ländern (und Schweizer Kantonen) werden Vorkommnisse zu dem Zeitpunkt erfasst, wenn die Polizei informiert wird (Input), beispielsweise wenn eine Klage eingereicht wird; anderswo wird die Angelegenheit erst erfasst, wenn die polizeiliche Untersuchung abgeschlossen und eine verdächtige Person identifiziert ist (Output). Für gewisse Delikte liegen die Unterschiede zwischen den beiden Zählweisen bei 200% oder gar mehr [...]. Statistisch gesehen passieren die grössten Abweichungen bei Fällen von wiederholten Vergehen, die in einigen Ländern [oder Schweizer Kantonen] als eine einzige Straftat und in anderen als jeweils separate Vorkommnisse erfasst werden».1 Für die Kriminal-statistik spielt auch die Praxis der Polizei eine grosse Rolle, unterliegt diese doch der allgemeinen politischen Stimmung und den Beschlüssen der Vorgesetzten. Hierzu der Kriminologe Jan van Dijk: «Zahlen zu Tendenzen spiegeln nicht immer die Entwicklung der realen Kriminalität sondern eher die Anstrengungen und die Ausrichtung der Polizei.» 2

Zahlen sprechen nicht - auf jeden Fall sprechen sie nur die Sprache derjenigen, die sie verwenden. In der Beurteilung von Jan van Dijk zeigen die Zahlen «im Fall der Polizeistatistiken das Problem der Kriminalität in der Wahrnehmung der Instanzen, die damit beauftragt sind, dem Gesetz Nachdruck zu verschaffen, sowie der Politiker, Staatsanwälte und Richter, die deren Arbeit überwachen. Polizeistatistiken geben die offizielle oder staatliche Sicht des Problems der Kriminalität wieder.»3

Die SVP fährt auch diesen Herbst eine aggressive Kampagne gegen MigrantInnen, diesmal mit Plakaten mit der Aufschrift «Ausländer?» und «Volksbefragung». Hier ein Gegenplakat dazu.

Zur Diskussion der «Kriminalität» in der Schweiz stellen wir daher nicht auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundesamtes für Polizei (fedpol) ab. Erstens weil es sich um eine Anzeigestatistik handelt, die nur bestimmte Delikte berücksichtigt. Zweitens weil sie so ungenau ist, dass deren Zahlen «höchstens als ungefähre Indikatoren» zu sehen sind, wie fedpol selbst zugibt.4 Auch die jüngste Ausgabe von 2009, die als neue «umfassende und breit auswertbare nationale Statistik»5 gepriesen wird, bleibt problematisch.

Vor dem Gesetz sind (nicht mehr) alle gleich
Eingereicht wurde die Initiative «Für die Ausschaffung krimineller Ausländer» im Februar 2008 mit 211'000 Unterschriften (nötig gewesen wären nur 100'000). Nachdem das Parlament die völkerrechtswidrige Initiative dennoch für gültig befunden hatte, präsentierte der Bundesrat, wie so oft, einen Gegenvorschlag, der in dieselbe Richtung zielt. Das Parlament nahm diesen Gegenvorschlag an. Massgeblich waren dabei die Stimmen einer Mehrheit der Sozialdemokratischen Partei, die dem Gegenvorschlag zustimmte. Dabei beruft sich die SP darauf, dass die «aufgeklärten» Bürgerlichen Hand geboten hätten zu einem Integrationsartikel (neu 121a). Dieser Integrationsartikel wird kaum konkrete Folgen haben, schreibt jedoch die problematische Integrationsideologie (die auf Assimilation zielt) in die Verfassung.

Somit werden am 28. November 2010 zwei Vorlagen zur Abstimmung kommen, die beide ein Sonderrecht für Migrant_innen einführen und so den Grundsatz der Rechtsgleichheit von Menschen verschiedener Herkunft abschaffen. Blickt man zurück auf die bisherigen Verschärfungen, die sich ganz allgemein gegen die Arbeits-, Lohn- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen richten, so wird eine einheitliche Vorgehensweise sichtbar: Zuerst wird eine bestimmte Menschengruppe ins Visier genommen: «Ausländer», eine besondere Kategorie von «Ausländern» oder ein speziell verletzlicher Teil der Bevölkerung. Ist für diese Kategorie die Verschärfung einmal durchgesetzt, so lässt sich auch die Lage aller anderen umso leichter verschlechtern. Die Ausschaffungsinitiative ist nur der jüngste Schritt auf dem weiteren Weg zu Willkür und Diskriminierung. Solidarität leben und gleiche Rechte für alle fordern ist die einzige Lösung gegen Ausbeutung und Rechtlosigkeit. (Red.)

Sind Zahlen fremdenfeindlich?

Dass wir hier daher die Zahlen des Bundesamtes für Statistik BFS verwenden bedeutet nicht, dass wir diese für richtig halten. Wir stellen auf Verurteilungen und «Gefängnispopulation » ab, zwei allgemein anerkannte Kriterien bei den Befürwortern von Law and Order zur Messung der Kriminalität (Zahlen von 2008).

Ganz generell sind in den Industrieländern die Altersklassen, die bei Weitem am meisten mit der sogenannten «Kriminalität» zu tun haben, jene der erwachsenen Männer zwischen 20 und 44 Jahren. Das BFS bestätigt dies mit der Angabe, dass 2008 bei einer Gesamtbevölkerung von 7'700'000 EinwohnerInnen (davon 49% Männer) die Alterklassen von 20 bis 44 Jahren 35% der Bevölkerung6 und 71% der Verurteilten darstellten. 7 Die Zahlen zeigen auch, dass 2008 AusländerInnen 23% der Gesamtbevölkerung8, 51% der Verurteilten und 70% der Gefängnisinsassen ausmachten.9

Zum besseren Verständnis dieser Zahlen müssen für 2008 folgende Gesichtspunkte berücksichtigt werden:

1. Der Anteil der ausländischen Verurteilten sinkt (von 51% auf 45%), wenn die Verurteilungen aufgrund des Ausländergesetzes (10'474) abgezogen werden, die ja fast ausschliesslich (zu 95%) AusländerInnen treffen und nur deren Anwesenheit in der Schweiz bestrafen.10

2. Die Altersklassen von 20 bis 44 Jahren stellen 32% der Schweizer Bevölkerung und 48% der ausländischen Bevölkerung dar; diese Altergruppe ist also unter den AusländerInnen 1,5 Mal stärker vertreten.

3. Männer dieser Alterklassen machen 16% der Schweizer Bevölkerung und 25% der ausländischen Bevölkerung aus; anders gesagt ist diese Altergruppe 1,6 Mal grösser unter Ausländern.

Daraus folgt: Diese Zahlen bedeuten, dass die Wahrscheinlichkeit, ein ausländischer Mann von 20 bis 44 Jahren zu sein, 2,4 Mal höher ist (1,5 x 1,6 = 2,4) als die Wahrscheinlichkeit, ein Schweizer Mann im Alter von 20 bis 44 Jahren zu sein.

Was Asylsuchende angeht, so sind sie von der Ausschaffungsinitiative nicht betroffen. Dennoch werden sie permanent in diesem Zusammenhang genannt, sowohl von den Befürwortern wie auch von den Gegnern der Initiative. Asylsuchende sollen angeblich zehnmal häufiger «kriminell» sein als Schweizer. Auch hier stellen sich die gleichen Probleme im Bereich der Statistik wie für die gesamte ausländische Bevölkerung, sogar noch in verschärfter Weise. Die Altersklasse von 20 bis 44 Jahren stellt wie erwähnt 32% der Schweizer Bevölkerung dar. Unter den Asylsuchenden gehören aber 67% zu dieser Alterskategorie (die Gruppe ist also 2,1 Mal häufiger vertreten unter Asylsuchenden als unter Schweizern).11 Die Männer dieser Altersgruppe stellen 16% der Schweizer Bevölkerung, aber 75% der Asylsuchenden dar (die Gruppe ist also unter Asylsuchenden 4,7 Mal häufiger vertreten). Die Wahrscheinlichkeit, einen Mann von 20 bis 44 Jahren unter der Gesamtzahl der Asylsuchenden zu finden ist somit 9,9 Mal höher als die Wahrscheinlichkeit, einen Mann in diesem Alter unter der Schweizer Bevölkerung anzutreffen.

Wenn also unter Ausländern und Asylsuchenden die Männer von 20 bis 44 Jahren 2,4 und 9,9 Mal häufiger sind als die Schweizer Männer dieses Alters im Verhältnis zur Schweizer Bevölkerung, ist es nicht erstaunlich, dass Ausländer und Asylsuchende eine doppelt und zehnfach so hohe «Kriminalität» aufweisen als Schweizer. Werden die Anteile in Relation zueinander gesetzt, so ergibt sich eine gleich hohe «Kriminalität» zwischen Personen mit Schweizer Pass und solchen mit ausländischen Wurzeln.

Die Diskussion über Statistik ist völlig verfälscht. Die Zahlen können beliebig herangezogen werden zur Untermauerung von irgendwelchen Aussagen. Mit der Vorgehensweise der Behörden, die von den politischen Parteien akzeptiert und von den Fremdenhassern nach Kräften ausgeschöpft wird, könnte man eine Unzahl von Aussagen scheinbar begründen. Etwa dass Verurteilungen aufgrund des Betäubungsmittelgesetzes 1,5 Mal häufiger sind unter Asylsuchenden als unter Schweizern. Oder dass Verurteilungen wegen strafbarer Handlungen gegen die sexuelle Integrität unter Schweizern zweimal häufiger vorkommen als unter Asylsuchenden usw. Aber eine solche Perspektive führt völlig in die Irre.

Somit ergibt sich der Schluss: Selbst wenn man sich auf offizielle Informationsquellen stützt, ist mindestens eine Sache glasklar: Die «Kriminalitätsrate» unter der ausländischen Bevölkerung ist in relativen Zahlen vergleichbar mit den entsprechenden Werten für «Schweizer».

Initiative und Gegenvorschlag
Die Initiative der SVP:
Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert: Art. 121 Abs. 3-6 (neu)

3 Sie (die Ausländerinnen und Ausländer) verlieren unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz, wenn sie: a. wegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, wegen einer Vergewaltigung oder eines anderen schweren Sexualdelikts, wegen eines anderen Gewaltdelikts wie Raub, wegen Menschenhandels, Drogenhandels oder eines Einbruchsdelikts rechtskräftig verurteilt worden sind; oder b. missbräuchlich Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe bezogen haben.

4 Der Gesetzgeber umschreibt die Tatbestände nach Absatz 3 näher. Er kann sie um weitere Tatbestände ergänzen.

5 Ausländerinnen und Ausländer, die nach den Absätzen 3 und 4 ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz verlieren, sind von der zuständigen Behörde aus der Schweiz auszuweisen und mit einem Einreiseverbot von 5-15 Jahren zu belegen. Im Wiederholungsfall ist das Einreiseverbot auf 20 Jahre anzusetzen.

6 Wer das Einreiseverbot missachtet oder sonstwie illegal in die Schweiz einreist, macht sich strafbar. Der Gesetzgeber erlässt die entsprechenden Bestimmungen.

Der Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament:
Art. 121b (neu) Aus- und Wegweisung 1 Ausländerinnen und Ausländer können aus der Schweiz ausgewiesen werden, wenn sie die Sicherheit des Landes gefährden.

2 Ausländerinnen und Ausländer verlieren ihr Aufenthaltsrecht und werden weggewiesen, wenn sie:

a. einen Mord, eine vorsätzliche Tötung, eine Vergewaltig-ung, eine schwere Körperverletzung, einen qualifizierten Raub, eine Geiselnahme, einen qualifizierten Menschen-handel, einen schweren Verstoss gegen das Betäubungs-mittelgesetz oder eine andere mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bedrohte Straftat begangen haben und dafür rechtskräftig verurteilt wurden;

b. für einen Betrug oder eine andere Straftat im Bereich der Sozialhilfe, der Sozialversicherungen oder der öffentlich-rechtlichen Abgaben oder für einen Betrug im Bereich der Wirtschaft zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 18 Monaten rechtskräftig verurteilt wurden; oder

c. für eine andere Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu mehreren Freiheitsstrafen oder Geldstrafen von insgesamt mindestens 720 Tagen oder Tagessätzen innerhalb von zehn Jahren rechtskräftig verurteilt wurden.

3 Beim Entscheid über die Aus- und Wegweisung sowie den Entzug des Aufenthaltsrechts sind die Grundrechte und die Grundprinzipien der Bundesverfassung und des Völkerrechts, insbesondere der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, zu beachten.

* Dario Lopreno ist Mitglied der Gewerkschaft vpod in
Genf. Dieser Text basiert auf seinem Vortrag an der
Konferenz «Das Andere Davos» vom Januar 2010 in
Basel, in voller Länge abrufbar auf www.labreche.ch/
Suisse/EtrCrimDario04_10.html, mit Berücksichtigung
zahlreicher weiterer Gesichtspunkte (Original Französisch;
Übersetzung Debatte).

1 Martin Killias, La criminalité en Suisse dans le
contexte européen actuel, Institut de criminologie et
de droit pénal, Université de Lausanne, 16/05/2005.
(Übersetzung Zitat durch Debatte).

2 Jan van Dijk, Approcher la vérité en matière de
délinquance. La comparaison des données d'enquêtes
en population générale avec les statistiques de police
sur la délinquance enregistrée, Groupe européen de
recherche sur les normativités, Guyancourt, 2009, S.
6 (auf der Website von Crimprev).

3 A.o.o. S. 7.

4 fedpol, Polizeiliche Kriminalstatistik KPS und Schweizische
Betäubungsmittelstatistik, Bern 2008 (unter
Aussagekraft, S. 9).

5 Medienmitteilung vom 22.3.2010: «Polizeiliche Kriminalstatistik
KPS - Neuerungen und wichtigste Resultate
2009», vom Eidgenössischen Departement des Innern
EDI und dem Bundesamt für Statistik BFS.

6 BFS, Statistik der ständigen Wohnbevölkerung nach
Geschlecht, 2008, Tabelle T 1.2.1.2.3

7 BFS, Verurteilungen von Erwachsenen für ein
Vergehen oder Verbrechen, nach Geschlecht, Nationalität
und Alter, Schweiz, 2008, Tabelle T 19.3.3.2.2.

8 BFS, Statistik der ständigen Wohnbevölkerung nach
Staatsangehörigkeit, Geschlecht und Ausländeranteil,
von 1900 bis 2008, 2008, Tabelle Su-d-1.1.1.2

9 BFS, Statistik über Freiheitsentzug (Stand Datenbank
am 12/11/2009), 2008, Tabelle T
19.03.05.01.01.

10 BFS, Verurteilungen von Erwachsenen nach Ausländergesetz
(AuG) 1), nach Geschlecht, Nationalität
2) und Alter, Schweiz, 2008, Tabelle T 19.3.3.2.7.
11 BFM, Asylstatistik 2008, Bern, 2009.