«Die
mutigen Karton-Büezer haben gewonnen: Jetzt
wird gefeiert»1 und «Die
Arbeiter der Fabrik in Deisswil haben mit Unia
einen exemplarischen Kampf erlebt»2,
das sind die Titel der letzten Berichte der
Gewerkschaft Unia über den Arbeitskonflikt
im bernischen Deisswil, wo seit über 130
Jahren Karton produziert wurde. Doch seit Ende
des Konflikts ist die Öffentlichkeit nicht
mehr informiert worden über die neusten
Entwicklungen. Man kann den Eindruck bekommen,
das Leben der 253 Beschäftigten ginge -
nach einem erschütternden Unter-bruch von
ca. zwei Monaten - wie vor der Ankündigung
der Betriebsschliessung weiter. Wir haben uns
jedoch selber ein Bild machen wollen von der
aktuellen Situation in Deisswil. «Sie
haben mir gesagt, ich solle möglichst schnell
eine neue Stelle finden und mir tatsächlich
15'000 CHF Abfindung angeboten. Ist das der
versprochene Sozialplan?»3
Von
der verpassten Besetzung...
Die
Fabrik, von einer lokalen Familie gegründet,
wurde 1990 an den österreichischen Multi
Mayr-Melnhof (MM) verkauft, der die weltweite
Papier- und Kartonproduktion beherrscht.4
Zwanzig Jahre lang hat der Konzern in Desswil
Gewinne erzielt, 2007 waren es 14 Mio. CHF.
Doch Investitionen für die Erneuerung der
Fabrik blieben aus. Die schon seit längerem
fällige Umwandlung des Heizkessels von
Schweröl auf Erdgas bei der Wärme-Kraft-Koppelung
für die Reduktion der CO2-Ausstösse
wurde nie umgesetzt. Hinweise auf die wahren
Hintergründe der Übernahme der Karton
Deisswil durch MM gab es also schon seit längerem:
einen Konkur-renten ausschalten und die Produktionsstätte
so lange ausbeuten, bis die erzielten Profite
die Bedürfnisse des Kapitals nicht mehr
befriedigen.
Am
12. April wurde die Schliessung an einer Betriebsversammlung
angekündigt.5 253 Arbeiter - viele
davon über 50 Jährige und z.T. Ungelernte
- sollten von einem Tag auf den anderen ohne
Arbeit da stehen. Zu diesem Zeitpunkt waren
in den Lagerhallen der Fabrik 8000 Tonnen Karton
im Wert von ca. 8. Mio. CHF gelagert. Tatsächlich
arbeiteten noch ca. 20 Beschäftigten der
Spedition weiter, um das Produkt ganz Europa
zu verteilten. Hier lag also eine der eindeutigsten
Möglichkeiten, MM «weh» zu
tun: durch die Blockade des Warenausgangs und
die Besetzung des Betriebs. Diese Möglichkeit
wurde von einigen Beschäftigten stets wiederholt:
«Es liegen noch Millionen in den Lager-hallen
- diese gehören uns, wir müssen dafür
kämpfen!», so ein Arbeiter.
Andere hingegen meinten: «Jetzt warten
wir mal ab und schauen dann, was dabei herauskommt.»
Die
unterschiedlichen Meinungen der Belegschaft
von Deisswil werden an diesen Aussagen verständlich.
Hier müssten die Gewerkschaften 'eingreifen'.
Durch die Schaffung von Strukturen für
regelmässige Versam-mlungen der Beschäftigten
werden einerseits alle Betroffenen auf den neusten
Stand der Verhandlungen gebracht, andererseits
die Möglichkeit geboten, die verschiedenen
Meinungen zu diskutieren und anschlies-send
gemeinsame Kampfstrategien zu entwickeln. Doch
die Haltung und die Strategie der Gewerkschaft
Unia lässt sich durch zwei Zitate von Corrado
Pardini, Verantwortlicher des Sektors Industrie,
auf den Punkt bringen: «Indem die
Maschinen abgestellt wurden, wie es die österreichischen
Besitzer gemacht haben, fehlt uns die Waffe
des Streiks, die einzig wahre Kraft der Gewerkschaft
gegen die Arroganz der Direktion. »6
Und obwohl an der ersten Betriebsversammlung
entschieden wurde, bis zur Konsultationsfrist
keine Sozialplanver-handlungen einzugehen, sondern
sich für den Erhalt der Produktionsstätte
und somit der Arbeitsplätze einzusetzen,
liess erneut Pardini am 29. April in der Presse
verlauten, er halte es für unwahrscheinlich,
dass die Kartonproduktion weitergeführt
werden könne und forderte: «Aber
zumindest braucht es einen guten Sozialplan».7
Wie können solche Aussagen über die
Köpfe der Belegschaft hinweg ohne Konsequenzen
bleiben für den Gewerkschaftsführer,
der vorgibt, im Namen der Lohnabhängigen
zu sprechen?
...zur exemplarischen Niederlage
Nach
acht Wochen Verhandlungen zwischen der Gewerkschaft
Unia, der Betriebskommission und dem MM Konzern
hinter geschlossenen Türen8 kündete
der MMKonzern am 31. Mai eine überraschende
Wende an: Die Verhandlungen mit den Arbeitnehmervertretern
wurden abgebrochen und die Karton Deisswil AG
an Schweizer Investoren verkauft - jedoch unter
der Bedingung, dass in Deisswil kein Karton
mehr produziert werden würde! Hinter dem
Kauf stand der CS-Banker und Immobilienhai Hans-Ulrich
Müller (Mehrheitsaktionär). Er versprach,
den Firmen-GAV bis zum 2014 zu verlängern
und, sehe er sich gezwungen, die Mitarbeiter
in den folgenden zwei Jahren entlassen zu müssen,
einen «anständigen Sozialplan»9
einzusetzen. Der MM-Konzern wurde als österreichischer
Geldadel an den Pranger gestellt, der seriöse
Berner Investor dagegen als «Retter
von Deisswil» 10 gepriesen.
Doch: «Zuerst wurden wir von MM verarscht
und dann von Müller. Und die Unia hat das
alles mitgemacht.» Das ist der Grundtenor
der Deisswiler. Und die heutige Situation sieht
alles andere als rosig aus.
Ungefähr
100 Arbeiter haben das Unternehmen verlassen
und eine andere Stelle gefunden. Etwa 30 Personen
arbeiten noch regelmässig, das sind so
genannte Tagarbeiter (Elektriker, Gärtner
etc.), die auch schon vorher nicht direkt in
der Produktion tätig waren. Die grosse
Mehrheit der Arbeiter hingegen (über hundert,
vor allem Schichtarbeiter) ist auf Kurzarbeit
- für sie gibt es in der Kartonfabrik keine
Arbeit mehr. Sie erhalten vorläufig noch
70 bzw. 80% ihres Lohnes von der Arbeitslosenversicherung
bezahlt, aber keine Schicht-zulagen, was oft
eine Lohneinbusse von 30% ausmacht. «Ein
RAV Berater hat mir gesagt, ich solle nicht
mehr auf der faulen Haut liegen und mir eine
neue Stelle suchen. Doch ich bin offiziell noch
in Deisswil angestellt!» Andere werden
als Tagelöhner an andere Unternehmen verliehen.
So betreibt der neue Industrie- und Dienstleistungspark
Verleih-Arbeit und spart Lohnkosten ein.
Auch
die angekündigten Einzelgespräche
zwischen Müller und den Beschäftigten
laufen auf Hochtouren. Doch anstatt ihnen die
Zukunft von Deisswil zu präsentieren, übt
der Mehrheitsaktionär Druck auf die Leute
aus, um sie möglichst schnell abzuwickeln.
Und wie der versprochene 'anständige Sozialplan'
aussieht, weiss niemand: «Den Vertrag,
der zwischen der Unia und Müller unterzeichnet
wurde, haben wir noch nicht gesehen. Er wurde
uns auch nicht bei einer Versammlung vorgestellt,
damit wir darüber entscheiden können,
ob wir ihn überhaupt wollen oder nicht.»
Die
Fabrik steht heute also (fast) leer und die
Vermutung, Müller werde schon bald sein
Lebenswerk als Immobilienspekulant durch die
vollständige Abwicklung der Belegschaft
und den Weiterverkauf der Fabrik und des Bodens
vollbringen, scheint sich zu bestätigen.
Aus
Fehlern lernen?
Was
in der Öffentlichkeit als exemplarischer
Kampf präsentiert wurde, entpuppt
sich als exemplarische Niederlage. Heute zählt
die Wartefrist für die Lieferung von Karton
90 Tage. Hier enthüllen sich die Widersprüche
des kapitalistischen Systems: Eine ganze Produktionsstätte
wird geschlossen und die Belegschaft, spezialisiert
auf Kartonproduktion, entlassen, obwohl die
gesellschaftliche Nachfrage nach Karton existiert.
Das Beispiel von Deisswil hat jedoch auch enthüllt,
dass die Mehrheit der Gewerkschaften genau dieses
System mitverwalten, indem sie - blauäugig
gegenüber einem (Berner) Kapitalisten,
der zusätzlich noch als Retter
deklariert wird - den Kompromiss eingehen, die
Fabrik zu verkaufen, unter der Bedingung, keinen
Karton mehr zu produzieren. Gleichzeitig wurde
die Unfähigkeit der Gewerkschaftsdirektion
an den Tag gelegt, während einem Konflikt
die Belegschaft mit demokratischen Strukturen
zu unterstützen, um gemeinsame Kampf-strategien
zu entwickeln und umzusetzen.
Mit
140 organisierten Arbeitern war Karton Deisswil
eine gewerkschaftliche Bastion. Doch die enttäuschenden
Erfahrungen, welche die Belegschaft gemacht
hat, werden wohl nicht mehr viel davon übrig
lassen. So haben auch schon einige angekündigt:
«Ich werde Ende Jahr aus der Unia
austreten, zu gross ist die Enttäuschung.»
Werden die Gewerkschaften aus solchen Fehlern
etwas für die Zukunft lernen können?
1
Work, n°11, 18. Juni 2010, S.3 (deutschsprachige
Zeitung der Gewerkschaft Unia)
2 Area sindacale, n°9, 11. Juni 2010, S.
2
(italienischsprachige Zeitung der Gewerkschaft
Unia)
3 Die Zitate, welche nicht mit Fussnoten versehen
sind, wurden aus direkten Gesprächen mit
der Belegschaft
entnommen.
4 Siehe www.mayr-melnhof.com
5 Die erste Ankündigung der Schliessung
erfolgte
schon am 8. April über die lokalen Medien.
Die
Betroffenen haben also über diesen Kanal
- und während
den Betriebsferien - von ihrer Entlassung erfahren.
Das ist nur ein Beispiel, welches die Arroganz
des multinationalen Konzerns aufzeigt.
6 Area sindacale, n°7, 7. Mai 2010, S. 8
7 http://www.20min.ch/news/bern/story/24297951
8 Hinter geschlossenen Türen stand nicht
nur die
Öffentlichkeit, sondern grösstenteils
auch die Belegschaft
von Deisswil. Denn während den acht Wochen
Verhandlungen mit dem MM Konzern gab es
insgesamt ca. vier Betriebsversammlungen, an
denen
die Arbeiter auf den neusten Stand gebracht
wurden.
Entscheidungen und strategische Positionen wurden
schon gar nie demokratisch entschieden, so z.B.
auch
nicht bei den Verhandlungen um den neuen Vertrag
mit Müller.
9 Unia-Medienmitteilung vom 04.06.2010. Alle
wichtigen Dokumente der Auseinandersetzung können
auf der Internetseite der Unia heruntergeladen
werden. Die Vereinbarung zwischen der Unia und
den neuen Besitzern allerdings sucht man vergeblich.
10 Work n°11, 18. Juni 2010, S. 4. An dieser
Stelle
müssten noch weitere Reflektionen erfolgen
zur Unterscheidung
von 'ausländischem' und 'inländischem'
Kapital und 'Finanzspekulant' und 'Realökonom'.
Aus Platzgründen ist dies jedoch nicht
möglich. |